Zwei Völker - ein Land. Eine
biblische Vision für Frieden zwischen Israel
Bischof Hans-Jürgen Abromeit | 8. August 2019
Vortrag im Seminar der 124. Blankenburger
Allianzkonferenz, 1. August 2019 von Bischof Hans-Jürgen Abromeit, Greifswald
Seit Jahrzehnten kommt der Nahe Osten nicht zur Ruhe.
Seit der Gründung des Staates Israel 1948 gab es sechs Kriege zwischen Israel
und seinen Nachbarstaaten, und bis heute fordern die Auseinandersetzungen
zwischen Israelis und Palästinensern immer wieder Tote und Verletzte. Es gibt
kaum eine Familie sowohl auf der Seite der Israelis als auch auf der Seite der
Palästinenser, die nicht Mitglieder in diesem Konflikt verloren hat. Dadurch
ist die Kluft, die die beiden Völker in diesem Land trennt, kaum übewvindbar.
Als Christ lese ich die Bibel auch mit der Frage, was
unsere Heilige Schrift zu einem möglichen Frieden beitragen kann. Was sagt der
Tanach, die hebräische Bibel und unser Altes Testament dazu? Gibt es im Neuen
Testament Aussagen, die zum Thema beitragen? Fördern diese Texte den Frieden,
oder verhindern sie ihn gar? Gibt es Hoffnung auf ein friedliches Miteinander
von Israelis und Palästinensern, von Juden, Christen und Moslems? Ich meine,
dass es Hinweise zu einer biblischen Vision für Frieden zwischen Israel und
Palästina gibt. Bevor wir jedoch dazu kommen, möchte ich versuchen, in diesem
Vortrag über die Hintergründe des Konfliktes zu informieren, die
unter-schiedlichen Narrative von Israelis und Palästinensern zu verstehen, und
zeigen, wie auch wir als Christen und als Deutsche in diesen Konflikt
verwickelt sind.
In der Regel ist es so, dass wir in Deutschland in der
Regel wenig über die differenzierten Hintergründe des Israel-Palästina-Konfliktes
wissen. Das hält die meisten aber nicht davon ab, eine feste Meinung dazu zu
haben und feste Standpunkte einzunehmen. Ich versuche täglich dazu zu lernen,
einen möglichst neutralen Standpunkt einzunehmen und Verständnis für die
berechtigten Sichtweisen beider Seiten aufzubringen. Aber was sind berechtigte
Sichtweisen?
Das Bild ist unglaublich komplex. Hinter jedem
Erlebnis stehen geschichtliche Vorgänge, ohne die die Gegenwart gerade in
Israel und Palästina nicht verstanden werden kann. Ich werde mich bemühen
zumindest den wichtigsten Teil dieser Hintergründe zu erläutern, damit deutlich
wird, was heute im Land der Bibel geschieht.
I. Zur Genese des
Konfliktes
1. Der Nahostkonflikt begann in Europa
Die Ursachen des Konfliktes liegen nicht nur in Israel
und Palästina, auch nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in Europa und
Deutschland, ja auch in Kirche und Theologie. Auch wenn wir heute gern vom
jüdisch-christlichen Erbe reden, so gibt es doch eine lange Geschichte der
Entfremdung von Juden und Christen. Bis zum frühen Mittelalter waren die Juden
in den verschiedenen Ländern Europas noch überwiegend geduldet, doch im Laufe
des Hochmittelalters kam es bald zu scharfen Trennungen, zu Pogromen und
Ausweisungen. Nach und nach wurden die Juden aus den Territorien des Heiligen
Römischen Reiches Deutscher Nation vertrieben, so etwa 1492 aus Pommern und
Mecklenburg. Im Unterschied zur Mehrheit der christlichen Bevölkerung war das
Leben der Juden des Mittelalters und der Frühen Neuzeit damit von großer
Unsicherheit und daraus folgend von Mobilität geprägt. Die christliche
Mehrheitsbevölkerung ließ die jüdische Minderheit nicht zur Ruhe kommen.
Weithin blieben deswegen Juden in Europa heimatlos. Diese Jahrhunderte währende
Geschichte des Versagens der christlichen Mehrheitsgesellschaft muss man vor
Augen haben, wenn man über den Nahostkonflikt nachdenkt. Weil die politischen
Vorformen dessen, was heute Deutschland ist, nicht in der Lage waren, jüdischen
Mitbürgern eine volle Integration zu ermöglichen, ist die sog. „Judenfrage"
erst zu dem Problem geworden, als das es die Juden im 19. Jahrhundert zu Recht
empfunden haben.
