OFFENER BRIEF AN DIE ABGEORDNETEN
DES DEUTSCHEN BUNDESTAGES
1.September 2014

ICH WARTE NOCH IMMER AUF DIE SCHWEIGEMINUTE IM BUNDESTAG. WIRD SIE EINES TAGES KOMMEN ?
Ich meine die Schweigeminute für die zivilen Opfer in der Ostukraine. Bis heute fiel kein Wort des Bedauerns seitens eines deutschen Politikers. Kein Mitgefühl, nichts. Genausowenig ist eine journalistische Widmung dieser menschlichen Tragödie zu finden. Das rein militärische Denken und Fühlen der NATO hat sich in fast allen Köpfen breit gemacht. Entweder die Ukraine ist “unser” oder “wir” verlieren sie. Gibt es jenseits dieses Schemas noch etwas anderes? Ich möchte auch die gefallenen Soldaten auf beiden Seiten in das Gedenken der Opfer mitein-beziehen. Sie töteten und starben in einem sinnlosen Krieg

MENSCHENRECHTE IN
DER OST-UKRAINE
Die Zahl der zivilen Opfer ist inmzwischen höher als die Zahl der zivilen Opfer in Gaza. Da spricht die Welt – zurecht - von Genozid und Kriegsverbrechen. Ohne irgendeinen Zweifel gilt für die Ostukraine gleiches. Der Artilleriebeschuß der  Menschen auf Straßen, Plätzen, in öffentlichen Parks, oder der Raketenbeschuß von Wohnhäusern … genauso wie in Gaza! Kriegsrecht ? Genfer Konvention? Wann fordern Sie deren Einhaltung durch die ukrainische Armee?

VOLKSABSTIMMUNG IN SCHOTTLAND
In zwei Wochen wird in Schottland eine Volksabstimmung durchgeführt. Die Schotten entscheiden über ihre völlige Unabhängigkeit von England. Das Fernsehen sagt: es werde einen seriöser Wahlgang geben. Man sieht, hier wird im Rahmen zivilisierter Normen gehandelt. Selbst David Cameron reist nach Schottland und führt dort friedlich die Kampagne gegen die Unabhängigkeit an. Obama erklärte die Volksabstimmung in der Ukraine für illegal und gegen das internationale Recht. Zu Schottland schweigt er. Was ist das doch für ein unterschiedliches Bild im Vergleich zur Ukraine! Denn Schottland liegt nicht an der russischen Grenze.

BRITISCHE TRUPPEN GEGEN SCHOTTISCHE BÚRGER ?
Oder wird sich die Lage schnell ändern, wenn die Mehrheit tatsächlich für die Unabhängigkeit stimmt? Werden dann britische Panzer nach Schottland fahren? Werden britische Kampfflugzeuge Raketen in schottische Wohnzimmer schießen? Werden sie Phosforbomben über schottischen Städten abladen? Können sie sich das vorstellen? Natürlich nicht. Es wird alles ganz zivilisiert und friedlich verlaufen. Die Schotten sagen: die Tschechoslowakei hat sich auch ganz friedlich aufgeteilt, das ist unser Vorbild. Und Cameron droht nicht mit militärischen Aktionen.

ENTGEGENGESETZTE POLITISCHE KRITERIEN
Das macht er andernorts: in der Ost-Ukraine. Britische Politiker und Medien (zusammen mit denen der USA) zählen zu den agressivsten Befürwortern der militärischen Eskalation. Dort taten die  Menschen genau das gleiche wie nun in Schottland, und vor ihnen andere in der Tschechoslowakei. Aber Obama und Cameron meinen, dass in der Ost-Ukraine dafür die Todesstrafe steht. Die Todesstrafe in Form von Artilleriebeschuss und Bombardierungen. Die Städte sind zu etwa 60% zerstört, über 750.000 Flüchtlinge sind nach Russland geflohen, etwa 200.000 (?) in Richtung Ukraine. Laut
UNO (27/08) gibt es inzwischen 2.600 Tote. Machen Sie sich eigentlich eine Vorstellung, was für ein unendliches Leid da hervorgerufen wurde? Was haben diese Menschen verbrochen? Sie wollten ihre Unabhängigkeit. Genauso wie in Schottland. Es gab eine Volksabstimmung, mit 96% Stimmbeteiligung. Etwa 85% stimmten für die Unabhängigkeit. Vergessen wir es nicht. Damit fing alles an. Da war auch ein souveräner Volkswille.

DIE MILITARISIERUNG
DER SITUATION
Danach kamen ukrainische Lastwagenkolonnen und Panzer. Die Bürger bildeten mit ihren Körpern Barrikaden, um sie am Weiterfahren zu hindern. Sie stemmten sich mit ihren bloßen Fäusten verzweifelt gegen die Panzer, schrien auf die ukrainischen Soldaten ein, wieso sie auf ihre Mitbürger schießen wollten. Da gab es zahlreiche Überläufer, die aus ihren Lastwagen und Panzern ausstiegen und zu Fuß weitergingen, in die Menschenmenge rein. TV-Bilder wie im Ungarnaufstand. Doch für unsre Politiker und Medien sind die Separatisten die Angreifer. Ehrliche Antwort: wer ist denn wo mit Militärkolonnen einmarschiert? (Nicht zu vergessen, daß Russland die Ost-Ukrainer öffentlich darum gebeten hat, die Volksabstimmung zu verschieben.Mit Sicherheit konnte es die Gefahren besser abschätzen als die separatistische Bewegung.)

