«Rechtzeitig die bereits brennende Lunte aus dem
Benzinfass nehmen»
Der Westen, Russland, China und die Ukraine
von Willy Wimmer, Staatssekretär des
Bundesministers der Verteidigung a.D., Mitglied des Deutschen Bundestages
1976–2009
Die Nachrichten wegen der Ukraine überschlagen sich
und der schöne Schein von Sotschi mit den glänzend gestimmten Sportlern ist
schneller zerstoben, als das allen lieb sein konnte.
Dennoch sollten wir in der Flut der Nachrichten über Ereignisse gut 700 Kilometer
von Berlin entfernt die Meldung über ein fürchterliches Massaker in der
chinesischen Stadt Kunming nicht übersehen oder falsch einordnen. Kunming als
Hauptstadt der chinesischen Provinz Yünnan beeindruckt eigentlich durch seinen
Charme, der an lebenslustige Gebiete am Mittelmeer erinnert. Am letzten
Wochenende kam der Tod nach Kunming, als fast 30 Menschen ermordet und
mehr als 100 Menschen schwer verletzt wurden. Weit weg?
Erinnern wir uns an den Vorabend des völkerrechtswidrigen Krieges gegen die
Bundesrepublik Jugoslawien, dessen Beginn sich in diesen Tagen zum
15. Male jährt. Über Monate hatte es im chinesischen Westen Anschlag über
Anschlag gegeben. Tote und Verletzte waren die Folge. Prominente Schauspieler
aus Hollywood eröffneten eine Kampagne wegen Tibet. Es war so dramatisch, dass
eine kriegerische Auseinandersetzung wegen Tibet erwartet wurde. Nicht nur im
Spiegel konnte jeder lesen, dass wohl amerikanische Dienste hinter den
Ereignissen im Westen Chinas stünden.
Das, was losbrach, waren die Bombenangriffe auf Belgrad, mitten im europäischen
Kerngebiet, und das Vehikel war die albanische Terrororganisation UÇK, auf
die die Vereinigten Staaten und später die gesamte Nato gesetzt hatte, um ihre
Ziele in der Bundesrepublik Jugoslawien durchzusetzen.
Zeichen an der Wand sind häufiger zu sehen, als uns lieb sein kann. Das
bedeutet für uns, dass wegen der gleichzeitig stattfindenden Umbrüche in der
Ukraine das Gesamtbild nicht aus den Augen gelassen werden darf.
Es ist etwas ganz Grosses im Gange, das uns alle zerreissen kann. Wer heute
Russland aus den G 8 schmeissen will, der hat keine Hemmungen, morgen China mit
dem Rauswurf aus der Welthandelsorganisation zu drohen und die Drohung auch
wahrzumachen. Es ist Endspiel-Zeit, und es ist geradezu spektakulär, wie der
amerikanische Aussenminister John Kerry sich als Schutzengel des Völkerrechtes
aufspielt.
Dennoch ist das amerikanische Verhalten seit dem völkerrechtswidrigen Krieg
gegen Belgrad und die folgenden, ebenfalls klassischen Aggressionskriege gegen
den Irak u. a., keine Ausrede für andere, in amerikanische Muster der letzten
Jahrzehnte zu verfallen. Aber tun sie das? Man ist heute schnell bei der Hand,
den russischen Präsidenten Putin mit Adolf Hitler zu vergleichen, wie es in
diesen Tagen ein ehemaliger tschechischer Aussenminister getan hat. Fürst
Schwarzenberg hat gut reden, waren es doch die Russen, die gnadenlos unter
Adolf Hitler ihr Blut vergiessen mussten. Peinlicher geht es nicht mehr.
Aber die Ukraine wird uns um die Ohren fliegen, auch wenn es seit Joschka
Fischer einen Nato-Modus zu geben scheint, wenn Ziele angeleuchtet werden.
Janukowitsch ist weg, und wer will ihm eine Träne nachweinen? Bei den
Protzvillen? Als wenn das bis zum Ringen um das Assoziierungsabkommen irgend
jemanden in Brüssel, Berlin, London oder Washington gestört hätte. In der
Staatskasse noch knapp 300 000 Euro?
Wo waren die peniblen Brüsseler Schlaumeier bei der Überprüfung der Kiewer
Daten vor dem angepeilten Abkommen zwecks grösserer Nähe der Ukraine zur
Europäischen Union?
Von ganz neuer Qualität dürfte jedoch sein, dass nicht nur die US-amerikanische
Staatssekretärin Nuland den Überlegungen zur Manipulation der neuen Regierung
in der Ukraine freien Lauf gelassen hat.
Hier wurde zum ersten Mal in der neueren Geschichte
eine Regierung, die nach Bekundungen aller – von der OSZE bis zum Europa-Rat –
durch faire und freie Wahlen zustande gekommen war, aus dem Amt geputscht, und
alle Abkommen zur Krisenbeilegung wurden beiseite gefegt.