2. Der Geburtsfehler des Zionismus (Theodor Herzl –
Martin Buber - Benjamin Netanjahu)
Nach Europa gehört auch die Entstehung des Zionismus,
den Theodor Herzl (1860-1904) mit seinem Buch: „Der Judenstaat - Versuch einer
modernen Lösung der Judenfrage" (1896) maßgeblich beeinflusst hat. Herzl
verstand das Judentum als Volk und wollte dem heimatlosen Volk ein Heimatland
geben. Herzl und der frühen zionistischen Bewegung ging es nicht um die
Gründung eines religiös geprägten Gottesstaates. Er war säkular ausgerichtet
und hatte homogene Siedlungsgebiete vor Augen, wie dies die Europäischen Nationalbewegungen
auch zu erreichen suchten.
Im Lande Palästina hatte die faszinierende
Aufbauarbeit der zionistischen Siedler in den Städten und in den Kibbuzim, den
sozialistischen Gemeinschaftssiedlungen, zugleich die Kehrseite, dass sie die
ansässige arabische Bevölkerung nicht als gleichberechtigt ansahen und darum
auch keine Begegnung mit den früheren Bewohnern des Landes suchten, sondern
jüdische Parallelgesellschaften bildeten.
Ein anderer Teil der jüdischen Tradition führte Martin
Buber(1878-1965), den großen jüdischen Bibelwissenschaftler und Philosophen, zu
einer völlig anderen politischen Position. Er wollte keinen separaten
Judenstaat, sondern hatte die Vision eines binationalen Staates, eines Landes
mit zwei Völkern, die beide gleichberechtigt miteinander leben, Handel treiben
und die Zukunft gestalten sollten (Vgl. Martin Buber, Ein Land und zwei Völker.
Zur jüdisch-arabischen Frage, hg. V. Paul R. Mendes-Fiohr, Frankfurt 1983).
Es war ein Geburtsfehler des Zionismus, dass er nicht
diese Tradition aufnahm, sondern stattdessen sich für einen jüdischen
Nationalstaat entschied und gleichzeitig behauptete, das jüdische Gemeinwesen
könne in einem im wesentlichen ungenutzten Landstrich aufgebaut werden. Der
frühe Zionismus formulierte dazu ein griffiges Schlagwort: „Ein Land ohne Volk
für ein Volk ohne Land."
Blickt man auf die Bevölkerungszahlen, dann stellt
sich schnell heraus, dass dies nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Mitte
des 19. Jahrhunderts lebten im Gebiet des heutigen Israel-Palästina etwa
500.000 Araber und 17.000 Juden, die jüdische Bevölkerung machte also etwa 3, 5
% aus. Die ersten genau belegten Zahlen haben wir erst aufgrund des ersten
Zensus der britischen Mandatsregierung von 1922. Danach sind von 757.182
Einwohnern 78 % Muslime, 11 % Juden und 9,6 % Christen. Durch mehrere
Einwanderungswellen, die besonders auf Grund der Shoah-Flüchtlinge aus Europa
anschwollen, wuchs die Zahl der Juden bis zur Ausrufung des Staates Israel auf
ca. 650.000 Personen an und machte damit rund ein Drittel der Bevölkerung aus.
Wie stark jedoch die Legende von dem „Land ohne Volk
für ein Volk ohne Land" bis heute verfängt und politische Wirkung
entfaltet, illustriert eine Begegnung von der die Frau König Husseins von
Jordanien berichtet. Am Rande des Treffens mit Benjamin Netanjahu, dem
damaligen und heutigen Ministerpräsidenten Israels mit König Hussein von
Jordanien und dem Palästinenserführer Jassir Arafat auf Einladung des
amerikanischen Präsidenten Bill Clinton im Oktober 1996 in Washington trafen sich
auch Frau Netanjahu und die Frau von König Hussein, die gebürtige Amerikanerin
Königin Noor. Bei dieser Begegnung drückte die Königin ihre Enttäuschung
darüber aus, dass die Ge-sprächsatmosphäre zwischen Israelis und Arabern von so
vielen Legenden und Propaganda geprägt sei. Als Beispiel nannte sie die
Beschreibung Palästinas durch den Zionismus. Es würde nicht anerkannt, dass
seit Jahrtausenden Araber in diesem Land lebten und ihre Heimat hatten, sondern
als ein „Land ohne Menschen für Menschenmohne Land". Königin Noor
beschreibt die aufgebrachte Reaktion von Frau Netanjahu in ihrem Buch wie
folgt: „,Was meinen Sie damit?', sagte sie (Frau Netanjahu, H.-J.A.). ‚Als die
Juden in diese Region kamen, gab es hier keine Araber. Sie kamen, um Arbeit zu
suchen, als wir die Städte bauten. Davor gab es hier gar nichts.'"
