Die Osterweiterung der Nato war kein Vertragsbruch, aber ein Wortbruch

von Armin Siebert am 17.8.2019

Zu DDR-Zeiten war Helmut Domke, ähnlich wie die Bundeskanzlerin, Physiker und hat sich in der kirchlichen Friedensarbeit engagiert. Nach der Wende wurde er ins letzte DDR-Außenministerium berufen und hat international die Wiedervereinigung mitverhandelt. Die Freundschaft zu Russland hat ihn nie losgelassen, wie Domke im Sputnik-Interview erzählt.

Herr Domke, Sie sind Physiker und waren zu DDR-Zeiten in der Kirche engagiert. Bei dieser Kombination muss ich sofort an Frau Merkel denken. Kannten Sie die Kanzlerin zu DDR-Zeiten?

Ich wusste von ihr, weil unsere Väter Kollegen waren. Ich wusste auch, dass sie Physik studiert hat in Leipzig. Zu einer persönlichen Begegnung kam es aber erst nach der Wende im Zusammenhang mit der De-Maiziere-Regierung und dann in Moskau bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen.

Wo waren Sie am Abend des 9. Novembers 1989? 

Da saß ich an meinem Schreibtisch in Potsdam. Ich habe die Pressekonferenz von Schabowski gesehen und dachte, ok, dann kann ich also jetzt bei Gelegenheit einen Antrag auf Besuch im Westen stellen. Das war ja Donnerstagabend, und Freitag hatte ich sowieso keine Zeit, weil ich da eine Sitzung der Konferenz der Kirchenleitungen hatte. Dann bekam ich um halb zwölf nachts einen Anruf aus Freiburg im Breisgau von einem Bekannten aus Kirchenkreisen im Westen, der völlig aufgelöst und den Tränen nahe war und mir erzählte: Die Leute tanzen auf der Mauer rum. Ich bin dann erst am Freitagabend nach der Sitzung über die Oberbaumbrücke in den Westteil gegangen.

Sie wurden dann bei den freien DDR-Wahlen im März 1990 als Staatssekretär ins Außenministerium gewählt und waren später Delegationsleiter der DDR bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen. Wie war das, plötzlich auf internationaler Ebene tätig zu sein, mit den ehemaligen „Klassenfeinden“, aber auch mit der Sowjetunion über die deutsche Einheit zu verhandeln?  

Die Berufung ins Außenministerium war schon eine erhebliche Überraschung für mich. Das hatte den Vorlauf, dass ich schon viele Jahre im Rahmen der kirchlichen Friedensarbeit mit Markus Meckel (DDR-Außenminister der Regierung de Maiziere 1990 – Anm. d. Red.) bekannt war. Und der gab mir dann als Resort die Fragen internationaler Organisationen, also Warschauer Pakt, UN, KSZE...

Sie sprachen Englisch und Russisch – sicher auch ein Vorteil damals?

Ja. Und mein erster großer internationaler Einsatz war der politische beratende Ausschuss als das oberste Gremium des Warschauer Pakts. Und da sah Gorbatschow dann plötzlich im Vergleich zu der vorherigen Sitzung so ein dreiviertel Jahr vorher eine völlig andere Runde im Präsidentenhotel in Moskau. Damals waren ja noch Leute wie Ceaușescu (Nicolae Ceaușescu, Staatspräsident Rumäniens von 1965 bis 1989 – Anm. d. Red.) dabei und jetzt plötzlich Vaclav Havel (von 1989 bis 2003 Staatspräsident der Tschechoslowakei und später der Tschechischen Republik – Anm. d. Red.) und de Maiziere. Das war schon sehr spannend.

Wie wichtig war Gorbatschow für die deutsche Einheit?

Extrem wichtig. Und bis Ende Mai/Anfang Juni 1990 war ja noch nicht klar, ob die Sowjetunion einer Nato-Zugehörigkeit eines vereinten Deutschlands einwilligen würde. Gorbatschow berichtete auch auf dieser Sitzung des Warschauer Paktes Anfang Juni über seine Gespräche darüber mit Bush (George Bush, von 1989 bis 1993 Präsident der Vereinigten Staaten – Anm. d. Red.), die er kurz zuvor in Helsinki geführt hatte. Und da deutete er an, dass die vorher doch sehr harte Position der Sowjetunion in dieser Frage nicht gehalten wird.  

