Irak - ISIS Vormarsch
von Sebastian Range
Nach dem Vormarsch der Terrorgruppe „Islamischer Staat im Irak und
Syrien“ (ISIS) – auch als „Islamischer Staat im Irak und der Levante“ (ISIL)
bezeichnet – im Norden des Iraks holt die Armee zum Gegenschlag aus. Irakische
Streitkräfte eroberten nach Berichten des staatlichen Fernsehens die von den
Dschihadisten eingenommene Provinzhauptstadt Tikrit am Donnerstag zurück.
Die Stadt sei „nach gewalttätigen Auseinandersetzungen“ wieder unter
Kontrolle der Armee. Ein Zusammenschluss von Armee- und Polizeikräften habe
bereits über 60 Fahrzeuge der Terrorgruppe zerstört. Auch „tausende
Stammeskämpfer“ seien mobilisiert, die Streitkräfte zu unterstützen. Gemeinsam
werde eine Front im 60 Kilometer nördlich von Bagdad gelegenen Bakuba
errichtet.
ISIS-Kämpfer hatten am Dienstag zunächst die nordirakische
Millionenmetropole Mossul, zweitgrößte Stadt des Landes, nahezu widerstandslos
eingenommen. Dort befindet sich auch die größte Ölraffinerie des Iraks. Im
Verlauf des Mittwochs drangen die ISIS-Truppen dann bis Samara vor, rund 130
Kilometer nördlich von Bagdad. Unterwegs wurden die Regionen Ninive, Anbar und
Salah ad-Din erobert.
In Baidschi, rund 200 Kilometer nördlich von Bagdad, soll ISIS die
Ölraffinerie und das Elektrizitätswerk unter ihre Kontrolle gebracht haben. Vom
Werk wird auch die Hauptstadt Bagdad mit Strom versorgt. Laut dem irakischen
Minister für Wasserressourcen übe die
Terrorgruppe auch die Kontrolle über den Falludschah-Damm am Euphrat aus, der
als einer der wichtigsten Wasserzufuhren für Zentral- und Südirak gilt.
In Mossul flohen nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen binnen
weniger Stunden eine halbe Million Menschen vor den Extremisten. Fast 50
Mitarbeiter des türkischen Konsulats, darunter der Konsul, wurden als Geiseln
genommen. Nach der Eroberung eines Militärstützpunktes befinden sich nun auch
Panzer, Haubitzen, einige Kampfhubschrauber sowie gepanzerte Truppentransporter
in den Händen der Terroristen. Manches Kriegsgerät stammt aus den Arsenalen der
USA.
Nach Berichten des kurdischen Fernsehens erbeuteten die ISIS-Kämpfer in
Mossul zudem 500 Milliarden irakische Dinar (318 Millionen Euro) in der
Zentralbank. Damit wäre die Terrorgruppe finanziell unabhängig, nachdem sie in
den letzten Jahren – neben Einnahmen aus den inzwischen von ihr in Syrien
kontrollierten Regionen – vor allem von saudi-arabischen Sponsoren abhing.
Der irakische Ministerpräsident Nuri al-Maliki schlug die Bildung einer
neuen Brigade aus Soldaten und Zivilisten vor, die gegen die Terroristen
vorgehen soll, wie die Nachrichtenseite Al-Sumaria
News den Ministerpräsidenten zitierte. Auch die unabhängigen
kurdischen Truppen im Norden des Landes, die „Peschmerga“, forderte Al-Maliki
auf, bei der Gegenwehr zu helfen.
Die Bedrohung durch die selbst ernannten Gotteskrieger könnte die alten
Rivalen allmählich zusammenrücken lassen. Bagdad und die kurdischen
Autonomieregion streiten seit Jahren wegen Gebietsansprüchen – zum Beispiel auf
die erdölreiche Stadt Kirkuk, mit ihren knapp eine Million Einwohnern. Die
Stadt steht seit Donnerstag unter vollständiger Kontrolle der Peschmerga,
nachdem sich die irakische Armee zurückgezogen hat.
Ministerpräsident al-Maliki bat die US-Regierung um Unterstützung im
Kampf gegen ISIS und forderte den Einsatz von Drohnen, wie US-Beamte dem Fernsehsender NBC News am Mittwoch
bestätigten. Laut New York Times lehnt
Washington Drohneneinsätze bislang ab. Aber die USA versprachen „im Kampf gegen
die Bedrohung zusätzliche Hilfe“, wie Außenamtssprecherin Jen Psaki mitteilte.
Wie diese Hilfe aussehen soll, sagte sie nicht.