(Königin Noor, im Geist der Versöhnung. Mein Leben zwischen zwei Weiten,
List-Taschenbuch, Berlin2004, 427.) Wenn selbst die Frau des aktuellen
israelischen Regierungschefs dieser Legende erliegt, wird verständlich, wie
schwer die Suche nach einer friedlichen Lösung des Konflikts ist, die beiden
Seiten ihr Recht lässt.
3. Die britische Mandatszeit 1919-1948
Im Ersten Weltkrieg stand das Osmanische Reich, zu dem
auch das Heilige Land gehörte, auf der Seite des deutschen Kaiserreichs und
Österreich-Ungarns. Während des Krieges versuchten vor allem die Briten,
gleichzeitig die jüdische Bevölkerung an sich zu binden und die arabische
Bevölkerung zum Aufstand gegen die Osmanen zu bewegen. Sie machten beiden
Seiten Versprechungen für den Fall, dass mit einem Sieg die osmanische
Herrschaft endete. Diese ambivalente Politik versprach gleichzeitig eine
„nationale Heimstätte für Juden" und einen arabisch-palästinensischen
Staat. Auch wenn dieses Versprechen an die Juden mit der so genannten
Balfour-Erklärung von1917 nicht zwingend einen souveränen jüdischen Staat
verlangt, so provoziert diese unscharfe Formulierung doch eine solche
Auslegung. Zumindest hat die jüdische Seite die Rede von der „nationale
Heimstätte für Juden" so verstanden.
Einerseits wollte Großbritanniens über die Heiligen
Stätten herrschen, andererseits ließen sich die Interessen der ursprünglichen
arabischen Bevölkerung und der wachsenden jüdischen Gemeinschaft nicht in
gleicher Weise wahren. Während an einigen Stellen Juden und Araber friedlich
zusammenlebten, entwickelten sich doch weiterhin zunehmend separate
Gemeinwesen. Bald kam es auch zu ersten Massakern auf beiden Seiten. Juden wie
Araber bildeten geheime Armeen und Terrorgruppen, die sich gegen die jeweils
andere Volksgruppe und gegen die britische Herrschaft richteten.
Nachdem im Juli 1938 auf der Konferenz von Evian (Eine
französische Gemeinde am Südufer des Genfer Sees, in der sich vom 6. bis 15.
Juli 1938 Vertretervon 32 Staaten trafen, um über Aufnahmequoten für jüdische
Flüchtlinge zu verhandeln. Die Konferenzendete ohne Ergebnis.) viele Staaten es
ablehnten, Juden als Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen so Schutz vor der
nationalsozialistischen Judenverfolgung zu bieten, kamen während des Zweiten
Weltkrieges noch einmal viele Juden nach Palästina. Nach Ende des Krieges
folgte eine weitere Einwanderungswelle von Shoah-Überlebenden. Die britische
Regierung sah sich nicht mehr in der Lage, die Situation zu kontrollieren und
einer Lösung zuzuführen und beschloss deswegen zum 15. Mai 1948 den Abzug ihrer
Truppen. Insgesamt hatte dieser Kampf um europäischen Einfluss die Interessen
der ein-heimischen Bevölkerung missachtet.
4. Der jüdisch-arabische Krieg 1948/49 und die
Staatsgründung Israels
Bereits vor dem Abzug der Briten kommt es zum
Bürgerkrieg zwischen Juden und Arabern. Als David Ben Gurion am 14. Mai 1948
den Staat Israel als jüdischen Staat ausruft, rücken einen Tag später die
Armeen der arabischen Nachbarländer Ägypten, Irak, Libanon, Transjordanien und
Syrien gegen den neuen Staat vor. Die Arabische Liga drohte mit der Ausrottung
der israelischen Juden.
Die Vermittlungsversuche der neu gegründeten Vereinten
Nationen scheiterten, die Teilungspläne fanden nie die Akzeptanz beider Seiten.
Eine Folge des Krieges war das bis heute im Konflikt zentrale Problem der über
700.000 palästinensischen Flüchtlinge, die in den Nachbarländern, dem
Gazastreifen oder dem Westjordanland in Lagern unterkamen. Dass auch nach über
60 Jahren außer Jordanien bis heute kein arabisches Land die Flüchtlinge zu
integrieren versucht, ist ein Skandal. Viele leben noch heute unter
Slum-ähnlichen Bedingungen in Lagern und fordern für sich und ihre inzwischen
etwa 4 Millionen Nachkommen ein Rückkehrrecht in das alte Palästina. An der
Frage der Flüchtlingsrückkehr ist bisher jeder Versuch einer Friedenslösung
gescheitert. Zugleich zeigt sich, dass offensichtlich auch die arabischen
Nachbarn nicht daran interessiert sind, den Konflikt einer friedlichen Lösung
zuzuführen.
