Mag sein, dass ich bau in der Luft meine Schlösser. Mag sein, dass mein Gott ist im ganzen nicht da. Im Traum ist mir heller, im Traum ist mir besser, im Traum ist der Himmel noch blauer als blau. Mag sein, dass ich werd’ mein Ziel nicht erreichen. Mag sein, dass mein Schiff wird nicht kommen zum
Steg. S’geht mir nicht darum, ich soll was erreichen. S’geht mir um den Gang auf einem sonnigen Weg.
Josef
Papiernikoff, 1924
Reuven Moskovitz – Jerusalem Garden, Nr.721,
Postfach 3686 , 96100 Jerusalem,
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Jerusalem,
Liebe
Freundinnen und Freunde,
diesen
Brief schreibe ich am Tag des Holocausts oder, wie wir auf Hebräisch sagen, der
Shoah. Als dieser Tag eingeführt wurde, wagte kaum jemand, daran zu glauben,
dass Israel in den kommenden 70 Jahren die militärische Supermacht im Nahen
Osten und einer der reichsten Staaten der Welt werden würde.
Schon in
den sechziger Jahren machte sich Levi Eschkol, einer der sympathischsten
Ministerpräsidenten unseres Landes, über Israel lustig, weil, wie er sagte,
Israel als Herkules den armseligen und ohnmächtigen Samson spiele. Heute kann
Israel mit Hilfe der aus Deutschland gelieferten U-Boote, die es mit atomaren
Sprengköpfen ausgestattet hat bzw. ausstatten kann, jede Ecke der Welt unter
Beschuss nehmen. Die viel gefürchtete siegreiche israelische Armee heißt immer
noch "Verteidigungsarmee", obwohl das Land den letzten Verteidigungskrieg
nach der Invasion fünf arabischer Staaten im Jahre 1948 führte.
Auch der
Reporter der Zeitung Jedi'ot Acharonot,
Nahum Barnea, erwähnt seinem Buch "Israel schießt und weint", dass
man weiter den Bedrohten, den nur sich selbst verteidigenden Staat spiele.
Dieser Titel weist auch auf die Art und Weise hin, in der der Tag der Shoah zur
Zeit begangen wird.
Neu ist
allerdings, dass es immer mehr empörte Stimmen gibt, die endlich wahrgenommen
haben, dass die israelische Bevölkerung unaufhörlich in Angst versetzt wird.
Schon der berühmte israelische Schriftsteller David Grossmann sagte anlässlich
der Ermordung Itzak Rabins, dass wir Israelis Opfer unserer Ängste seien. Seit
der Staatgründung, beginnend mit Ben Gurion, wurde diese Angst manipuliert und
ist zum hervorragend funktionierenden Bestandteil unseres politischen Systems
geworden. Seitdem ich vor 65 Jahren in dieses Land kam, frage ich mich, ob wir nicht durch die permanenten Hinweise auf die
Bedrohung diese im Sinne einer self-fulfilling prophecy selbst geschaffen
haben.
Der
berühmte Philosoph und Schriftsteller George Santayana hat den Satz geprägt:
"Wer nicht aus der Geschichte lernt, ist gezwungen, sie zu
wiederholen." Jedes Jahr gedenken wir am Tag der Shoah der schrecklichen
nationalsozialistischen Vergangenheit und vergegenwärtigen uns dieses Inferno
noch einmal für 24 Stunden. Damit soll selbstverständlich auch auf die Gefahren
der Zukunft hingewiesen werden. Die Frage ist jedoch nicht so sehr, ob
wir etwas aus der Geschichte gelernt haben, sondern was wir aus der
Geschichte gelernt haben. Und wir haben gelernt, dass wir wehrhaft sein müssen,
damit uns dasselbe Schicksal nicht noch einmal widerfährt, aber wir haben
daraus nicht die Schlussfolgerung gezogen, dass wir Gerechtigkeit, Selbstbestimmung
und eine menschliche Behandlung auch anderen Völkern zugestehen müssen. Es gab
in der jüdischen Geschichte schon einmal zwei Staaten, die durch die Hybris der
Gewalt und die Ignorierung des prophetischen Geistes und der Bescheidenheit
untergegangen sind.
"Wirklich,
ich lebe in finsteren Zeiten" stellte Bertold Brecht in seinem Gedicht
"An die Nachgeborenen" fest, und mir stellt sich die Frage, was das
eigentlich für Zeiten sind, in denen sorgenvolle Äußerungen über Israels
Politik und Zukunft als Antisemitismus angeprangert werden. Ich muss gestehen,
dass ich oft über das Paradox nachgedacht habe, dass es ohne den Holocaust wohl
keinen Staat Israel gegeben hätte, aber diese schreckliche Tatsache berechtigt
uns nicht dazu, in einer Weise zu handeln, die weder demokratisch noch
zivilisiert noch rechtschaffen ist.
