Desinformationskampagne über die Ukraine in deutschen
Medien
Legitimationskrise in: German foreign policy vom
5.5.2014
ODESSA/BERLIN (Eigener Bericht) -
Die beispiellose Desinformationskampagne führender deutscher Medien hat
anlässlich der in Odessa verübten Morde an über 40 Menschen einen neuen
Höhepunkt erreicht. In der ukrainischen Millionenmetropole sei das
Gewerkschaftshaus "in Brand geraten" - "eine Katastrophe",
deren Urheber noch nicht bekannt wären, hieß es unmittelbar nach der
Brandschatzung am 2. Mai übereinstimmend. Während auf Fotos internationaler
Presseagenturen Anhänger der Kiewer Putschisten zu sehen waren, die den im
Gewerkschaftshaus Eingeschlossenen Brandsätze hinterherwerfen, übernahmen maßgebliche
deutsche Medien mehrfach Lügenberichte ukrainischer Geheimdienstorganisationen,
wonach für die Verbrechen "Moskau" verantwortlich sei. Die Ermordeten
gehörten einer Demonstrantengruppe an, die regionale Autonomie verlangte. Sie
floh vor den Angreifern, wurde ins Gewerkschaftshaus verfolgt, eingeschlossen
und einem grausamen Tod durch Ersticken ausgeliefert.
Obwohl die Zusammenhänge längst
rekonstruierbar sind, bedienten sich die Abendnachrichten der
"Tagesschau" noch 24 Stunden nach dem Verbrechen einer absichtsvoll
unbestimmten Sprachversion. Wie es am 3. Mai um 20.15 Uhr im ersten deutschen
TV-Programm über die Ereignisse in Odessa hieß, "geriet ein Gebäude der
Gewerkschaft in Brand".[1] Diese Formulierung ließ auch an einen technischen
Defekt denken und vermied die Verknüpfung des Ereignisses mit dem ausreichend
vorliegenden Nachrichtenmaterial internationaler Agenturen. Eingeräumt wurde
lediglich, dass eventuell "Unbekannte" ein Feuer gelegt hätten; über
die näheren Umstände wisse man nichts.
Unklar
Die staatsnahe TV-Anstalt zog
sich nach 48 Stunden auf die Sprachregelung zurück, "beide
Konfliktparteien" beschuldigten sich nun gegenseitig, so dass die
Informationslage unklar bliebe. Zu einer eigenen Recherche schien der
ARD-Sender außerstande zu sein, nachdem er die russophoben Gewalttaten auf dem
Kiewer Maidan im Februar mit aufwendigen Live-Schaltungen seiner
Korrespondenten und in teils schrillen Tönen hatte begleiten lassen.
Deutungshoheit
Wieder zur Stelle war die ARD in
Odessa, als der an dem Umsturzregime beteiligte Wladimir Klitschko in einem
TV-Interview sein Bedauern über die Ereignisse äußern durfte und den Einwohnern
der Stadt mehr Frieden wünschte. Damit wurde einer Symbolfigur der deutschen
Einmischung in die inneren Verhältnisse der Ukraine [2] die Deutungshoheit über
das Verbrechen eingeräumt: es verfiel pastoralen Bekenntnissen der Trauer. Über
die eigentlichen Anstifter, die in Klitschkos Kiewer Polit-Umfeld vermutet
werden, erfuhren die Zuschauer erneut nichts.
Selber schuld
Am gestrigen Sonntag und damit 72
Stunden nach den Morden von Odessa verfiel die ARD schließlich auf die Idee,
Arsenij Jazenjuk, einem der aggressivsten Vertreter der Kiewer Putschisten, das
Wort für die Schutzbehauptung zu erteilen, wonach die Polizei von Odessa
versagt habe, die Urheber aber in Russland säßen (Moskauer "Plan zur
Zerstörung der Ukraine"). Die ARD zitierte die antirussischen Hasstiraden
auf ihrer Internetseite in wörtlicher Ausführlichkeit [3] und zusätzlich in
einem Bildbericht zur Prime Time um 20.00 Uhr, ohne auch nur eine einzige
zweite Quelle zu nennen, die der Propaganda Tatsachen hinzufügte oder
entgegensetzte. Weiter ist von "blutigen Zusammenstößen" die Rede,
denen bei der ARD die handelnden Subjekte fehlen oder deren Urheber ausschließlich
unter den Aufständischen gesucht werden. So hieß es in der gestrigen
"Tagesschau" um 20.00 Uhr, die Morde von Odessa seien nur eine
Reaktion auf Angriffe der Ermordeten gewesen.