Eine neue Generation israelischer Historiker stellt
sich inzwischen offen gegen die in israelischen Geschichtsbüchern vertretene
Version, dass die Araber - von den Nachbarstaaten angelockt - freiwillig
ausgewandert seien. Sie konnten belegen, dass viele Araber seit April 1948
wegen gezielter Anschläge auf ihre Wohngebiete flüchteten. Die alten arabischen
Dörfer wurden aus kriegsstrategischen oder aus Siedlungsgründen dem Erdboden
gleich gemacht. An dieser gezielten Vertreibungspolitik macht der Historiker llan
Pappe die „ethnische Säuberung" (Vgl. Ilan Pappe, Die ethnische Säuberung
Palästinas, Frankfurt am Main 2007) Palästinas durch Israel fest. Der Begriff
der Naqba („Katastophe") bezieht sich genau auf diese Erfahrung. Für den
palästinensischen Narrativ (Ein Narrativ ist eine sinnstiftende Erzählung, die
Einfluss hat auf die Art, wie die Umwelt wahrgenommen wird. Es transportiert
Werte und Emotionen, ist in der Regel auf einen Kulturkreis bezogen und
unterliegt dem zeitlichen Wandel.) spielt er eine ebenso große Rolle wie die
Shoa für Israel.
Gewaltakte gegen alteingesessene jüdische
Gemeinschaften in den arabischen Ländern infolge des Krieges führten dazu, dass
über 850.000 arabische Juden fliehen mussten, von denen etwa 550.000 nach
Israel kamen.
5. Der Sechs-Tage-Krieg 1967
1967 überfiel Israel einem arabischen Angriff
zuvorkommend Ägypten, zerstörte in diesem Überraschungsangriff beinahe dessen
ganze Luftwaffe und begann so einen Krieg mit den arabischen Nachbarländern.
Als Ergebnis dieses präventiven Angriffskrieges eroberte Israel das
Westjordanland, den Gazastreifen und die Sinaihalbinsel und den Golan. Während
der Sinai durch Friedensvertrag 1980 wieder Ägypten übergeben wurde, dauerte
die Besatzung des Gazastreifens bis August 2005 38 Jahre, und die bis heute
andauernde Abriegelung des Gazastreifens durch Israel verhindert nicht nur den
Aufbau einer Infrastruktur, sondern auch die Entwicklung einer
palästinensischen Zivilgesell-schaft. Die Besatzung des Westjordanlandes dauert
seit nunmehr 52 Jahren in unterschiedlicher Härte an. Das bedeutet, dass die
übergroße Mehrheit der Bewohner der besetzten Palästinenser-gebiete unter
israelischer Besatzung geboren ist und niemals etwas anderes als Unterdrückung
erlebt hat. Das ist eine schwere Bürde für die Entwicklung
zivilgesellschaftlicher Strukturen und palästinensischer Eigenverantwortung. Im
Grunde haben wir es mit einer traumatisierten Gesell-schaft zu tun.
6. Das Osloer Friedensabkommen 1994
Unter den zahlreichen Initiativen zum Frieden in
diesem Konflikt war das Osloer Abkommen von 1993 bis 1995 das hoffnungsvollste.
Die Spitzenrepräsentanten beider Seiten waren der israelische Premierminister
Jitzchak Rabin und der Palästinenserführer Jassir Arafat. Sie beschlossen den
schrittweisen Abzug der israelischen Armee aus großen Teilen des
Westjordanlandes und aus dem Gazastreifen sowie eine palästinensische
Selbstverwaltung in diesen Gebieten. Die Palästinensische Autonomiebehörde
wurde aufgebaut, eine Polizeitruppe gegründet und das Westjordanland in drei Zonen
unterteilt: eine Zone unter palästinensischer Zivil- und Sicherheitsverwaltung
(A-Zone),eine unter palästinensischer Zivil- und israelischer
Sicherheitsverwaltung (B-Zone) und eine unter israelischer Zivil- und
Sicherheitsverwaltung (C-Zone). Andere zentrale Probleme wie die Frage nach dem
Status von Jerusalem und nach den palästinensischen Flüchtlingen blieben
ausgeklammert. Die Idee war, durch schrittweise Übertragung von staatlicher
Autorität Vertrauen aufzubauen, so dass am Ende eines Friedenprozesses eine
Selbstverwaltung, vielleicht sogar ein eigener palästinensischer Staat für die
Palästinenser stehen könnte. Hier hat die sogenannte Zwei-Staaten-Lösung ihren
Ursprung. Ohne Friedensprozess wird es nie zu einem Palästinenserstaat an der
Seite Israels kommen können. Ins Stocken kam der Friedensprozess durch die
Ermordung von Jitzchak Rabin durch Jigal Amir, einen jüdischen Extremisten, am
4. November 1995. Außerdem gelang es den Palästinensern unter Jassir Arafat in
der Folge nicht, eine funktionierende Administration aufzubauen und sich zu
einer Zustimmung zu dem in Weiterentwicklung des Oslo-Friedensprozesses von den
Israelis gemachten weitgehenden Angebot durch zu ringen.
