Aussenminister Sergej Lawrow auf der Münchner
Sicherheitskonferenz
"Wenn wir den 70.
Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs begehen, sollten wir uns der
Verantwortung bewusst sein, die auf uns allen liegt".
Die Rede
des russischen Außenministers Sergej Lawrow bei der 51. Münchner
Sicherheitskonferenz am 7. Februar 2015.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Herr Wolfgang Ischinger hat das Thema „Kollaps der
Weltentwicklung“ auf die Tagesordnung gesetzt. Man muss zustimmen, dass die
Ereignisse bei weitem nicht nach einem optimistischen Szenario verlaufen. Aber
die Argumentation mancher unserer Kollegen, es sei zu einem plötzlichen und
schnellen Zusammenbruch der seit Jahrzehnten herrschenden Weltordnung gekommen,
können so nicht hingenommen werden.
Es ist eher umgekehrt – die Ereignisse des letzten
Jahres haben gezeigt, dass unsere Warnungen hinsichtlich der Existenz von
tiefen Systemproblemen bei der Organisation der europäischen Sicherheit und in
den internationalen Beziehungen im Ganzen gerechtfertigt waren. Ich möchte an
die Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin erinnern, die er von dieser
Tribüne vor acht Jahren gehalten hat.
Die Konstruktion der Stabilität, die sich auf die
UN-Satzung und die Prinzipien von Helsinki gestützt hat, ist schon lange untergraben
worden – durch die Handlungen der USA und ihrer Verbündeten in Jugoslawien (die
Bombardements dort), im Irak, in Libyen, mit der Erweiterung der Nato nach
Osten und der Schaffung von neuen Demarkationslinien. Das Projekt der
Errichtung eines „europäischen Hauses“ ist gerade deshalb nicht umgesetzt
worden, weil unsere Partner im Westen sich nicht von den Interessen der
Schaffung einer offenen Sicherheitsarchitektur bei geneseitiger Achtung der
Interessen leiten ließen, sondern von den Illusionen und Überzeugungen der
Sieger im Kalten Krieg. Die im Rahmen der OSZE und des Russland-Nato-Rates
feierlich angenommenen Verpflichtungen, die eigene Sicherheit nicht auf Kosten
der Sicherheit der anderen zu gewährleisten, wurden in der Praxis ignoriert.
Das Problem der Raketenabwehr ist ein schillerndes
Beispiel für den destruktiven Einfluss einseitiger Schritte auf dem Gebiet
militärischer Aktivitäten, die den elementaren Interessen anderer Staaten
zuwiderlaufen. Unsere Angebote zur gemeinsamen Arbeit bei der Raketenabwehr
wurden zurückgewiesen. Stattdessen wurde uns vorgeschlagen, bei der Schaffung
der globalen amerikanischen Raketenabwehr mitzumachen, streng nach den
Richtlinien aus Washington. Wie wir schon mehrmals betont und anhand von
Tatsachen erklärt haben, birgt diese Raketenabwehr reelle Risiken für die
russischen Kräfte der atomaren Eindämmung.
Jede beliebige Handlung, die die strategische
Stabilität untergräbt, zieht unweigerlich Gegenmaßnahmen nach sich. Damit wird
dem gesamten System der internationalen Verträge auf dem Gebiet der
Waffen-Kontrolle, deren Lebensfähigkeit unmittelbar vom Faktor der
Raketenabwehr abhängt, ein langfristiger Schaden zugefügt.
Wir verstehen nicht einmal, womit diese
amerikanische Obsession, eine globale Raketenabwehr zu schaffen, zusammenhängt.
Mit dem Streben nach unanfechtbarer militärischer Vorherrschaft? Mit dem
Glauben an die Möglichkeit, Probleme technisch zu lösen, die ihrem Wesen nach
politische sind? Wie dem auch sei: die Raketengefahren haben nicht abgenommen, aber
im Euro-Atlantik ist ein starker Reizfaktor entstanden, den zu überwinden sehr
viel Zeit brauchen wird. Wir sind dazu bereit. Ein anderer destabilisierender
Faktor war die Weigerung der USA und anderer Nato-Mitglieder, die Vereinbarung
über die Anpassung des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa
(KSE) zu ratifizieren, und das hat diesen Vertrag begraben.