"Diplomaten"
Die Nachrichtengebung über die
Verbrechen von Odessa ist Teil einer seit Monaten anhaltenden systematischen
Einebnung journalistischer Standards, die inzwischen den politischen Vorgaben
der Berliner Außenpolitik fast vollständig angepasst sind.[4] So erging sich
die ARD tagelang in einem Verwirrspiel über die Militäroperation der
Bundeswehr, die auf Anfrage des Putschregimes in Kiew sogenannte Beobachter
Richtung Ostukraine geschickt hatte, ohne dass den Zuschauern Ross und Reiter
genannt wurden. Mal hießen die deutschen Militärs in der ARD "Teilnehmer
einer OSZE-Mission", mal wurde ihr Status auf den von
"Diplomaten" reduziert.[5]
Verkleidet
Dass sie einer geheimen
Verabredung mit dem nicht legitimierten Umsturzregime nachgingen, das einen
"Anti-Terror"-Krieg in der Ostukraine vorbereitete und dafür
Informationen über die Dislozierung der Aufständischen benötigte, wurde keiner
ernsthaften Frage für wert befunden oder in den Bereich nächtlicher Talkrunden
verwiesen ("Verschwörungstheorie"). Dafür brachte das 1. TV-Programm
am 2. Mai um 20.15 Uhr eine Sondersendung mit einem mutmaßlich unparteiischen
Spezialisten für die OSZE-These. Auf einer Bauchbinde als Mitarbeiter der
"Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP) ausgewiesen, durfte der
Spezialist in einem minutenlangen Monolog die Version von dem angeblichen
OSZE-Auftrag bestätigen. Spionagehintergrund? Diese Frage wurde erst gar nicht
gestellt. Dass der Interviewpartner Wolfgang Richter, heute Oberst im
Generalstab der Bundeswehr, selbst Abteilungsleiter der seltsamen
Militärbeobachter mit Sitz in Geilenkirchen war, dem Bundeswehr- und früheren
NATO-Atomwaffenstandort, erfuhren die Zuschauer nicht. Die ARD hatte einem
verkleideten Militär ihre Kanäle geöffnet.
Gerüchte
Die Wissenschafts-Maskerade der
Bundeswehr in einer Sondersendung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens hat das
Niveau der Nachrichtengebung aus Kalter-Kriegs-Zeiten erreicht. In den Jahren
1962 bis 1975 befeuerten die ARD (unter anderem mit ihrem Korrespondenten
Winfried Scharlau) ebenso wie das ZDF (unter anderem mit dem Korrespondenten
Peter Scholl-Latour) die deutsche Wehrbereitschaft gegen Hanoi, Moskau und
Peking. Die prinzipielle Verunglimpfung des Gegners und eine angebliche
Verteidigung der westlichen "Wertegemeinschaft" gehörten zum
Standardrepertoire führender Medien. Die in Vietnam, Laos und Kambodscha
begangenen Kriegs- und Massenverbrechen der USA und ihrer Verbündeten kamen in
den entsprechenden Beiträgen entweder gar nicht vor oder wurden als
kommunistisch inspirierte Gerüchte abgetan.
Drei Phasen
Ähnliches Format bewiesen die
führenden deutschen Medien im Jugoslawien-Krieg und bei der Aggression gegen
den Irak. Dabei lassen sich drei Phasen unterschieden. In der ersten Phase, die
der Vorbereitung und Durchführung der Angriffsoperationen dient, wird die
Nachrichtengebung von zuverlässigen Korrespondenten betreut, die an die
entsprechenden Militär- oder Politstäbe angebunden sind. Hierbei kommt den
Berichterstattern und "Sonderberichterstattern" aus Brüssel (NATO),
Washington und Moskau Richtungskompetenz zu. Studioleiter und ARD-Fernsehchef
in Brüssel ist gegenwärtig der langgediente WDR-Journalist Rolf-Dieter Krause
(WDR-Spitzname: "NATO-Krause"). Moskau-Korrespondentin und
Ukraine-Kommentatorin in dieser ersten Phase, in der für Zweifler kein Platz
ist, war Ina Ruck (WDR). Die Nachrichtengebung wird hermetisch und ist
hysterisiert.