Seitdem hat sich die Situation wieder erheblich
verschlechtert und verschlechtert sich permanent. Die politischen Verhältnisse
in Israel haben sich weit nach rechts verschoben, Ariel Sharons Besuch des
Tempelberges im Jahr 2000 hat die Al-Aqsa-lntifada ausgelöst und Israel sah
sich aufgrund der Selbstmordattentäter gezwungen, einen wirkungsvollen Schutz
gegen Terroristen zu bauen. Diese Sperranlage, insgesamt 759 km lang, wird über
etwa 700 km als ein schwer gesicherter Stacheldrahtzaun ausgeführt und im
restlichen Teil als eine bis zu 8 Meter hohe Mauer gebaut. Dadurch ist das Westjordanland
in ein riesiges Gefängnis verwandelt worden.
Wir haben nun die Entstehung des
lsrael-Palästina-Konfliktes vor Augen und es ist jedem Beobachter klar, dass
auf diesem Hintergrund Aussöhnung der streitenden Parteien und der Aufbau einer
Friedensordnung sehr schwer sein muss. Es treten aber noch einige Gründe hinzu,
die Frieden in Israel-Palästina fast unmöglich sein erscheinen lassen. Wir
werfen einen Blick auf weitere Belastungen, die zu den Verletzungen durch den
Geschichtsverlauf noch hinzutreten.
II. Ist Frieden möglich?
1. Im Israel-Palästina-Konflikt begegnet uns der
europäische Nationalismus
Im 19. Jahrhundert kamen in Europa die die europäische
Geschichte mehr als ein Jahrhundert lang prägenden Nationalismen auf. Die
Französische Revolution war das Fanal zu einer tiefgreifenden Umgestaltung der
Gesellschaft, dessen Folgen bis in die Gegenwart nachhallen. Nachdem den alten
Monarchien buchstäblich der Kopf abgeschlagen wurde, brauchte es eine neue
Idee, ein neues Konzept auf dem die Staatengebilde ruhen konnten. Im Zeitalter
der aufkommenden Religionskritik und des in Konfessionen gespalteten Europas
erwartete man nicht von der Religion die einigende Kraft, sondern von der Idee
der Nation. Es war eine Zeit großer gesellschaftlicher Umwälzungen. Überall kam
Bewegung in verkrustete Strukturen. Die Idee eines Nationalstaates war gerade
für Deutschland revolutionär und versprach die Lösung vieler politischer
Probleme. Seine Grenzen waren unscharf umrissen, sein Territorium glich nach
innen einem Flickenteppich zahlreicher politischer unterschiedlicher Einheiten,
von Königreichen, Herzogtümern und Stadtstaaten.
Von einem Nationalstaat versprach sich auch das
liberale Judentum die Möglichkeit, selbst gleichberechtigter Teil der Nation
sein zu können. Das war im alten Europa mit seiner ständischen Ordnung
undenkbar gewesen. Die reale Entstehung der Deutschen Nation spaltete das
Judentum. Denn anstelle eines säkularen Nationalstaates, in dem die jüdische
Bevölkerung selbstverständlich Teil gewesen wäre, entstanden ein
preußisch-protestantisch dominiertes Deutsches Kaiserreich und eine
österreichisch-katholisch geprägte Donaumonarchie. Ein Teil des jüdischen
Bürgertums suchte die Integration in diese nationalstaatlich geprägten
Monarchien, ein anderer Teil suchte neue Wege. Der Zionismus entstand
maßgeblich durch das Judentum des Kaiserreichs und Österreich-Ungarns mit dem
Ziel der Gründung eines eigenen Nationalstaates. Unter dem Dach der Nation
gewann ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine weitere Entwicklung Bedeutung:
das Entstehen der völkischen Bewegung. Das Volk und die Nation wurden
gleichgesetzt und damit das Ideal einer monoethnischen Nation ausgegeben. Ein
solcher Nationalstaat habe das Ziel, ethnisch homogene Siedlungsgebiete
herzustellen. Die dazu angewandte Methode waren häufig genug so genannte
„Ethnische Säuberungen".
2. Das Erbe kolonialistischer Machtpolitik
Der Erste Weltkrieg hinterließ in Europa und dem Nahen
Osten einen Scherbenhaufen der Nationen. Allerorten wurden neue Grenzen
gezogen, so auch im alten Osmanischen Reich. Dabei gingen u.a. England und
Frankreich in alter kolonialistischer Manier vor und teilten den Nahen Osten
nach machtpolitischen Interessen auf. Das Sykes-Picot-Abkommen von 1916
dokumentiert, wie Grenzen. mit dem Lineal gezogen wurden, aber nicht unter
Berücksichtigung der unterschiedlichen Völkerschaften und religiösen Gruppen, die
in diesen Gebieten heimisch waren. Das große Kurdistan, die Aufspaltung des
Islam in Sunniten und Schiiten, Wohngebiete der christlichen Minderheiten –
alles das wurde von Frankreich und England so gut wie nicht berücksichtigt. In
dieser unbedachten Grenzziehung liegen zahlreiche Konflikte begründet.