Dabei versuchen unsere amerikanischen Kollegen in
jeder von ihnen selbst geschaffenen schwierigen Situation, die Schuld auf
Russland abzuwälzen. Nehmen wir die in letzter Zeit aufgelebten Diskussionen um
den Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF). Die Experten sind gut
mit den Handlungen der USA vertraut, die dem Geist und den Buchstaben dieses
Dokuments entgegenlaufen. So hat Washington im Rahmen der Errichtung eines
globalen Raketenabwehrsystems ein großangelegtes Programm zur Schaffung von
Zielflugkörpern entfaltet, deren Charakteristiken analog mit durch den
INF-Vertrag verbotenen landgestützten ballistischen Raketen sind oder diesen
sehr nahe kommen. Die von den USA breit verwendeten Kampfdrohnen fallen unter
die vertraglich festgelegte Definition von landgestützten Flügelraketen
mittlerer Reichweite. Der Vertrag verbietet ausdrücklich Abschussvorrichtungen
für Abfangflugkörper, die bald in Rumänien und Polen aufgestellt werden sollen,
denn von ihnen können Flügelraketen mittlerer Reichweite gestartet werden.
Die amerikanischen Kollegen weigern sich, diese
Fakten anzuerkennen und behaupten, sie hätten „begründete“ Vorwürfe gegen
Russland hinsichtlich des INF-Vertrags, aber sie bemühen sich, Konkretes außen
vor zu lassen.
Unter Berücksichtigung dieser und vieler anderer
Faktoren zu versuchen, die jetzige Krise mit den Ereignissen des letzten Jahres
in Zusammenhang zu bringen, bedeutet unserer Meinung nach, sich einer
gefährlichen Selbsttäuschung hinzugeben.
Es kommt zur Kulmination des im letzten
Vierteljahrhundert von unseren westlichen Kollegen gefahrenen Kurses auf die
Bewahrung ihrer dominanten Stellung in den Weltangelegenheiten und die
Ergreifung des geopolitischen Raums in Europa mit allen Mitteln. Von den
GUS-Staaten – unseren nächsten Nachbarn, die mit uns seit Jahrhunderten
wirtschaftlich, humanitär, historisch, kulturell und sogar familiär verbunden
sind – wird die Wahl gefordert: „entweder mit dem Westen oder gegen den
Westen“. Das ist die Logik eines Spiels mit Null-Resultat, das alle doch
eigentlich als Teil der Vergangenheit hinter sich lassen wollten.
Auch die strategische Partnerschaft zwischen
Russland und der Europäischen Union, die der Entwicklung von Mechanismen den
Weg der Konfrontation des gegenseitig vorteilhaften Handelns vorgezogen hat,
hat die Härteprüfungen nicht überstanden. Da muss man natürlich an die nicht
wahrgenommene Möglichkeit der Umsetzung der im Juni 2010 in Merseburg von
Kanzlerin Merkel vorgeschlagenen Initiative zur Einrichtung eines
Russland-EU-Ausschusses zu außenpolitischen und Sicherheitsfragen auf der Ebene
der Außenminister denken. Russland hat diese Idee unterstützt, die Europäische
Union hat sie aber verworfen. Ein solcher Mechanismus des ständigen Dialogs
(wenn er denn geschaffen worden wäre) hätte es erlaubt, operativer und
effektiver Probleme anzugehen und rechtzeitig gegenseitige Besorgtheiten aus
dem Weg zu räumen.
Was die Ukraine betrifft, haben unsere
amerikanischen Kollegen und unter ihrem Einfluss auch die Europäische Union in
jeder Etappe der Entwicklung der Krise Schritte unternommen, die zur Eskalation
führten. So war es, als die EU sich weigerte, unter Beteiligung Russlands die
Folgen der Einführung des Wirtschaftsteils des Assoziierungsabkommens mit der
Ukraine zu erörtern, und davor ging es um die gegen die Regierung gerichteten
Unruhen. So war es auch, als die westlichen Partner den Kiewer Behörden ein ums
andere Mal „Ablassbriefe“ erteilten, und Kiew statt das Versprechen zu
erfüllen, einen gesamtnationalen Dialog aufzunehmen, eine großangelegte
Militäroperation begann, wobei es die eigenen Bürger, die mit dem
verfassungswidrigen Machtwechsel und den ultranationalen Exzessen nicht
einverstanden waren, zu „Terroristen“ stempelte.
