Gaza und die Israel-Lüge
Anis Hamadeh, 20.11.2012
Kein Land würde einen Beschuss der
eigenen Bürger von außerhalb der Grenzen hinnehmen, sagte US-Präsident Obama
vor seiner Reise nach Birma, und hielt damit seine schützende Hand über Israels
andauernden Angriff auf den abgeriegelten Gazastreifen, bei dem schon mehr als
hundert Bewohner getötet wurden. Die meisten Medien und Politiker in den USA,
in Westeuropa und anderen Ländern halten sich an die traditionelle These, nach
der sich Israel verteidigt. Das Problem mit dieser These ist, dass sie
unhaltbar ist.
Es ist zu offensichtlich, dass im Nahen Osten eine der stärksten und modernsten
Armeen der Welt mit großer Gewalt auf eine weitgehend unbewaffnete Bevölkerung
eindrischt, die sie vorher selbst eingesperrt und ihrer legitimen Rechte
beraubt hat. Die meisten Zuschauer verstehen ohne Schwierigkeiten, dass die
israelische Praxis der so genannten "gezielten Tötungen" eskalierend
wirkt, ebenso wie die Blockade des Gazastreifens, die Erweiterungen der
illegalen Siedlungen und der Land raubenden Mauer, der Wasserdiebstahl, die
Razzien und Hausabrisse, die Schikanen und immer wieder das doppelte Maß. Es
ist überdeutlich, dass es hier nicht um zwei Konfliktparteien geht, die man mit
dem Begriff "beide Seiten" fassen kann. Vielmehr steht eine auf
Gewalt bauende Macht, die international jenseits konsequenter Kritik und
faktisch über dem Recht steht, am längeren Hebel. Obamas Kommentar ist also
scheinheilig und lässt ihn lächerlich erscheinen.
Dass sich Israel stets verteidigt, ist ein Mythos. Bereits die Gründung des
Staates war bei Licht betrachtet ein aggressiver Akt, weil sie unilateral und
ohne Übereinkunft geschah, weil sie auf einem weitaus größeren Gebiet
ausgeführt wurde als die entsprechende UN-Resolution es vorsah und weil sie in
Zusammenhang mit den brutalen ethnischen Vertreibungen stand, die bereits ein
knappes halbes Jahr unter dem Namen "Plan D" im Gange waren. Die
Darstellung, nach der das arme Israel sofort von den bösen Nachbarstaaten angegriffen
wurde, kaum dass es das Licht der Welt erblickt hat, ist nicht mehr schlüssig,
wenn man die ganze Geschichte erzählt ...
1948 wurde zum Präzedenzfall, denn die Verantwortlichen in Israel konnten ja
sehen, dass sie straffrei entkamen. Was also sollte sie davon abhalten, noch
mehr Land zu nehmen und noch mehr Einheimische zu marginalisieren? Besonders
dann, wenn man dabei in der Rolle des Starken sein Trauma immer wieder
durchspielen konnte, wie eine Wunde, die man gebannt immer wieder aufkratzte.
Es gab und gibt nämlich Hunderte von israelischen (und nicht nur israelischen)
Zitaten aus allen Bereichen des Lebens, in denen
Palästinensern/Arabern/Muslimen die Rolle des Nazis zugewiesen wird. Manchmal
in Form von Erinnerungen, die wieder hochkommen, mal durch Vergleiche, auch
Gleichsetzungen, und latent in eigentlich jeder pro-zionistischen
Argumentation.
In Deutschland wird gern die historische Verantwortung gegenüber den Juden ins
Feld geführt, um die Israel-Lüge zu übertönen oder von ihr abzulenken. Da
werden munter Juden und Israelis gleichgesetzt, ja der Staat Israel wird oft
genug mit dem Judentum als Gesamterscheinung vermischt. So wird die Diskussion
über einen Boykott der illegalen Siedlungen mit "Kauft nicht beim
Juden" verglichen und anderer Unsinn. SPD-Chef Sigmar Gabriel schrieb nach
seinem diesjährigen Palästina-Besuch in einem Entschuldigungsschreiben (er
hatte zuvor Israel kritisiert), dass er künftig enger mit dem Zentralrat der
Juden in Deutschland zusammenarbeiten werde. Zwischen den Zeilen konnte man
lesen, dass er in den nächsten Jahren das Thema Palästina nicht mehr aufgreifen
wird, da es seiner Karriere schadet. Karriere gilt uns offenbar mehr als
Glaubwürdigkeit und Würde ganz allgemein. Der Zentralrat ist im Schatten des
Tabus zu einer einflussreichen außerparlamentarischen Macht geworden.
Es muss eine Stimmung der Angst und der Wortlosigkeit in vielen Redaktionen und
Konferenzräumen herrschen, denn kaum jemand möchte riskieren, sich dem
Antisemitismusvorwurf auszusetzen und diesen ganzen Ärger am eigenen Leib zu
erleben, wie ihn Gabriel erlebt hat, oder Grass, die Veranstalter der
Nakba-Wanderausstellung, Westerwelle damals, Möllemann, Karsli, Dierkes, Watzal
und andere Journalisten, die Bandbreite und andere Musiker und Künstler, einige
Campus-Gruppen und so weiter, die Liste ist verdammt lang. Dass dieses
Schweigen nur mit einem massiven Glaubwürdigkeitsverlust möglich ist, wird
vielen Beteiligten bewusst sein. Dabei ist zu bedenken, dass jemand, der
erfolgreich einen Antisemitismusvorwurf ausgesprochen hat, sozial aufsteigt und
an Macht gewinnt.
Dass wir heute einer weiteren schauerlichen Bluttat (medial) beiwohnen müssen
war abzusehen, nachdem der Pogrom von Gaza 1 folgenlos blieb. Ja, wir können
weitere Eskalationen und Militär-Exzesse mit poetischen Namen erwarten, die mit
Hilfe der Schlüsselbegriffe "Existenzrecht" und
"Antisemitismus"eingeleitetwerden.
In den USA diskutiert man bereits seit August über die Nahost-Politik nach
Israel. "Preparing For A Post Israel Middle East" heißt eine 82-seitige
Analyse der US Intelligence Community, der 16 US-Geheimdienste angehören, die
Army, Navy, Air Force und andere staatstragende Institutionen. Israels Weg
führt in die Selbstzerstörung, das ahnen sogar die Amerikaner.
Dies sind keine Szenarios, die man sich in Deutschland oder sonst wo wünschen
kann, vor allem all die Toten. Doch unsere traditionellen Nahost-Mantras führen
genau dort hin und helfen, den Weg zu ebnen. Es ist notwendig, über das
Rassismus-Problem in Israel zu sprechen und über den Unterschied zwischen
Angriff und Verteidigung. Wie viele Menschenopfer soll das Tabu noch bekommen?
Anis Hamadeh ist freiberuflicher Künstler, Islamwissenschaftler und
Publizist: www.anis-online.de