3. Der Staat Israel als Sekundärfolge der Shoa
Ein weiterer - im direkten Wortsinn - Stolperstein für
den Frieden im Nahen Osten liegt vor unserer Haustür in Deutschland. Jedes Mal,
wenn ich in die Altstadt von Greifswald gehe, komme ich keine 200 Meter vom
Bischofshaus entfernt an zwei „Stolpersteinen" vorbei. In der
Robert-Blum-Straße Hausnummer 11 erinnern zwei Messingplaketten im Boden an
Paula Sichel und Alice Weidmann, die im Alter von 62 und 74 Jahren nach
Theresienstadt deportiert und wenig später dort auch ermordet worden sind.
Zwei ältere Damen aus der Nachbarschaft, die einfach
verschwinden. Was mögen die Nachbarn gedacht haben? In Greifswald, in ganz
Deutschland. Wir treffen auf millionenfaches Schweigen, weil jeder Einzelne
Angst hatte, sich in Gefahr zu bringen. Doch ohne dieses Schweigen hätten die
Nazis ihre Verbrechen nicht ausführen können. Ein Beleg dafür ist das sog.
„Euthanasieprogramm", mit dem die Nazis geistig behinderte Menschen ermorden
ließen. Sie haben das Programm gestoppt, weil der Münsteraner Kardinal von
Galen die Verbrechen im Gottesdienst öffentlich angeprangert hatte und durch
die Zustimmung vieler Menschen für die Nazis unangreifbar war. Bei den Juden
war das damals anders. Sie hatten keine Lobby, zu wenig Fürsprecher. Zu tief
saß der Antijudaismus in der Bevölkerung. So war das Schweigen der Masse
Zustimmung für die Politik der Nazis. Auch die Kirchen haben geschwiegen,
wollten sich nicht in die Politik des Staates einmischen. Selbst die bekennende
Kirche war still, lediglich Einzelne, wie Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) haben
sich früh geäußert und auch später Widerstand geleistet.
Die „Stolpersteine" werfen in mir die Frage auf:
was hätte ich getan? Und sie geben dem anonymen Grauen ein Gesicht. Es fand
hier statt, in unserer Mitte, in den Straßen, in denen wir heute wohnen. Welche
eine schwere Schuld hat das deutsche Volk mit diesem Kapitel seiner Geschichte
auf sich geladen?! Es hat Jahrzehnte gedauert, dass wir uns dieser Schuld
stellen konnten, und manche tun sich bis heute schwer damit. Die schiere Zahl
der Opfer übersteigt unsere Vorstellungskraft: sechs Millionen ermordeter
Jüdinnen und Juden, das sind so viele Menschen wie Mecklenburg-Vorpommern,
Schleswig-Holstein und Hamburg zusammen Einwohner haben. Menschen, die in
unserer Mitte lebten, denen man auf den täglichen Wegen begegnete, Kinder,
Eltern, Großeltern, Bewohner des Nachbarhauses.
Deswegen finde ich das Kunstprojekt der
„Stolpersteine" von Gunter Demnig so gut und wichtig, weil es uns
aufmerksam macht auf das, was sich in den Häusern abgespielt hat, in denen wir
heute wohnen. Es gehört zu unserem Erbe, dem wir uns stellen müssen, das wir
niemals abschütteln können. Die Shoa macht auf schreckliche Weise deutlich, wozu
Deutsche fähig waren und wozu der Mensch überhaupt fähig ist. Es ist klar, dass
es schwer fällt, auf dem Hintergrund einer solchen Schuldgeschichte nüchtern
die Lage in Israel-Palästina zu analysieren. Als Deutsche erwächst uns aus der
von Deutschland ausgegangenen Judenvernichtung eine Verantwortung für das
Schicksal der Überlebenden der Shoa und die weitere Existenz des jüdischen
Volkes. Natürlich hatte die Shoa auch geschichtliche Auswirkungen in Nahost. Es
sind vor allen Dingen drei Faktoren, die berücksichtigt werden müssen:
1. Nur durch den starken Anstieg der jüdischen
Einwanderung nach Palästina im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts wird eine
jüdische Staatsgründung in Palästina möglich.
2. Die Erfahrung der Judenvernichtung schafft weltweit
eine Bereitschaft zur Anerkennung des am 14. Mai 1948 gegründeten Staates
Israel.
