Leserbrief an die taz zu dem Artikel von Micha Brumlik: „Sie prügelten sie zu Tode“ – Judenboykott  am  1. April 1933 ( taz 1.4.2013)

Sehr geehrter Herr Brumlik,

Ihr Artikel ist eine historische Abhandlung zum Jahr 1933, garniert mit einer Fußnote zu Martin Luthers antisemitischer Schrift, aber mit einer "differenzierten Erkenntnis sozialer Fakten" der besetzten und abgeriegelten palästinensischen Gebiete setzen Sie sich leider nicht auseinander. Pointiert schreiben Sie: „Die deutschen Juden wären froh gewesen, hätten sie im April 1933 jene politischen Spielräume gehabt, über welche die israelischen Staatsbürger arabischer Nationalität heute verfügen." Abgesehen davon, dass uns anerzogen wurde, man sollte niemals den Staat Israel und sein Besatzungsregime mit den Nazis vergleichen, so ist dies die einzige, wenn auch pauschale Aussage über die Verhältnisse, unter denen palästinensische Israelis leben. Die 1,5 Millionen Palästinenser, die im Gaza-Streifen unter der israelischen Abriegelung leiden, und die 2,5 Millionen Palästinenser, die  im Westjordanland seit 45 (!!)  Jahren ein Besatzungsregime ertragen müssen, das mit faktischer Rechtlosigkeit einhergeht, mit Landkonfiszierung, Häuserabriss und Apartheidstrukturen (vor allem in Hebron und Ostjerusalem), diese Menschen und ihre konkrete Situation erwähnen Sie mit keinem Wort.

Ich habe im Herbst 2012 mit einer taz (!!!)-Reisegruppe 10 Tage lang das besetzte Westjordanland besucht. Wir hatten Gelegenheit, mit VertreterInnen palästinensischer und israelischer NGOs zu sprechen. Besonders ist mir Angela Geofrey-Goldstein in Erinnerung (angela@jahalin.org), die sich für die Jahalin-Beduinen einsetzt und gegen die Zerstörung palästinensischer Häuser in Ostjerusalem kämpft. Sie selbst hatte früher in Südafrika gelebt und sagte zu unserer taz-Gruppe, das Apartheidsystem der israelischen Regierungen sei schlimmer, als es in Südafrika war. Sie forderte unsere Reisegruppe zum Boykott aller israelischen Waren auf. Denn die sogenannten Siedlungen sind nur möglich durch das Besatzungsregime des israelischen Staates und durch die staatlichen Unterstützungen für den Siedlungsbau.

Ich hatte auch Gelegenheit, mit zwei Vertretern von „Breaking the Silence“ zu sprechen und habe das Buch dazu gelesen. Nach dieser Reise habe ich mich den BDS-Aktionen angeschlossen.

Mag der Boykottaufruf bei oberflächlicher Betrachtung assoziativ an den SA-Boykott der Nazis erinnern, so ist nüchtern darauf hinzuweisen, dass er gerade außerhalb Deutschlands  große Resonanz findet, z.B. in Großbritannien und in Dänemark, wo entschlossene Bürgerinnen und Bürger fast alle Juden retten konnten. Die Nazis raubten mit ihrem Boykott  den Juden die ökonomische Existenz und später in den KZs auch ihre physische Existenz. Der BDS-Aufruf dagegen orientiert sich an dem Boykott des Apartheidsystems in Südafrika und fordert die Durchsetzung und Einhaltung der Menschenrechte. So sind es jetzt  gerade auch Südafrikaner, die zum Boykott israelischer Waren aufrufen.

Sehr geehrter Herr Brumlik, auch wenn Sie nur im Nebensatz die Menschenrechte und das Völkerrecht erwähnen, aber genau darum geht es. Wer wie Sie bewusst an die Nazi-Parole "Kauft nicht bei Juden!“ anknüpft, verschleiert in demagogischer Weise das Anliegen der Boykottaktion, die auch von vielen Juden und jüdischen Israelis unterstützt wird.

Israel gehört zu den wenigen Staaten, der durch einen Beschluss der UN-Vollversammlung zu Stande gekommen ist. Doch paradoxerweise ignoriert gerade dieser Staat Dutzende von UN-Resolutionen. Der Bericht der Fact Finding Commission des UN-Menschenrechtsrats vom Januar 2013, der allerdings von Israel boykottiert wird, hat die vielfältigen Verstöße der israelischen Besatzungs-  und Siedlungspolitik gegen die Menschenrechte und gegen das Völkerrecht dokumentiert, wie es schon zuvor die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem getan hat (publiziert in dem Pax Christi- Impulseheft 27).