Tippgeber
Ist das Operationsziel in
erreichbarer Nähe (oder scheinen noch bestehende Hindernisse überwindbar),
lockert sich der Informationshorizont (zweite Phase). Dieses Stadium trat bei
den Auseinandersetzungen in der Ukraine mit dem erfolgreichen Umsturz in Kiew
Ende Februar ein. Besonders tatkräftige Beiträger werden nun abgezogen und
durch liberalere Kollegen ersetzt. Die Hysterisierung des Publikums, das auf
den Gegner eingeschworen werden sollte, weicht einer Beruhigung und bezieht
auch Kritiker ein. Sie sind als Tippgeber für Mängel, Fehler und mögliche
Verbesserungen der noch anhaltenden Operation (insbesondere in Talkrunden)
willkommen.
Aufarbeitung
In der dritten Phase (Ende der
Operation oder Aufschub wegen unvorhersehbarer Schwierigkeiten) beginnt die
mediale Aufarbeitung mit teilweise aufrüttelnden Reportagen investigativer Art.
Es geht in dieser Phase um eine möglichst umfassende Integration der
Zivilgesellschaft, deren pazifistischen Zweifeln oder politischen Vorwürfen
Raum gegeben werden kann (und muss), bevor eine neue Operation beginnt.
Ausdruck dieser medialen Inklusion war nach dem Kosovo-Krieg die
WDR-Dokumentation "Es begann mit einer Lüge" [6], nach den
Maidan-Massakern der WDR-"Monitor"-Beitrag über die mutmaßlichen
Täter aus den Kiewer Umsturzkreisen ("Wer waren die Todesschützen auf dem
Maidan?" [7]). Es fällt auf, dass die verantwortlichen ARD-Anstalten in
sämtlichen Phasen identisch sein können (aktuell: WDR), also nicht inneren politischen
Befindlichkeiten folgen, sondern einem übergeordneten Selbstverständnis ihres
leitenden Personals und dessen Einbindung in Strukturen der jeweiligen
staatstragenden Parteien.
Steigende Kriegsgefahr
Gegen die Desinformationskampagne
führender deutscher Medien regt sich erheblicher Widerspruch, der zur
zeitweisen Abschaltung der Kommentarfunktionen auf den Internet-Seiten der
öffentlich-rechtlichen TV-Anstalten führt - "wegen Überlastung".[8]
Tatsächlich gelingt es der staatsnahen Presse nicht, die Mehrheit ihres
Publikums von einer unausweichlichen militärischen Neuausrichtung zu
überzeugen, wie sie der NATO-Generalsekretär (wiederum in der ARD vom gestrigen
4. Mai) unverblümt fordert (Erhöhung der Rüstungsbudgets) Die Zweifel einer
Bevölkerungsmehrheit gelten der weiteren Einkreisung Russlands, der damit
steigenden Kriegsgefahr und strafen das EU-Leitmotiv ("Frieden in
Europa") Lügen. Die andauernde Intensität der verfehlten Nachrichtengebung
ist Ausdruck einer politischen Legitimationskrise.
Weitere Berichte und Hintergrundinformationen zur
aktuellen deutschen Ukraine-Politik finden Sie hier: Ein breites
antirussisches Bündnis, Termin beim Botschafter, Expansiver Ehrgeiz, Unser Mann in Kiew, Die militärische Seite der Integration, Die Expansion europäischer Interessen, Nützliche Faschisten, Oligarchen-Schach, Der Mann der Deutschen, Koste es, was es wolle, Vom Stigma befreit, Testfeld Ukraine, Der Krim-Konflikt, Kiewer Zwischenbilanz, Die Kiewer Eskalationsstrategie, Die Restauration der Oligarchen, Die freie Welt, Ein fataler Tabubruch, Die Europäisierung der Ukraine, Alte Verhaltensmuster, Regierungsamtliche Vokative, Ein ungewöhnlicher Einsatz, Juschtschenkos Mythen und Alte, neue Verbündete.
[1] Wortprotokoll der Sendung.
[2] S. dazu Unser Mann in Kiew und Der Mann der Deutschen.
[3] Pro-russische Kräfte attackieren Polizeizentrale. www.tagesschau.de 04.05.2014.
[4] S. dazu Die freie Welt.
[5] S. dazu Ein ungewöhnlicher Einsatz.
[6] Sendung am 08.04.2001.
[7] Sendung am 11.04.2014.
[8] So am 03.05.2014 auf der Internet-Seite der
ARD-"Tagesschau"/"Tagesthemen".
Quelle: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58857