3. Aus dem Schuldbewusstsein der Deutschen folgt eine
Überidentifikation mit dem Staat Israel. Es wird bewusst nicht unterschieden
zwischen dem biblischen Israel und dem heutigen Staat Israel. Repräsentanten
der Bundesrepublik Deutschland gehen soweit, das Eintreten für die Sicherheit
des Staates Israels zur Staatsraison für Deutschland zu erklären. Da sich der
Staat aber als Jüdischer Staat versteht, folgt daraus prinzipiell die
Benachteiligung der Palästinenser und eine Zurücksetzung ihrer berechtigten
Sicherheitsinteressen.
Es ist unglaublich kompliziert, diese Gemengelage aus
Schuld, Verantwortung und Verpflichtung zwei Völkern gegenüber bei einer
Betrachtung des Israel-Palästina-Konfliktes zu berücksichtigen. Man kann
eigentlich nur daran scheitern. Aber unter diesem Komplexitätsniveau geht es
nicht. Dazu tritt ein weiterer Faktor.
4. Die religiöse Aufladung des Landes
Während ansonsten weltweit versucht wird, strikt
zwischen der Sphäre der Religion und der Sphäre der Politik zu unterscheiden,
gilt dies für die Beurteilung der Politik in Israel nicht. Vielfach wird gerade
die Unterscheidung dieser beiden Sphären als Folge der Reformation, als einer
ihrer Errungenschaften für die moderne Welt bezeichnet. Martin Luther hatte ja
grundsätzlich zwei Wirkweisen Gottes in dieser Welt unterschieden. Gott wirkt
in der Welt einerseits durch die Mittel der Politik, zu denen Gewaltanwendung
gehört. Das Gewaltmonopol liegt beim Staat. Die Politiker sind an die Anwendung
der Gebote Gottes im weltlichen Bereich gewiesen und sollen auf diese Weise
Gerechtigkeit und Frieden herstellen. Andererseits wirkt Gott in der Kirche
durch die Verkündigungseines Wortes gewaltlos durch die Veränderung der Herzen.
Die Aufklärung tat dazu das ihre, so dass heute nach moderner Auffassung
weltweit religiöse Argumente allein keine Begründung für Politik sein können,
ja es eine religiöse Begründung für einen bestimmten Staat in einem bestimmten
Territorium eigentlich nicht geben kann. Politik und Theologie haben ihre
eigenen Logiken. Damit ein Argument im politischen Feld überzeugt, muss es auch
ohne Rückgriff auf Offenbarungswahrheiten gelten. Es muss im Rahmen der Politik
ja auch diejenigen überzeugen können und für diejenigen gelten, die der
religiösen Wahrheit nicht zustimmen. Der in Staat und Gesellschaft
herzustellende Konsens für ein gedeihliches Miteinander ist nur mit
vernünftigen Argumenten herzustellen.
Das, was ich hier auf dem Hintergrund der Unterscheidung
- nicht Trennung -von politischem und theologischem Argument ausgeführt habe,
kommt überein mit theologischen Aussagen, die aus dem Neuen Testament gewonnen
werden. Das Neue Testament hebt nämlich die Bindung eines bestimmten Volkes an
ein bestimmtes Land auf. Die im Alten Testament noch breit vertretene
Auffassung, mit der Erwählung Israels verbinde sich auch der Anspruch auf das
Land Israel, findet sich im Neuen Testament nicht, an keiner Stelle. Das kann
kein Zufall sein. im ganzen Neuen Testament gibt es keine positive Gewichtung
der im Alten Testament noch so bedeutsamen Landverheißung. Es kann aus
christlicher Sicht auch deswegen keine religiöse Legitimation für einen
bestimmten Staat geben, auch nicht für den Staat Israel. Auch Israel bedarf einer
Begründung auf der Ebene von Politik und Menschenrechten. Diese auszuführen,
fällt auf dem Hintergrund von immer wiederkehrenden Verfolgungen, dem Recht auf
Heimat und dem Zugehörigkeitsgefühl zu diesem für Israel historisch so
bedeutsamen Stück Land nicht schwer. Über konkrete Grenzziehungen und die
Bevölkerungszu-sammensetzung ist damit aber noch nichts gesagt.
Das Zurücktreten der religiösen Bedeutung des Wohnens
im Lande hängt auch damit zusammen, dass das Neue Testament im Vergleich mit
dem Alten Testament die Verheißungen stärker spiritualisiert. War im Alten
Testament der räumlich-materielle Bezug noch stark, so wird er im Neuen
Testament ganz aufgegeben. Das zeigt sich z.B. in der Stellungnahme, die Jesus
auf die Anfrage der samaritanischen Frau in Johannes 4, 20 abgibt, ob es
richtig wäre, auf dem Garizim (wie die Samaritaner) oder in Jerusalem (wie die
Juden) zu beten: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist
und in der Wahrheit anbeten"(Johannes 4, 24). Obwohl Jesus die Herkunft
des Heils von den Juden betont (4, 22), hat dies für den gegenwärtig
angemessenen Kultort keine Bedeutung. Gott bindet sich nicht an ein bestimmtes
Territorium. Deswegen gibt es auch nicht die Unterscheidung zwischen legitimen
und illegitimen Kultorten.
