Berichte vom Klassenkampf

von Arnold Schölzel

 

Unter der Überschrift »Hier herrscht Klassenkampf« veröffentlicht Die Zeit am 5. Januar in ihrem Wirtschaftsteil eine Reportage von Caterina Lobenstein. Untertitel: »In der Arbeiterstadt Bitterfeld ist die AfD stärkste Partei. Ihre Wähler haben nicht nur mit Flüchtlingen ein Problem, sondern auch mit dem Kapitalismus«. Im Feuilleton derselben Ausgabe berichtet Christoph Dieckmann unter dem Titel »Abbau Ost«: »Eine der reichsten Kulturlandschaften Europas zerfällt: In Sachsen werden Tausende Baudenkmale abgerissen«. Am 6. Januar heißt es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) in der Schlagzeile zu einer Reportage von Stefan Locke über eine Jahreshauptversammlung ehemaliger Bergleute zwei Tage zuvor im sächsischen Borna: »Die Wunden des Umbruchs«. Und weiter: »Die Wut, die viele im Osten empfinden und für die Pegida und AfD zum Ventil werden, hat auch mit Kränkungen der Nachwendezeit zu tun. Langsam beginnt die Aufarbeitung«.

 Zumindest einige der Bewohner des Beitrittsgebiets haben, zeigen die drei Texte, nach 25 Jahren des Duckens vor »Unrechtsregime«- oder »Alles Spitzel und Nazis«-Gebrülls die Nase voll. Der FAZ-Korrespondent beschreibt z. B., dass einem im Jahr 2000 pensionierten Bergmann der DDR-Kohleverarbeitung eine Zusatzrente in Höhe von rund 350 Euro vorenthalten wird. Für die hatten er und seine Kollegen in der DDR Beiträge entrichtet, aber der Einigungsvertrag von 1990 sieht vor, dass dieser Zuschlag nur denen ausbezahlt wird, die bis zum 31. Dezember 1996 in Rente gehen. Bis dahin seien Ost- und Westrenten angeglichen und alle Bergleute erhielten den auch im Westen gezahlten Zuschlag. Das Problem: Die DDR-Kohleverarbeiter wurden nicht mehr als Bergleute anerkannt. Den 400 noch Lebenden allein aus einem Werk schrieb jüngst ein aus Westdeutschland stammender Richter ins Urteil: Beitragszahler aus den alten Ländern müssten »nicht noch auf Jahrzehnte hinaus Leistungen erbringen«.

 Beispiel Bitterfeld: Mit mehr als 200 Millionen Euro Steuermitteln wurde in früheren Tagebaulöchern der See Goitzsche geschaffen. Vor drei Jahren aber verkaufte die Kommune große Teile an die Firma »Blausee«. Die habe sich auf die »Privatisierung von Landschaften spezialisiert«, berichtet die Zeit-Autorin: »Sie gehört den Erben des Pharmaunternehmers und Multimilliardärs Adolf Merckle.« Lobenstein zitiert den 2016 direkt in den Landtag von Sachsen-Anhalt gewählten örtlichen AfD-Abgeordneten mit: »Die da oben, das sind die, die die Goitzsche kriegen.« Im AfD-Wahlkreisflyer taucht das Wort »Flüchtling«, so Lobenstein, »kein einziges Mal« auf: »Statt dessen geht es um benachteiligte Rentner, um Kürzungen bei der Feuerwehr, um Arbeiterviertel, die abgerissen, und Schulen, die geschlossen werden.« Und die Autorin spricht mit einer Frau, die wie ihre 700 Kolleginnen und Kollegen täglich zwei Tonnen stinkende Altkleider in einer Recyclingfirma sortiert, Einkommen »knapp über dem Mindestlohn«. Sie erlebt Flüchtlinge als Konkurrenten um den prekären Job. Die würden z. B. für Gänge zum Sozialamt oder zur Ausländerbehörde freigestellt, während sie nie Behörden in der Arbeitszeit aufsuchen durfte. Ihr Fazit: »Kohl hat uns verarscht, und Merkel hat vergessen, wo sie herkommt.«

Wer sehen wollte, konnte verordnete Armut seit dem DDR-Anschluss stets wahrnehmen. Zur Zeit profitiert die AfD, weil u. a. regierungsgeile Linke wie alle anderen Etablierten auch nach 27 Jahren Anschluss das »Unrechtsregime« für die Zustände verantwortlich machen, die Merkels und Merckles aber selten oder nie nennen. Das Antisoziale machen jene »antinationalen« Tortenwerfertrupps, die in der Linkspartei als parteiinterne Kolonne in Stellung gebracht werden, zur Richtschnur. Wer aber vom Klassenkampf nicht mehr reden will, erlebt, dass das Zeit, FAZ und AfD übernehmen.

 

Quelle: http://www.jungewelt.de/2017/01-07/066.php 07.01.2017 / Wochenendbeilage /