Ukraine-Konflikt und die Rolle der USA und EU
Russischer Außenpolitik-Experte darüber in German
Foreign Policy am 25.07.2014
Wie im 19. Jahrhundert
Ein eng mit
dem Westen kooperierender russischer Außenpolitik-Experte kommt in einer
Analyse über die Hintergründe des Ukraine-Konflikts zu harten Urteilen über die
Rolle der EU und der Vereinigten Staaten. Der Westen habe seit den Umbrüchen
von 1989/91 Russland stets ausgegrenzt, Vorkehrungen gegen einen russischen
Wiederaufstieg getroffen und seine eigene Machtsphäre systematisch ausgeweitet,
schreibt Dmitri Trenin, Leiter des Moskauer Carnegie Center, eines Ablegers des
US-Think-Tanks "Carnegie Endowment". Selbst nach Beginn des
Ukraine-Konflikts hätten EU und USA diplomatische Schritte der russischen
Regierung nicht erwidert; Chancen auf eine friedliche Lösung wurden dadurch
zunichte gemacht. In Reaktion darauf entstehe eine neue Mächtekonkurrenz
ähnlich der Mächterivalität des 19. Jahrhunderts, urteilt Trenin; neben Wirtschaftssanktionen
sei dabei ein neuer "Informationskrieg" in vollem Gange. Den USA
wirft der Carnegie-Experte "Phobien" gegenüber Russland vor. Über
Deutschland, das ganz besonders an Entstehung und Eskalation des
Ukraine-Konflikts beteiligt war, erklärt er, seine Eliten hätten "einen
langen Aufstieg zu einer neuen, verbesserten Position in der Weltpolitik
begonnen": "Deutschland entwickelt sich zu einer Großmacht in
Eurasien".
Carnegie Moscow
Um eine Einschätzung der historischen Bedeutung des
aktuellen Konflikts um die Ukraine hat sich jüngst in mehreren Beiträgen der
russische Außenpolitik-Experte Dmitri Trenin bemüht. Trenin hat seine
wissenschaftlich-politische Karriere in den 1970er Jahren in Moskau begonnen
und sie in den 1990er Jahren dort fortgesetzt; er ist mit der speziellen Lage
Russlands nach dem Kollaps der Sowjetunion eng vertraut. Dennoch kann ihm keine
antiwestliche Haltung nachgesagt werden: Seit Ende 2008 leitet er das Moskauer
Carnegie Center, das er 1993 mitgegründet hat. Das Zentrum ist ein russischer
Ableger des US-amerikanischen Carnegie Endowment, eines bekannten Think-Tanks
für Fragen der internationalen Politik mit Sitz in Washington. Trenin ist auch
für weitere westliche Think-Tanks tätig, unter anderem für das International
Institute for Strategic Studies in London.
Westliche Macht
Wie Trenin in einem zu Beginn dieser Woche
publizierten Beitrag für eine deutsche Tageszeitung urteilt, wurzelt der
aktuelle Konflikt um die Ukraine letztlich "in der unbefriedigenden Lage
nach dem Kalten Krieg".[1] Der Westen habe seine Bündnissysteme nach Osten
ausgedehnt - die USA vor allem die NATO, Deutschland die EU -, während Russland
davon stets ausgegrenzt geblieben sei. Dabei habe der Westen, wie Trenin
bereits zuvor in einer umfassenderen Analyse festgehalten hat, "seinen
spektakulären Erfolg zum Ende des Kalten Krieges maximiert" und
"seine neue Position gesichert" - "gegen einen möglichen
Wiederaufstieg russischer Macht". Ein Großteil der Eliten Westeuropas und
der USA habe Russland dabei seit Mitte der 1990er Jahre als eine Macht der
Vergangenheit eingestuft, die durchaus noch im Zaum gehalten werden müsse, aber
sonst keine herausragende Aufmerksamkeit mehr verdiene.[2] Die russischen
Eliten seien entsprechend rasch desillusioniert und "zynisch"
gegenüber dem Westen geworden. Die Regierung in Moskau habe sich zwar noch
lange bemüht, von EU und USA "auf Augenhöhe" behandelt zu werden, um
das Land vor Einmischung von außen oder gar militärischer Konfrontation zu
schützen. Das Scheitern dieser Bemühungen habe sie allerdings ebenfalls mit
"Skepsis" gegenüber dem Westen erfüllt.
Westliche Arroganz
Folgt man Trenin, dann hat die Ignoranz des Westens
gegenüber Russland und seinen Interessen maßgeblich zu Entstehung und
Eskalation des aktuellen Konflikts um die Ukraine beigetragen. Als Berlin und
die EU sich um die Assoziierung der Ukraine bemühten, Moskau sie aber in die
Eurasische Union einbinden wollte, da habe die russische Seite den
"Versuch gemacht, die Möglichkeit einer Assoziierung der Ukraine mit
beiden Wirtschaftsblöcken zu erkunden und auf diese Weise das internationale
wie das innere Gleichgewicht des Landes zu erhalten", schreibt Trenin.
