Russland „Gegen soziale Apartheid, für starkes Europa“ – Neue Stimmen

aus Moskau in Berlin

von Wladimir Astapkowitscham 30.3.2019

Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, hatte Berlin einen bemerkenswerten russischen Gast. Mit Valerij Fadeev sprach zum ersten Mal ein Vorsitzender der Russischen Gesellschaftskammer in Deutschland. Doch nicht nur der Chef der größten Organisation der russischen Zivilgesellschaft setzte ungewohnte Akzente im Gespräch mit Sputniknews.

Die Gesellschaftliche Kammer der Russischen Föderation (im Original: Общественная палата Российской Федерации) wurde 2005 gegründet. In ihr sind Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Organisationen und Vereinigungen aller Lebensbereiche Russlands vertreten. Das als Gesellschaftliche oder mitunter auch Öffentliche Kammer bezeichnete Gremium wurde mit voller Absicht „Kammer“ genannt, da es als dritte Kammer im politischen System Russlands gedacht ist und die beiden Kammern des russischen Parlaments (Föderationsrat = Oberkammer und Staatsduma = Unterkammer) beraten soll. In Anhörungen soll die Gesellschaftliche Kammer Gesetzentwürfe der Staatsduma evaluieren, bevor sie Rechtskraft erlangen. Darüber hinaus hat die Kammer auch beratende Funktion für die russische Regierung.

Diese Funktion spiegelt sich auch in der Besetzung wider. Ein Drittel der derzeit 176 Mitglieder wird durch den Staatspräsidenten ernannt, ein weiteres Drittel vom Parlament und das verbleibende Drittel durch die Kammer selbst. Vorsitzender der Kammer ist derzeit Valerij Fadeev. Der studierte Ökonom und Mathematiker machte sich in den vergangenen Jahren vor allem mit seinen Tätigkeiten für „Kommersant“, „Iswestja“ und „Expert“ einen Namen. Dem Deutsch-Russischen Forum gebührt der Verdienst, mit Fadeev zum ersten Mal einen Vorsitzenden der Gesellschaftlichen Kammer zu einem Meinungsaustausch nach Deutschland zu bringen.

Mit ihm kam auch eine der renommiertesten der russischen Politikwissenschaften unserer Tage nach Berlin, Veronika Krasheninnikova, Generaldirektorin des Institutes für außenpolitische Studien und Initiativen in Moskau und ebenfalls Mitglied der Gesellschaftlichen Kammer. Krasheninnikova hat sich vor allem einen Namen gemacht mit ihren dezidierten Kritiken an einem zu sorglosen Umgang russischer Politik mit westlichen Parteien und Bewegungen des politisch rechten Spektrums.

„Globale soziale Apartheid“

Die Veranstaltung in der Berliner Repräsentanz der Commerzbank am Pariser Platz, exakt zwischen Brandenburger Tor und US-Botschaft gelegen, trug den Titel „Globale, soziale Ungerechtigkeit im Kommen – wie Europa und Russland gemeinsam dagegen vorgehen können“. Valerij Fadeev gilt als jemand, der kein Blatt vor den Mund nimmt und zu starken sprachlichen Bildern neigt. Davon konnten sich die Gäste des Abends überzeugen. Etwa als Fadeev vor der Gefahr einer „globalen sozialen Apartheid“ warnte und damit die Gefahr umschrieb, dass die neoliberale Wirtschaftsdoktrin die Idee des Sozialstaates endgültig weltweit zerstört und die soziale Ungleichheit unerträgliche Ausmaße annimmt, die zu Revolten führt.

Fadeev bezog sich in seinem Vortrag aber weniger auf die Ursprungsstaaten der neoliberalen Doktrin, sondern blieb mit seiner Kritik vor allem in Russland. Auch im Gespräch mit Sputniknews galten seine Analysen vor allem dem Russland von heute. Im Hinblick auf die Wirtschaftspolitik sei die derzeitige russische Regierung bedauerlicherweise immer noch von neoliberalen Ideen dominiert. Auf die Frage, welche Alternativen er vorschlägt, antwortete Fadeev:

„Wenn wir von der Aufgabe des Wirtschaftswachstums sprechen, so würde allein der Wohnungsbau einen ein-prozentigen BIP-Zuwachs sichern. Die Modernisierung der Kommunalwirtschaft, wie sie von Präsident Putin gefordert wird, würde nach Schätzungen meiner Kollegen noch einmal etwa 1,5 Prozent dazu bringen. Das wäre ein pragmatisches Herangehen. Die Leute in der Regierung denken aber in allgemeinen Kategorien – Zinssätze, Verbesserung von Bedingungen für Business und Investitionsklima. Der Neoliberalismus setzt eine übermäßige Freiheit von Privatkapital und Marktmechanismen voraus. In Russland ist dadurch eine paradoxe Situation entstanden: Diese übermäßige Freiheit hat zu einer Verringerung der Wirtschaftsaktivität geführt. Als Folge musste sich der Staat immer mehr in die Wirtschaft einmischen.“

Doch Fadeev plädierte in Berlin vor allem für ein Ende des Fetisch „Wachstum“ um jeden Preis. Die Menschheit bräuchte nicht immer mehr und immer öfter neue Produkte, sondern Qualität. Es könne nicht sein, dass früher Autos oder Kühlschränke Jahrzehnte funktionierten, während sie heute bei deutlich höheren Preisen eine Lebensdauer von nicht mal einem Jahrzehnt haben und man zu einem Neukauf gezwungen ist, weil Reparaturen entweder nicht möglich oder finanziell unattraktiv sind. Das betreffe Russland genauso wie westliche Staaten, womit er sich auf den Titel der Veranstaltung bezog, denn in diesem Punkt könnten Europa und Russland in punkto Konsumverzicht oder wenigstens Umdenken und Umsteuern in eine nachhaltigere, ressourcenschonendere und umweltfreundlichere Wirtschaft eine Vorreiterrolle übernehmen.