Ihre Mutmaßung, der Begriff "Besetzung" sei vage und könne sich auf das gesamte Territorium Israels und nicht nur auf die 1967 eroberten Gebiete beziehen, ist irreführend. Die UN haben die besetzten Gebiete klar definiert (UN-Resolution 242 und viele weitere Resolutionen). Der Staat Israel ist völkerrechtlich anerkannt, das Existenzrecht Palästinas wird dagegen von Israel verneint. Deshalb ist es nicht nur voreilig, sondern geradezu demagogisch zu behaupten,  es werde mit dem Boykott „das Ende des israelischen Staats angepeilt“.

Nicht weniger demagogisch ist es, wenn Sie unterstellen, es „könnten“ (Potentialis!) sich Antisemiten aus edelsten Motiven von Boykottaktionen gegen den Staat Israel hingezogen fühlen (gemeint ist: angezogen). Am ehesten könnten Politiker wie Netanyahu und Lieberman sowie die gesamte israelische Besatzungs-  und Siedlungspolitik der letzten Jahrzehnte dafür verantwortlich gemacht werden, dass Israel allmählich den Status eines Paria-Staats annimmt.

Mehr als gewagt ist es, wenn Sie behaupten, der "Boykott repräsentiert offenkundig im historischen Unbewussten vieler Deutscher nur eine Wiederholung der Geschichte.“ Ist es schon schwierig, das Unbewusste eines Individuums zu eruieren, so noch viel riskanter, das Unbewusste eines ganzen Volkes ans Licht  bringen zu wollen.

Gar nicht im Unbewussten dagegen, sondern ganz bewusst ziehen die Reiseleiter, die israelische Schulklassen nach Polen begleiten, eine Parallele zwischen dem Genozid an den Juden und der Unterdrückung der Palästinenser. In dem Buch des in London lebenden Israeli David Ranan "Ist es noch gut, für unser Land zu sterben? Junge Israelis über ihren Dienst in der Armee" kommt ein 30-jähriger Student zu Wort, der sich an seinen Einsatz bei einer nächtlichen Razzia in Jenin erinnert. (Viele Soldaten in diesem Buch, aber auch in "Breaking the Silence" bezeugen, dass die nächtlichen Hausrazzien, die  auch in dem kürzlich gesendeten Film „Töte zuerst“  gezeigt wurden, nicht der Festnahme von Terroristen dienen, sondern einfach den Zweck haben, die palästinensische Bevölkerung, ob Frauen, Kinder oder Greise, einzuschüchtern). Der Student in David Ranans Buch gibt über seinen Einsatz in Jenin zu Protokoll:

"Du hörst Schreie, achtest aber nicht darauf. Du hörst die Schreie der Frauen und das Weinen der Kinder, aber das geht an dir vorbei, ohne einzudringen. Dafür sorgen Müdigkeit und Zielstrebigkeit und Indoktrination - die langwierige Indoktrination im Glauben an die gerechte Sache und die Polenfahrt, dieses schreckliche Trauma, dieser irre Buckel, den wir auf dem Rücken schleppen. Wir sind hier, um das Blut unserer Großeltern zu rächen - das ist die heutige Bedeutung der Polenfahrt. Wozu führt man Kinder von 16 und 17 Jahren nach Polen? Wir sind hier, um ihr Blut zu rächen, heißt es unter anderem zur Rechtfertigung. Diese Reiseleiter sprechen mit den Schülern über Rache. Der Staat Israel ist zum Teil eine Rache für die Shoah. Das sagen sie den Kindern. Rache und Kontinuität sind die zentralen Themen, über die sie mit den Kindern sprechen. All das bringt dich in ein paar Jahren Militär so weit, dass du das alles tust." (S. 196.)

Hier wird Hass geschürt und instrumentalisiert, indem eine Verbindung von dem Suizid an den Juden zur scheinbar berechtigten Unterdrückung der Palästinenser hergestellt wird.

Sehr geehrter Herr Brumlik, dass Sie am Ende Ihres Artikels Martin Luthers widerliche Schrift gegen die Juden von 1543 bemühen, zeigt nur, dass Sie von den Fakten der israelischen Besatzungs -und Siedlungspolitik ablenken wollen, die doch, „Vorbedingung zu einem begründeten moralischen Urteil und vernünftigen politischen Handeln“ sein müssten, wie Sie selber schreiben.

Ich erlaube mir, den Bericht von unserer taz-Studienreise in das besetzte Westjordanland beizufügen.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Martin Breidert

Beueler Kreuz 1

53604 Bad Honnef

Telefon 02224-9118059