Die Sowjetsoldaten sind friedlich abgezogen, die Nato ist vorgerückt bis an die russische Grenze. Hätten Sie damit gerechnet vor dreißig Jahren?

Nein, auf keinen Fall. Es gab ja damals auch noch den Warschauer Pakt.

Wir beim DDR-Außenministerium hatten die Vorstellung, dass es anstelle des Warschauer Paktes und der Nato ein neues integratives Sicherheitssystem in Europa geben sollte.

 Die Sicherheitsarchitektur in Europa sollte von der deutschen Einheit profitieren. 

Sie konnten sich aber nicht durchsetzen mit Ihren Vorstellungen?

Nein. Wobei es natürlich Entwicklungen gab. Die USA zogen einen Großteil ihrer taktischen Atomwaffen aus der Bundesrepublik ab.

 Der Abzug der sowjetischen Streitkräfte stand auf der Tagesordnung.

Die Nato erklärte mit der Londoner Erklärung Anfang Juli 1990, sie hätte keinen Feind mehr.

Daran könnte sich die Nato heute ruhig mal wieder erinnern.

Das waren alles Schritte der Vertrauensbildung und auch Brücken für die Sowjetunion, dass sie der Nato-Mitgliedschaft (!!) des vereinten Deutschlands eher zustimmen konnte. Im Zwei-plus-Vier-Vertrag wurde dem dann noch Rechnung getragen durch den Punkt, dass keine ausländischen Truppen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stationiert werden dürfen. Damit war das Thema für alle Beteiligten erst einmal erledigt. Denn die Option, dass osteuropäische Staaten der Nato beitreten würden, stand noch nicht auf der Tagesordnung.

Aber es gab ja zumindest die mündlichen Aussagen von Genscher (Hans-Dietrich Genscher, von 1982 bis 1992 Außenminister der Bundesrepublik – Anm. d. Red.) und Baker (James Baker, von 1989 bis 1992 Außenminister der Vereinigten Staaten – Anm. d. Red.) in Moskau, auf die man sich verlassen hatte. Die Osterweiterung der Nato war also kein Vertragsbruch, aber ein Wortbruch. Das wirkt für die osteuropäische Mentalität manchmal schwerer als ein formeller Vertragsbruch.

Nach der deutschen Einheit waren Sie für den Abzug der sowjetischen bzw. russischen Streitkräfte von dem Gebiet der ehemaligen DDR zuständig. Was waren dabei die größten Herausforderungen? 

Wir waren daran interessiert, dass das in einem guten Geist verläuft. Wir wussten 1990 noch nicht, dass die Sowjetunion so schnell zusammenbrechen würde, aber der wirtschaftliche Niedergang war natürlich mit den Händen zu greifen. Entsprechend wussten wir, dass der Abzug für die 380.000 Soldaten und Offiziere und etwa 200.000 Familienangehörigen, darunter übrigens 67.000 Schüler, vorbereitet werden musste. Aus russischer Sicht ist dieser Abzug zu einer stärkeren sozialen Belastung geworden, als das vorhersehbar war. Es gab zwar für sie in der Sowjetunion die Vereinbarung, im Rahmen des Abzugvertrages etwa 76.000 Wohnungen zu bauen, wobei die Sowjetunion die Hälfte der Kosten tragen sollte, wozu sie aber nicht mehr in der Lage war. Das war also äußerst schwierig. So ist es auch heute noch für mich erstaunlich, dass der Abzugsplan wie ein Uhrwerk lief, obwohl es nach einem Jahr einen Putsch in Moskau gab, die Sowjetunion aufgelöst und 1993 noch einmal das Weiße Haus in Moskau beschossen wurde.  

Es gab in der DDR die „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“, kurz DSF. Die hatte 1988 6,4 Millionen Mitglieder. Gab es wirklich so viele Sowjetfreunde in der DDR?