Wir können uns nur sehr schwer erklären, warum sich
die universellen Prinzipien der Regelung von inneren Konflikten, die vor allem
einen inklusiven politischen Dialog zwischen den Protagonisten vorsehen, im
Bewusstsein vieler unserer Kollegen nicht auf die Ukraine erstrecken. Warum
unsere Partner zum Beispiel hinsichtlich Afghanistan, Libyen, Irak, Jemen, Mali
und Südsudan die Regierungen hartnäckig dazu aufrufen, sich mit der Opposition,
mit Aufständischen und in manchen Fällen auch mit Extremisten zu einigen – und
bezüglich der Krise in der Ukraine anders auftreten, indem sie bei der
Gewaltoperation Kiews Nachsicht zeigen, bis hin zur Rechtfertigung der
Anwendung von Kassettenbomben.
Leider sind unsere westlichen Kollegen geneigt, vor
allem die Augen zu verschließen, was die Kiewer Behörden sagen und machen, das
Entfachen von fremdenfeindlichen Stimmungen eingeschlossen. Ich erlaube mir ein
Zitat: „Der ukrainische Sozialnationalismus sieht die ukrainische Nation als
Blut- und Rassegemeinschaft.“ Und weiter: „Die Frage der totalen Ukrainisierung
im künftigen sozialnationalistischen Staat wird im Laufe von drei bis sechs
Monaten mit Hilfe einer harten und ausgewogenen Staatspolitik gelöst werden.“
Autor ist der Abgeordnete der Obersten Rada Andrej Bilezki – Befehlshaber des
Regiments „Asow“, das aktiv an den Kampfhandlungen im Donbass teilnimmt. Auch
andere in die Politik und an die Macht gestürmten Leute wie D. Jarosch, O.
Tjagnibok und O. Ljaschko, der Leiter der in der Obersten Rada vertretenen
Radikalen Partei, traten in der Öffentlichkeit wiederholt für eine ethnische
Säuberung der Ukraine und die Vernichtung von Russen und Juden ein. Diese
Äußerungen haben in den westlichen Hauptstädten überhaupt keine Reaktion
hervorgerufen. Ich denke nicht, dass das heutige Europa sich erlauben kann, die
Gefahr der Verbreitung des neonazistischen Virus zu ignorieren.
Die ukrainische Krise kann nicht mit militärischer
Gewalt geregelt werden. Das wurde im letzten Sommer deutlich, als die Situation
auf dem Kriegsschauplatz dazu zwang, die Minsker Vereinbarungen zu
unterzeichnen. Das zeigt sich auch jetzt, wo der nächste Versuch, einen
militärischen Sieg zu erringen, zum Erliegen kommt. Aber ungeachtet dessen
ertönen in einer Reihe westlicher Länder immer lauter Appelle, die
Unterstützung für den Kurs Kiews hin zur Militarisierung der Gesellschaft und
des Staates zu verstärken, die Ukraine mit todbringenden Waffen „vollzupumpen“
und in die Nato zu ziehen. Hoffnung macht die immer stärker werdende Opposition
gegen diese Pläne in Europa, die die Tragödie des ukrainischen Volkes nur noch
verschlimmern können.
Russland wird auch in Zukunft für eine
Friedensregelung einstehen. Wir treten konsequent für die Einstellung der Kampfhandlungen,
den Abzug schwerer Waffen und die Aufnahme von direkten Verhandlungen zwischen
Kiew und Donezk und Lugansk ein, um konkrete Wege zur Wiederherstellung des
gemeinsamen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Raumes im Rahmen der
territorialen Integrität der Ukraine zu finden. Genau darum ging es bei den
vielfältigen Initiativen von Wladimir Putin im Rahmen des „Normandie-Formats“,
die es erlaubten, den Minsker Prozess und unsere weiteren Anstrengungen zu
seiner Entwicklung, einschließlich der gestrigen Verhandlungen der Staatschefs
von Russland, Deutschland und Frankreich im Kreml, in die Wege zu leiten. Wie
Sie wissen, werden diese Verhandlungen fortgesetzt. Wir sind der Meinung, dass
es alle Möglichkeiten gibt, Ergebnisse zu erzielen und Empfehlungen
abzustimmen, die es den Seiten erlauben werden, diesen Konfliktknoten zu lösen.
Es ist wichtig, dass alle die Ausmaße der Risiken
erkannt haben. Es ist an der Zeit, von der Gewohnheit zu lassen, jedes Problem
einzeln zu betrachten, „ohne hinter den Bäumen den Wald zu sehen“. Es ist Zeit,
die Lage komplex einzuschätzen. Die Welt befindet sich heute an einem radikalen
Wendepunkt, der mit dem Wechsel der historischen Epochen zusammenhängt. Die
„Geburtswehen“ der neuen Weltordnung machen sich durch das Anwachsen von
Konfliktsituationen in den internationalen Beziehungen bemerkbar. Wenn statt
einer strategischen globalen Sichtweise Gelegenheitsentscheidungen von
Politikern im Hinblick auf die nächsten Wahlen bei ihnen zu Hause triumphieren
sollten, wird die Gefahr auftauchen, die Kontrolle über die Hebel der globalen
Lenkung zu verlieren.