In den
vergangenen 40 Jahren habe ich oft mit dem Gedanken gespielt, wie Émile Zola in
seinem Brief an den französischen Präsidenten ein "J'accuse" hören zu
lassen. Da ich nicht die literarischen Fähigkeiten eines Zola habe, habe ich
davon Abstand genommen. Nun, in meinen letzten Lebensjahren, möchte ich es
dennoch wagen:
Ich
klage alle israelischen Regierungen mit Ausnahme der nur zwei Jahre währenden
Regierung von Moshe Sharett an, sich von dem jüdischen Geist entfernt zu haben, der in
dem Satz "Denn die Wege der Thora sind sanftmütig und alle ihre Pfade sind
Frieden." zum Ausdruck kommt. Man hat von Frieden gesprochen, aber Kriege
geführt. Man hat den Plan zur Aufteilung des Landes zwischen Juden und
Palästinensern akzeptiert, aber alles getan, um einen palästinensischen Staat
zu verhindern. In der Bibel sagt Abraham zu seinem Neffen Lot: "Es soll
kein Streit zwischen uns sein […]. Wir sind doch Brüder, und das Land ist groß
genug! Das beste ist, wir trennen uns." (Genesis 13, 8-9) Diese
abrahamitische Botschaft haben wir uns leider nicht zu eigen gemacht, wie wir
überhaupt Äußerungen der jüdischen Propheten aus den Augen verloren haben.
Ich
klage die arabischen Politiker an, die bis zu Sadats Besuch in Israel im Jahre 1977 voller
Blindheit und Hass versuchten, die Juden zu verunsichern und ihnen die
Anerkennung zu verweigern. Jeder, der meine Briefe und mein Buch liest, weiß
wohl, wie sehr ich unter dem Leiden und der Herzlosigkeit leide, mit der die
Palästinenser behandelt werden. Dennoch zeigen sich auch bei ihnen gefährliche
nationalistische Züge, die in Ihrer pauschalen Verurteilung des Zionismus zum
Ausdruck kommen. Die Ablehnung der Besatzung und der Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts
für Palästinenser durch viele - auch neu gebildete - Gruppen der
(zionistischen) Friedensbewegung wird nicht zur Kenntnis genommen. Man kann
versuchen, dies zu verstehen, aber man kann es nicht rechtfertigen. Die
Entwicklung, die sich auf Grund von Fehlern auf beiden Seiten ergeben hat, kann
nicht ungeschehen gemacht werden, aber man könnte versuchen, Tatsachen zu
schaffen, die uns näher zueinander bringen und uns ein friedliches
Nebeneinander ermöglichen.
Mit einem
Zitat aus meinem Buch "Der lange Weg zum Frieden" möchte ich diese
Idee konkretisieren: "Der jetzt hergestellte Zustand, bei dem mein Volk
drei Viertel des Landes zwischen Mittelmeer und Jordan in Anspruch nimmt, das
palästinensische Volk aber nur ein Viertel, kann nur ein temporärer Zustand
sein, der die Weichen für einen langen Weg des friedlichen Zusammenlebens
stellt. Ich würde mir wünschen, dass er in einer Konföderation endet, in der
Palästinenser und Israelis in allen Teilen Palästinas leben können."
Ich
klage die demokratische und angeblich friedliebende Welt an, die 65 Jahre lang zugeschaut
hat, wie alle Beschlüsse in Bezug auf die Zwei-Staaten-Lösung unentwegt und
rücksichtslos mit Füßen getreten wurden.
Ich
klage dieses Deutschland an, das sich in den letzten 60 Jahren reflexartig auf die Seite einer
israelischen Politik gestellt hat, die den Palästinensern Selbstbestimmung und
Freiheit verweigert.
Ich rufe alle wohlmeinenden
Deutschen auf, trotz verständlicher Posttraumata nicht den Fehler zu machen,
jegliche Kritik an der israelischen Politik als Antisemitismus abzutun. Dieser
Fehler spielt nur den wirklichen Antisemiten in die Hände!
In Kürze
wird es eine neue Trauerzeremonie in Israel geben, nämlich den "Tag der
Erinnerung an die Gefallenen" in den verschiedenen Kriegen und
kriegerischen Auseinandersetzungen vor und nach der Staatgründung. Es ist
herzzerreißend, dass so viele Menschen auf dem Altar des falschen Glaubens
geopfert wurden, eines Glaubens, der nicht einen jüdischen Staat in Palästina,
sondern Palästina als jüdischen Staat anstrebt.
Herzlichst
Reuven