EIN ANDERER WEG WÄRE MÖGLICH GEWESEN
An diesem Punkt hätte die ukrainische Regierung einen ganz anderen Weg einschlagen können: Verhandlungen führen. Den rund 7 Millionen Menschen ein für sie akzeptables Angebot machen: ein förderativer Staat mit weitgehender regionaler Autonomieverwaltung. Mit eigenen Polizei-Einheiten als Sicherheitsgarantie ihrer Bevölkerung. Genauso wie es die Schotten verlangen werden. Obwohl Cameron da noch weitergeht: er versprach den Schotten völlige nationale Unabhängigkeit. Das bedeutet auch das territoriales Hoheitsrechte auf militärischem Gebiet. Was man der Ost-Ukraine immer verweigern wird. (Grund: sie liegt an der russischen Grenze.) 

WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNGV
ALS FRIEDENSWEG
Es ist nicht logisch, dass eine Regierung die eigene Bevölkerung bombardiert, tausende von Tote in Kauf nimmt…. wobei die zugrunde liegende Frage ganz anders hätte gelöst werden können. Die bankrotte Wirtschaft der Ukraine hätte vor allem eine auf wirtschaftlichen Aufbau und Zusammenarbeit aller Landesteile ausgerichtete Lösung erfordert. Die gerade in Gang gekommene Wirtschaftslokomotive Russland-China hätte sicherlich auch die ukrainische (friedliche) Entwicklung mit angeschoben. Wem hätte es geschadet, wenn die Ukraine – unter neutralem Status - seine Wirtschaftsbeziehungen sowohl nach Osten als auch nach Westen entwickelt hätte? Angesichts einer solch positiven Perspektive wäre die Frage nach dem formalen Status einer  Autonomie, oder förderativen Selbständigkeit der Ost-Ukraine, zweitrangig geworden. Vorrangig ist doch die wirtschaftliche, politische und kulturelle Beziehung und Kooperation der Teile mit dem Ganzen.
 
ES GAB KEINE FREIE ENTSCHEIDUNG
Wenn nur inner-ukrainische Kräfte an diesem Unabhängigkeitskonflikt beteiligt gewesen wären, hätte es mit Sicherheit niemals diese militärischen Eskalation gegeben. Doch die Regierung in Kiew hat ganz bewusst von Anfang an eine andere Richtung eingeschlagen. Poroschenko hat es bei den Gesprächen in Minsk gesagt: “Der Krieg wurde uns von Aussen aufgezwungen.” Wen hat er denn damit gemeint, ohne es direkt aussprechen zu können? Kiew ist an die militärische Strategie der USA- NATO gebunden und handelt ausschliesslich in diesem Rahmen. Mal ganz nebenbei: auch die Karpatenregion der Ukraine hat vor kurzem ihre Unabhängigkeit erklärt, was in den Medien fast vollständig verschwiegen wurde. Grund: die Karpaten liegen nicht an der russischen Grenze.

DER KERN DER FRAGE
Warum wurde also der militärische Weg gewählt? Dahinter steht die unausgesprochene, für alle Seiten zentrale Frage: es geht um das militärische territoriale Hoheitsrecht der Ost-Ukraine. In einer föderativen Staatsstruktur würde Kiew zwar das militärische Hoheitsrecht weiterhin ausüben können. Doch aufgrund der russisch-stämmigen Bevölkerung ist dieses Hoheitsrecht nicht sicher verfügbar. Würden es die Ost-Ukrainer akzeptieren, dass ihr Landstrich in ein Aufmarschgebiet der NATO verwandelt wird? Würden sie tatenlos zusehen, wenn (unter welcher echten oder falschen Flagge auch immer -  auf russisches Gebiet eindringende Heere durch ihr Land ziehen? Wären sie bereit, sich in einer solchen Situation auf die Seite der NATO zu stellen? Oder ihre Bewohner womöglich als “Kanonenfutter” zu opfern? Die Frage kann sicher mit NEIN beantwortet werden. Deswegen ist die Ukraine (NATO) niemals an einer Verhandlungslösung interessiert.

VORRANGIGE MILITÄRISCHE ENTWICKLUNG IN
DER OST-UKRAINE
Kiew (NATO) konnte so auf gar keinen Fall das Risiko einer unsicheren territorialen Verfügungsgewalt eingehen. Es wurde sofort militärisch gegen die Ost-Ukraine vorgegangen. Es gab keine Verhandlungsetappe. Nein, das Ganze hatte von Anfang an einen ausschliesslich militärischen Charakter. Das Vorgehen des ukainischen Militärs ist seitdem darauf angelegt, die Bevölkerung zum Verlassen ihres Landes zu treiben. Sie soll fliehen. Die Gegend muss menschenleer gemacht werden. Durch zerbombte Städte soll ihr die Uberlebensmöglichkeiten vor Ort genommen werden. Vor kurzem forderte die ukrainische Armee die Bevölkerung von Luhansk auf (die noch verbleibenden 600.000 Menschen) sofort die Stadt zu verlassen, da eine grossflächige Bombardierung anstehe. Wohin sollen sie gehen?