Ich erinnere daran, dass zu Beginn des Konflikts in
Syrien viele im Westen dazu aufriefen, die Bedrohung durch Extremismus und
Terrorismus nicht zu übertreiben, wobei sie behaupteten, die würde sich
irgendwie „selbst geben“, das Wichtigste sei aber, den Machtwechsel in Damaskus
zu erreichen. Wir sehen, was sich daraus ergeben hat. Riesige Gebiete im Nahen
Osten, in Afrika und in der afghanisch-pakistanischen Zone entziehen sich immer
mehr der Kontrolle durch die legitimen Regierungen. Der Extremismus schwappt in
andere Regionen über, Europa eingeschlossen. Die Risiken der Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen nehmen zu. Die Situation bei der Nahost-Regelung und
in anderen Zonen regionaler Konflikte nimmt einen explosiven Charakter an.
Bisher wurde keine adäquate Strategie zur Eindämmung dieser Herausforderungen
entwickelt.
Ich möchte hoffen, dass die Diskussionen heute und
morgen in München uns im Verstehen dessen näherbringt, auf welchem Niveau sich
die Anstrengungen bei der Suche nach kollektiven Antworten auf die für alle
gemeinsamen Bedrohungen befinden. Wenn man ein ernsthaftes Ergebnis will, darf
das Gespräch nur gleichberechtigt geführt werden – ohne Ultimaten und Drohungen.
Wir sind weiterhin davon überzeugt, dass es viel
einfacher wäre, den ganzen Komplex an Problemen anzugehen, wenn sich die
größten Akteure auf die strategischen Richtlinien ihrer Beziehungen einigen
könnten. Unlängst sagte die ständige Sekretärin der Französischen Akademie,
Helene Carrere d´Encausse, die ich sehr verehre, dass „es kein richtiges Europa
ohne Russland geben kann“. Wir würden gern verstehen, ob unsere Partner diese
Sichtweise teilen oder ob sie geneigt sind, den Kurs auf die Vertiefung der
Spaltung des allgemein-europäischen Raumes und die gegenseitige Konfrontation
seiner Fragmente fortzusetzen. Wollen sie eine Sicherheitsarchitektur zusammen
mit Russland, ohne Russland oder gegen Russland schaffen? Natürlich müssen auch unsere amerikanischen Partner diese Frage
beantworten.
Wir schlagen schon lange vor, mit dem Bau eines
wirtschaftlichen und humanitären Einheitsraumes von Lissabon bis Wladiwostok zu
beginnen, der sich auf die Prinzipien einer paritätischen und unteilbaren
Sicherheit stützen würde und sowohl die Mitglieder von Integrations-Bündnissen
als auch nichtgebundene Länder umfassen würde. Besonders aktuell ist die
Schaffung von verlässlichen Mechanismen bei der Zusammenarbeit zwischen der
Eurasischen Wirtschaftsunion und der EU. Wir begrüßen die sich andeutende
Unterstützung dieser Idee durch verantwortungsbewusste europäische
Staatsführer.
Im 40. Jubiläumsjahr der Helsinki-Abschlussakte und
dem 25. Jahrestag der Charta von Paris tritt Russland dafür ein, diese
Dokumente mit realem Leben zu füllen, die dort verankerten Prinzipien zu wahren
und die Stabilität und Prosperität im gesamten euro-atlantischen Raum auf der
Basis von echter Gleichberechtigung, gegenseitiger Achtung und Berücksichtigung
der Interessen aller zu gewährleisten. Wir wünschen der im Rahmen der OSZE
gebildeten „Gruppe der Weisen“, die in Form von Empfehlungen zu einem Konsens
kommen soll, viel Erfolg.
Wenn wir den 70. Jahrestag des Endes des Zweiten
Weltkriegs begehen, sollten wir uns der Verantwortung bewusst sein, die auf uns
allen liegt.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
(Übersetzung-Susanne Brammerloh/russland.RU)
Quelle: http://www.russland.ru/lawrow-auf-der-muenchner-sicherheitskonferenz/?pri