In der anschließenden Diskussion äußerten aber vor allem russische Teilnehmer ernsthafte Zweifel, ob ein derart radikales Umschwenken in Russland umzusetzen sei. „Sozialromantiker“ wurde Fadeev etwa genannt. Und dass er ein bedingungsloses Grundeinkommen rundweg ablehnt, weil „Menschen Geld verdienen müssen und dies vom Staat ermöglicht werden muss“, fand nicht unbedingt den Beifall des Publikums.

Proteste in Russland – „Ungerechtigkeit wie im Jahre 1917“

Valerij Fadeev wehrte sich in Berlin gegen die weit verbreitete Darstellung Russlands als einem Land, in dem es keine aktive und lebendige Zivilgesellschaft mehr gebe. Er verwies dazu auf landesweite Proteste gegen die so genannte Müllreform oder andere Umweltfragen betreffend, wie etwa sauberes Wasser. In der Tat berichtete Sputniknews erst unlängst über Proteste von Anwohnern des Baikalsees, die sich letztlich erfolgreich gegen eine Abfüllanlage für Mineralwasserflaschen zur Wehr setzte.

Der Chef der Gesellschaftlichen Kammer schätzt, dass sich Millionen Menschen in Russland freiwillig für unterschiedliche gesellschaftliche Belange einsetzen. Vor allem auch für einen Bürokratieabbau. Er nehme beinahe täglich an Veranstaltungen teil, die sich mit diesem Thema befassen, erklärte Fadeev. Die Gesellschaftliche Kammer habe beispielsweise auch der massiven Kritik breiter Bevölkerungskreise an der jüngsten Rentenreform eine Stimme gegeben. Die Menschen seien durch das ungeschickte Vorgehen der Regierung sehr verletzt worden, weil die russische Regierung offenbar gedacht habe, es würde niemand bemerken, als die Rentenreform durchs Parlament gebracht werden sollte. Dabei bekannte Valerij Fadeev aber gleichzeitig, dass Russland wegen demographischer und ökonomischer Realitäten um eine grundsätzliche Rentenreform nicht herumkomme.

Fadeev sprach in dem Zusammenhang auch die soziale Ungleichheit in Russland an. Er verblüffte die Zuhörer mit seiner Einschätzung, wonach die soziale Ungerechtigkeit in Russland mit der vor der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917 vergleichbar sei. Es bestehe ein erhebliches Wohlstandsgefälle zwischen einer prosperierenden Region wie der Hauptstadt Moskau oder der Kaukasus-Region. Besonders kritisierte Fadeev die Tatsache, dass die ohnehin schon niedrige russische Einkommensteuer von 13 Prozent von den allermeisten Reichen des Landes gar nicht entrichtet werde, weil sie sich – ähnlich wie in westlichen Staaten – mit diversen Tricks und Kniffen „arm“ rechnen können.

Warum vor diesem Hintergrund die russischen Kommunisten oder andere linke Parteien nicht erfolgreicher sind, wollte Sputniknews von Fadeev wissen. Seine Antwort:

„Die Linken in Russland haben eine archaische Agenda, sie haben keine schillernden Figuren und keine Intellektuellen. Sie sind nicht fähig, den Leuten etwas Greifbares anzubieten. Das Parteiensystem in Russland – und nicht nur in Russland – macht nicht die besten Zeiten durch. Das russische Parteiensystem wurde vom westlichen kopiert. Meine Meinung: Die Parteiensysteme, wie sie heute existieren, werden in den nächsten Jahrzehnten ableben, gesellschaftliche Institutionen werden mit der Zeit diese Aufgaben übernehmen.“

„Enttäuschende“ Überraschung: Trump ist kein russischer Spion

Regelrecht belustigt zeigte sich Fadeev, als er auf die immer wieder zu vernehmenden Behauptungen zu sprechen kam, Russland würde Wahlen in westlichen Staaten manipulieren. Offensichtlich seien diverse Medien darüber erschrocken, dass US-Präsident Donald Trump nicht als russischer Spion enttarnt wurde. Mehr als 2000 Sendeminuten hätten die großen Sender-Netzwerke in den USA diesem einen Thema gewidmet und nun, nichts. Valerij Fadeev machte allerdings keinen Hehl daraus, dass er wenig vom derzeitigen US-Präsidenten und seiner Administration hält. Er wählte dazu das russische Wort „пошлость“ (Poschlostj), was man im Deutschen mit ziemlich respektlosen Begriffen von „Plattitüde“ oder „Kitschigkeit“ bis hin zu „Ferkelei“ übersetzen kann, aus Respekt vor dem Staatsoberhaupt der USA wählen wir aber das Wort „Plumpheit“.

Donald Trump, die angeblichen Manipulationen bei seiner Wahl durch Russland waren auch Gegenstand eines Gesprächs am Rande der Berliner Veranstaltung mit Veronika Krasheninnikova. Sie hatte Fadeev nach Berlin begleitet und Sputniknews nutzte die Chance, die angesehene Politologin unter anderem nach ihrer Einschätzung zu befragen, was sie von den ständigen Unterstellungen hält, wonach Russland Wahlen in westlichen Staaten manipulieren würde.

Quelle: https://de.sputniknews.com/gesellschaft/20190330324531278-moskauer-sprecher-fuer-soziale-politik-in-europa/