Das geschah wohlgemerkt auch und gerade durch Kräfte, die einen
gesamteuropäischen Aufschrei der Abscheu hätten hervorrufen müssen. Noch in der
Nacht der Machtergreifung wurde gegen die russischsprachigen Bewohner der
Ukraine mobil gemacht. Man hatte nichts Eiligeres zu tun, als ihnen die
Zerstörung ihrer Bürgerrechte in Aussicht zu stellen.
Es war eben auch der politische Mob, der
anschliessend drohte, durch die gesamte Ukraine zu fegen.
Wegen des unmittelbar drohenden Finanzkollapses der Ukraine droht sich dort
ein Furor breitzumachen, der zwar heute nach dem Westen ruft, aber dem Heulen
und Zähneknirschen drohen, wenn ihn die westeuropäische und amerikanische
Realität erreicht.
Washington scheint zu den letzten Mitteln vor einer Kriegserklärung an die
Russische Föderation greifen zu wollen, wenn man die Herren Obama und Kerry
hört.
Wäre es wegen der Dimension des von der Ukraine
ausgehenden Urknalls für ganz Europa nicht sinnvoller gewesen, die Fäden
zusammenzuhalten? Schliesslich war es Moskau, das der maroden Ukraine noch
mehr Geld nachwerfen wollte, als der in diesen Dingen äusserst penible Westen.
Und Putin? Hätte er zuwarten sollen, bis die Kiewer Machtübernahme die
russische Grenze erreicht hätte? Die Träger des neuen Geistes waren alle auf
dem Weg. Was in Teufels Namen hat nach der Kiewer Machtübernahme die neuen
Machthaber dazu veranlasst, nun jeden wichtigen Amtsträger im ganzen Land aus
dem Amt zu jagen und durch eigene Günstlinge zu ersetzen? Der russische
Präsident Putin hat durch die Form seiner Reaktion diesem Tun ein Halt-Signal
gesetzt, für das man ihm vielleicht noch einmal sehr dankbar sein wird. Die
Souveränität und territoriale Integrität auch der Ukraine stehen außer Frage.
Rechtzeitig die bereits brennende Lunte aus dem Benzinfass zu nehmen, wie es
Putin gemacht hat, sollte dann als Chance begriffen werden, wenn das russische
Handeln nicht als Gefährdung der eigenen westlichen Absichten gesehen
wird. •
Westeuropäische Medien wie
gleichgeschaltet unter US-Oberbefehl?
Offener Brief an die Staats- und Regierungschefs
der EU zur Sitzung vom 6. März 2014
Sehr verehrte Damen,
sehr geehrte Herren,
nach den Standards, die in der Europäischen Union bei schwierigen Entwicklungen
üblich sind, müssten die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Treffen in
Brüssel wegen der Lage in der Ukraine festlegen, dass
1. zu den neuen Machthabern in Kiew auf der Regierungsebene
keine Kontakte stattfinden, solange es ernsthafte und begründete Zweifel an der
Rechtmässigkeit der neuen Organe in Kiew gibt,
2. so lange davon ausgegangen werden muss, dass in hohen und
höchsten Ämtern der neuen Organe in Kiew sich Personen befinden, deren
politische Haltung in ganz Europa Abscheu wegen ihres Gedankengutes hervorruft,
sollte ein Boykott der EU […] über die Organe in Kiew so lange verhängt
werden, bis diese Personen nicht mehr den im Amt befindlichen Organen in Kiew
angehören. Für die Bundesregierung in Berlin ist es nicht akzeptabel, dass vor
dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein Verbot der NPD durchgesetzt
werden soll, während man gleichzeitig in Kiew mit denen unter einer Decke
steckt, die engste Kontakte zur NPD pflegen.
Es ist in hohem Masse bedauerlich, dass in Westeuropa die Medien auf die
krisenhafte Entwicklung so reagieren, als wären sie gleichgeschaltet und
unterstünden amerikanischem Oberbefehl. […]
In der letzten Woche drohten die Flammen des Maidan in Kiew auf die ganze
Ukraine überzugreifen. Eine im Bürgerkrieg versinkende Ukraine hätte ganz
Europa mit in den Untergang gerissen. Diese Gefahr ist immer noch nicht vom
Tisch, weil die wirtschaftlichen Gefahren erst noch auf alle zukommen. Das
besonnene und deutliche Auftreten der russischen Regierung unter Präsident
Putin hat Europa und der Welt eine Chance gegeben, Souveränität und
territoriale Integrität der Ukraine zu erhalten und uns vor dem Furor eines
Bürgerkrieges in der Ukraine zu bewahren.
Die Russische Föderation hat in den Jahren, die mit dem ordinären
Angriffskrieg der Nato gegen die Bundesrepublik Jugoslawien vor fast genau
15 Jahren und zu einem friedensbedrohenden und völkerrechtswidrigen
Verhalten der USA auch in anderen Teilen der Welt führten, sich zum Völkerrecht
und seinen tragenden Grundsätzen bekannt. Ohne dieses Völkerrecht und vor allem
die Charta der Vereinten Nationen wird das Schicksal Europas mehr denn je
ungewiss sein. […]
Willy Wimmer, Staatssekretär des Bundesministers
der Verteidigung a.D., Mitglied des Deutschen Bundestages 1976–2009