ISIS-Kämpfer kontrollieren seit Jahresbeginn bereits Gebiete der westlichen
Provinz Al-Anbar mit ihren Städten Falludscha und Ramadi. Dort liefern sie sich
immer wieder heftige Gefechte mit Regierungstruppen. Die sunnitisch geprägte
Region war einst Hochburg des Widerstands gegen die US-Besatzer in den Jahren
nach dem Einmarsch der US-Armee. Dort sickerten auch Kämpfer des
Al-Qaida-Netzwerks ein, damals noch als Islamischer Staat im Irak (IAI)
firmierend. Ihre Angriffe richteten sich weniger gegen das US-Militär, als
vielmehr gegen Schiiten, Christen und konkurrierende Widerstandsorganisationen.
Die extrem brutale und sektiererische Gewalt der Terrorgruppe führte
schließlich zum Schulterschluss zwischen den örtlichen sunnitischen Stämmen und
den US-Besatzern. Es bildeten sich sogenannte „Awakening-Councils“
(Erweckungsräte), deren Angehörige zuvor oftmals selbst gegen die US-Armee
gekämpft hatten, und die nun in Kooperation mit dieser gegen die
Al-Qaida-Gruppen vorgingen. Die irakische Regierung brach jedoch 2008 ihr
Versprechen, die Kämpfer in die staatlichen Sicherheitskräfte zu integrieren,
nachdem diese den Einfluss der Terrorgruppe erfolgreich zurückdrängen konnten.
Die mangelnde Fähigkeit der schiitisch dominierten Maliki-Regierung, die
sich von Bagdad benachteiligt fühlende sunnitische Bevölkerung in den Staat zu
integrieren, lieferte den Bodensatz für den Wiederaufstieg Al-Qaidas in einer
Region, in der die staatliche Armee über wenig Rückhalt in der Bevölkerung
verfügt. Entsprechend gering fällt die Motivation der Soldaten aus, sich dort
gegen die ISIS-Kämpfer zu behaupten.
Die Provinz Anbar diente der Organisation als Sprungbrett nach Syrien,
von hier aus drangen ihre Kämpfer entlang des Euphrat in das Nachbarland ein.
Und damit begann erst der kometenhafte Aufstieg der Terrorgruppe. Im Zuge der
Bemühungen, Syriens Präsidenten Assad zu stürzen, konnten die sunnitischen
Dschihadisten auf die Unterstützung verschiedener Länder der Region bauen.
Traditionell eng sind die Verbindungen zu Saudi-Arabien. Der Golfmonarchie geht
es vor allem um eine Schwächung des schiitischen Irans, weshalb sie
Aufständische in Syrien und Irak, beides Partner Teherans, unterstützt. (1) Zu
den Unterstützern der islamistischen Kämpfer zählt auch die Türkei, deren
Grenzregion zu Syrien die wichtigste Nachschubroute an Kämpfern und Waffen für
die Dschihadisten bildet. Diese nutzen die Türkei auch als Rückzugsraum nach
Angriffen, ihre Verwundeten werden in türkischen Krankenhäusern behandelt. Die
Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wirft der Türkei daher vor,
Kriegsverbrechen in Syrien zu unterstützen. (2)
Diese Unterstützung könnte sich nun nachhaltig für die türkische
Regierung rächen. Die Türkei unterhält enge wirtschaftliche Beziehungen zum
ölreichen Nordirak. Das nun von ISIS eroberte türkische Konsul in Mosul gilt
als heimliche Regierung der Region. Saudi-Arabien dürfte die Entwicklung
hingegen mit einer gewissen Genugtuung beobachten, stößt es dem Königreich doch
sauer auf, dass es in jüngster Zeit zu einer Annäherung zwischen der Türkei und
dem verhassten Iran gekommen ist. Der Erdoğan-Regierung dämmert es
langsam, dass die Kosten für das Projekt „Regime-Change“ im arabischen
Nachbarland deutlich höher ausfallen könnten, als der Nutzen. Das gilt auch für
das Königshaus in Riad, das zukünftig große Probleme damit haben wird, der
„Hunde“ Herr zu werden, die sie von der
Leine gelassen hat. Denn den ISIS-Kämpfern sind die saudischen Herrscher wegen
ihrer Kooperation mit den USA beinahe ebenso verhasst wie die „ungläubigen“
Schiiten, Alawiten und Christen.
Anmerkungen
(1) Siehe: http://www.hintergrund.de/201307042664/politik/welt/gewollte-spaltung.html
(2) Siehe:
http://www.spiegel.de/politik/ausland/human-rights-watch-tuerkei-unterstuetzt-in-syrien-kriegsverbrechen-a-927332.html