KEINE DEMOKRATIE OHNE WERTESYSTEME
Das Gebiet wird für den Krieg gegen Russland gebraucht. Aus diesem Blickwinkel heraus hat das Vorgehen Kiews gegen die Ostukraine seine Logik. KEINE Logik hätte es, ein solch brutales Vorgehen mit der Perspektive einer künftigen engen Zusammenarbeit im Rahmen eines förderativen Staates vereinbaren zu wollen. Mit Sicherheit haben das die führenden Köpfe aller Seiten von Anfang an gewußt. Es ist jedem mit normaler Intelligenz bedarften Menschen klar, daß man eine Bevölkerung nicht niederschießen kann um sie anschließend an die Urnen zu bitten. Demokratische Wahlen haben etwas mit Freiwilligkeit zu tun, mit geistiger Überzeugung, mit Sympathie für die Kandidaten, mit Vertrauen in die moralische Integrität der zu wählenden Regierung. Versetzen Sie sich in die Lage der Menschen in der Ost-Ukraine: Es ist psychologisch kaum möglich, tote Familienagehörige zu beerdigen und im gleichen Atemzug diejenigen, die ihre Tötung befohlen haben, in eine Regierung zu wählen. Sie als (moralisch-ethische) Autorität anzuerkennen. Das ist unvorstellbar. Das haben alle von Anfang an gewusst, verehrte Abgeordnete. Auch Sie. Sie gehen doch selbst davon aus, aufgrund solcher Werte gewählt worden zu sein, oder?

DIE UKRAINISCHE REGIERUNG DROHT NUN MIT DEM GROSSEN KRIEG
Sie spricht aus, was längst überdeutlich ist. Man glaubt in Kreisen des Pentagons und der NATO, einen Krieg gegen Russland gewinnen zu können. Deshalb wird er so eilig und zielgerichtet vorangetrieben. Russland zu zerstören ist vielleicht möglich. Fragt sich jedoch, um welchen Preis. Die Konsequenzen für Europa sind unübersehbar. Sie werden nicht öffentlich problematisiert. Das müßte unsre Regierung jedoch tun, um die Bevölkerung aufzuklären und der medialen Kriegshetze etwas entgegenzusetzen. Inwieweit schlägt ein Krieg auf die europäischen Länder zurück? Was heißt dann noch “gewinnen” oder “verlieren”? Was bleibt da noch übrig? Nicht unerheblich ist dabei zu bedenken, in wessen Hände das Atomarsenal Russlands fiele…: Das Schicksal der tausende oder Millonenn russischer Opfer erwähne ich hier nicht... das war bis heute nicht das Thema im Bundestag. Auch nicht bei der Ost-Ukraine.

DIE VERHANDLUNGSINITIATIVEN
DER BUNDESREGIERUNG
Verehrte Abgeordnete des Bundestages, das müssten Sie alles wissen. Es kann nicht sein, daß  Sie so blindlings, jedoch aktiv, eine Situation mit vorantreiben, ohne nach vorne zu denken. Doch  falls Sie bisher noch nicht über die zukünftigen Auswirkungen Ihrer Entscheidungen nachgedacht haben: tun Sie es spätestens jetzt und ziehen Sie die Notbremse.
Die wiederholten Versuche der Regierung, eine friedliche Verhandlungslösung in Gang zu setzen, werden schon am nächsten Tag wieder durch unbewiesene Verdachtsmeldungen russischer Einmärsche in der Ukraine vom Tisch gefegt, begleitet von der Widersprüchlichkeit der ukrainischen Regierung. Weiß Frau Merkel etwa nicht, daß es ohne Zustimmung der USA, der NATO, in der Ukraine keinen Frieden geben kann? Das setzt einen neutralen Charakter der Ukraine voraus und den Verzicht auf den grossen Krieg gegen Russland. Die USA und NATO wollen das Gegenteil. Alles andere ist Augenwischerei. Der NATO-Gipfel beseitigt alle Zweifel.

WO BLEIBT DAS STRATEGISCHE KONZEPT
DER REGIERUNG ?
Die Bundesregierung hat bis heute der Öffentlichkeit kein auf die Zukunft gerichtetes Konzept präsentiert. Hat die deutsche Bevölkerung kein Recht zu wissen, nach welchen strategischen Richtlinien die Bundesregierung im Falle der Ukraine handelt? Bekommen wir unsre Tragödie nur schrittweise mitgeteilt ? Das diesbezügliche Schweigen des Bundestages macht auch sie mitschuldig. Die Regierung hat einen Eid geschworen, vergessen Sie das nicht

"Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe."

Karl Meyer, Ein ganz normaler denkender Bürger