Es gab schon viele Sowjetfreunde. Wobei natürlich nicht jedes DSF-Mitglied ein aktiver Promoter der deutsch-sowjetischen Freundschaft war. Aber es gab die Freundschaftszüge, es gab viele Kontakte zwischen Schulen, Brieffreundschaften und auch in den Russen-Magazinen (in der DDR die umgangssprachliche Bezeichnung für Verkaufseinrichtungen der Sowjetstreitkräfte - Anm. d. Red.) der Sowjet-Garnisonen haben die Bürger ganz gern eingekauft, weil es da manches gab, was es so im freien Handel nicht gab. Es wurde auch nicht ganz legal mit Benzin gehandelt mit den Soldaten. So entwickelten sich auch freundschaftliche oder zumindest materielle Kontakte.

Nach der Wende haben sich die Millionen Freunde der Sowjetunion in der DDR schnell verflüchtigt. Die DSF wurde aufgelöst. Ein Teil des Vermögens ging an die „Stiftung West-Östliche Begegnungen“, deren Vorstandsvorsitzender Sie 13 Jahre lang waren. Welche Rolle spielte für Sie persönlich die Sowjetunion und wie sehen Sie die DSF und ihre Nachfolger im Rückblick? 

Nach meinen Erfahrungen schon vom Studium in Leningrad und später in den Funktionen, die ich dann hatte, sah ich mich schon in einer gewissen Pflicht. Die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft hatte natürlich nach dem Fall der Mauer einen erheblichen Mitgliederschwund. Eine Massenorganisation war dann ja auch nicht mehr möglich. Es gab aber immer noch viele aktive Freunde der Sowjetunion, die regionale Freundschaftsorganisationen gründeten und dafür auch Startkapital aus dem Vermögen der DSF bekamen. Nach einem Tauziehen bis 1994 wurde entschieden, dass mit dem Rest des Vermögens, etwa 30 Millionen D-Mark, eine Stiftung gegründet wurde, um zivilgesellschaftliche Kontakte zwischen Deutschland und dem postsowjetischen Raum zu unterstützen. Und das haben wir dann auch gemacht.

Man hört jetzt wieder verstärkt, dass die Ostdeutschen ein besonderes Verhältnis zu Russland haben. Was ist nach der Wende geblieben von der Freundschaft zu Russland?

Ich denke schon, dass da etwas dran ist, wie ja auch die Umfragen beweisen. Schon der Abzug der Sowjetsoldaten sollte ein Beitrag werden für dauerhaftere Beziehungen. Sie sollten in Würde abziehen. Die Sowjetsoldaten in der DDR taten einem ja auch leid. Da war ein ziemlich hartes Regime. Die freuten sich, wenn sie mal bei der Kartoffel- oder Zwiebelernte helfen konnten, und so kam man in Kontakt. Oder andersherum haben Tausende junge Leute aus der DDR an der Baikal-Amur-Magistrale (kurz BAM, 3819 Kilometer langer Teilabschnitt der Transsibirischen Eisenbahn, von 1974 bis 1984 unter Mithilfe anderer sozialistischer Staaten gebaut – Anm. d. Red.) mitgearbeitet. Die kamen mit meist positiven Gefühlen und manchmal sogar mit einer Ehefrau wieder. Es wurde nicht alles verherrlicht, aber was die Menschen anbetraf, war doch eine Sympathie da, die bis heute wirkt, denke ich.

Helmut Domke (76) war von 1966 bis 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Astrophysikalischen Observatorium Potsdam der Akademie der Wissenschaften. 1972 wurde er an der Mechanisch-Mathematischen Fakultät der Universität Leningrad promoviert und habilitiert. Parallel engagierte sich Domke in der Synode der Evangelischen Kirchen in der DDR sowie in der kirchlichen Friedensarbeit.

Im Zuge der Regierungsbildung nach den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 wurde Helmut Domke zum Staatssekretär im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten ernannt. In dieser Funktion war er Delegationsleiter der DDR bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen. Nach der deutschen Einheit arbeitete Domke von 1990 bis 1994 als Bevollmächtigter des Ministerpräsidenten von Brandenburg für Fragen des Abzugs der sowjetischen/russischen Streitkräfte.
Seit ihrer Gründung 1994 engagiert sich Domke in der Stiftung West-Östliche Begegnungen, deren Vorstandsvorsitzender er von 2004 bis 2017 war.

Quelle: https://de.sputniknews.com/interviews/20190817325615977-nato-osterweiterung-nach-ddr-zusammenbruch/?utm_source=de_newsletter_links&utm_medium=email