Dies habe die EU allerdings für überflüssig befunden und dem russischen
Ansinnen eine Absage erteilt. Weiter ruft Trenin in Erinnerung, wie der
damalige Präsident Wiktor Janukowitsch im Februar einen Ausgleich gesucht habe,
der dann allerdings von den radikaleren Teilen der damaligen Opposition per
Umsturz zunichte gemacht worden sei. Während Russland noch parallel zur
Eskalation der Kämpfe in der Ostukraine "eine Reihe diplomatischer
Schritte unternommen" habe, um den Konflikt zu lösen, sei der Westen zu
einer Übereinkunft prinzipiell nicht bereit gewesen. "Moskaus Politik traf
auf eine unmittelbare, stark negative Reaktion der Vereinigten Staaten und
ihrer Verbündeten", hält Trenin fest.[3]
Informationskrieg und Phobien
Die Folgen sind weitreichend. Die Ukraine sei vom
Krieg geplagt und werde auf Jahre am Boden liegen, urteilt Trenin. Zudem sei
der Konflikt um das Land in eine Periode einer erneuten Konfrontation zwischen
den Vereinigten Staaten und Russland übergegangen. Es handle sich allerdings
weniger um eine Neuauflage des Kalten Kriegs denn vielmehr um ein neues
"Great Game" wie im 19. Jahrhundert, nicht um einen ideologisch
begründeten, weltumfassenden Systemkonflikt, sondern um traditionelle
Mächtekonkurrenz. Dabei sei der Kampf "asymmetrisch und hochgradig
ungleich". Wirtschaftssanktionen, "das politische Äquivalent des
Krieges", würden verhängt, ein "Informationskrieg" sei in
vollstem Gange. Den USA wirft Trenin vor, ihren Rivalen nicht angemessen zu
verstehen und sogar "Phobien" gegenüber Russland zu hegen. Umgekehrt
habe der Ukraine-Konflikt Moskau veranlasst, die in den 1990er Jahren
etablierte "Ordnung" Europas offen herauszufordern, zumal sie keinen
gleichberechtigten Platz für Russland vorgesehen habe. Inzwischen breiteten
sich in Russland antideutsche Gefühle aus, wie man sie seit Jahrzehnten nicht
angetroffen habe. In den russischen Staatsmedien sei zuweilen, wo man bislang
von "Nazis" oder "Faschisten" gesprochen habe, nur noch von
"Deutschen" die Rede. Dieser Trend könne "ein Schlüsselelement
der europäischen Friedensordnung" zerstören: die deutsch-russische
Versöhnung.[4]
Großmacht Deutschland
Über Deutschland hat Trenin bereits im Februar
geurteilt, seine politische Elite habe "einen langen Aufstieg zu einer
neuen, verbesserten Position in der Weltpolitik begonnen". Im Kalten Krieg
als "Wirtschaftsmacht par excellence" erstarkt, sei es in der
Eurokrise zur eindeutigen Führungsmacht der EU aufgestiegen. Seine neue Rolle
schließe auch "Sicherheitspolitik" sowie, "wenn nötig, den
Gebrauch militärischer Gewalt" ein. Dabei suche die politische Elite des
Landes, wie die Große Koalition zeige, "eine breite Übereinkunft über
Deutschlands zukünftige geopolitische Rolle in der Welt".[5] Tatsächlich
bindet der gegenwärtige Elitenkonsens über die angebliche Notwendigkeit einer
neuen deutschen Weltpolitik auch grün-alternative und teils linke Milieus ein
(german-foreign-policy.com berichtete [6]). "Deutschland entwickelt sich
zu einer Großmacht in Eurasien", schreibt Trenin über denjenigen Staat,
der unter den Ländern des Westens maßgeblich zu Entstehung und Eskalation des
Konflikts um die Ukraine beigetragen [7] und damit klargestellt hat, wozu er
als Großmacht in der Lage ist. Diese Woche hat Trenin das in der deutschen
Presse wiederholt. Deutschland trete nun "in den Kreis der Großmächte
neuen Typs ein", urteilte er und fügte hinzu:
"Es ist die Interaktion dieser Mächte mit den
Vereinigten Staaten, nicht mehr hegemonial, aber doch Führungsmacht, welche die
kommende Weltordnung formen wird" [8] - eine Weltordnung mit
Mächterivalität nach dem Modell des 19. Jahrhunderts.
[1] Dmitri Trenin: Deutschland wird langsam zu
einer Großmacht. www.welt.de 21.07.2014.
[2], [3], [4] Dmitri Trenin: The Ukraine Crisis and the Resumption of
Great-Power Rivalry. carnegie.ru 09.07.2014.
[5] Dmitri Trenin: Enter Germany, a New Great Power in Eurasia.
carnegieeurope.eu 14.02.2014.
[6] S. dazu Die Weltpolitik-Kampagne der Eliten, Die Eliten wollen mehr und Systematische Revision.
[7] S. dazu Protestbündnis für Europa, Probleme der Ostexpansion und Ein breites antirussisches Bündnis.
[8] Dmitri Trenin: Deutschland wird langsam zu einer Großmacht. www.welt.de
21.07.2014.