Land ist Heimat, gibt Raum zum Leben. Jeder Mensch
braucht ein Heimatland. Land bringt aber keine Erlösung. Genau an dieser Stelle
war jüdisches Denken schon immer anders und hat es sich in den letzten 70
Jahren noch weiter vom christlichen Denken geschieden. Der in Israel sehr
wirkungs-mächtige Abraham Isaak (,Rav‘) Kook (1865-1935) wurde zum Vordenker
der Siedlungsbewegung und hat so auch den Kern der Siedler, den sogenannten
Block der Getreuen (Gush Emunim) beeinflusst. Die Grundlage dieser Lehre ist,
dass Gott gemäß der Thora Israel das Land verheißen hat. Sein Sohn Zvi Yehuda
Kook (1891-1982) gründete mit einigen seiner Schüler den Gush Emunim im Februar
1974 und blieb bis zu seinem Tod der unbestrittene Leiter. Nach der Lehre der
beiden, Vater und Sohn, haben die säkularen Zionisten, ohne es zu wollen, ein
messianisches Zeitalter herauf-geführt. Am Ende wird der Messias kommen. Sein
Kommen kann dadurch beschleunigt werden, dass möglichst viel Land durch Juden
besiedelt wird. Darum ist die weitere jüdische Besiedelung des Landes eine
wichtige Aufgabe. Es bringt Israel der Erlösung näher. (Erstaunlicherweise
haben sich einerseits auch christliche Zionisten ein solches Denken zu eigen
gemacht und andererseits findet es sich auch bei Linksprotestanten, wie dem aus
der Barthschule hervorgegangenen früheren Berliner Theologen Friedrich Wilhelm
Marquardt.)
Welche Rolle spielen die Religionen in diesem
Konflikt? Fördern sie den Frieden, oder verhindern sie ihn gar? Schon wenn wir
in der Betrachtung des Konfliktes bis hierhergekommen sind, merken wir, dass
man auf diese Frage keine einfache Antwort geben kann. Es gibt religiöse
Traditionen, die den Konflikt befeuern, es gibt aber auch ebensolche, die ihn
bremsen und ein Beitrag zur Lösung sein könnten.
Ill. Eine biblische
Vision
Wir sind bereits darauf gestoßen, dass es in jeder der
beiden Religionen und ihren Vertretern eine ganze Spannbreite von Einstellungen
gibt, die im Blick auf die die Zuordnung von theologischen zu politischen
Erkenntnissen stark differieren. Ich möchte im Folgenden skizzenartig die
beiden äußeren Pole der jeweiligen religiösen Potentiale benennen und frage
dann nach dem Zukunftspotential dieser Überzeugung.
1. Judentum: Zwischen „Ein Gott, ein Volk, ein
Land" und „den Schwertern zu Pflugscharen"
Bei einem genauen Blick in das Alte Testament ergibt
sich ein differenziertes Bild. Wir finden durchaus widerstreitende
Vorstellungen vom Wohnen im verheißenen Land. Ich nenne nur zwei sehr
unterschiedliche Linien:
1. Die deuteronomische Sicht der Ausrottung alles
Nichtisraelischen: 5. Mose 6+7
Im 5. Buch Mose findet sich unvermittelt nebeneinander
Aussagen, die uns heute irritieren. Direkt neben dem Grundglaubensbekenntnis
Israels, dem Schema (5. Mose6, 4-9), und wunderschönen Beschreibungen der Liebe
Gottes zum Volk Israel (5. Mose 7,7f) finden sich furchtbare Aufforderungen zur
Vernichtung aller Mitbewohner des Landes (s. Mose 7,1-5.22). Wir wissen, wie
wichtig für den Erhalt Israels das Bekenntnis zu dem einen Gott gewesen ist.
Das „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein" (5. Mose
6,4ff) bildete über die Jahrhunderte den schlechthin-nigen Bezugspunkt dessen,
was jüdisch ist. An jedem Eingang eines jüdischen Hauses, soweit es orthodox
ist, ist dieses Bekenntnis in einer kleinen Metallkapsel angebracht. Es
erinnert bei jedem Durchschreiten dieses Einganges an Gott. Auch Jesus hat das
Schema geschätzt. Er hat es als das „höchste Gebot" bezeichnet, wichtiger
als alle Brand- und Schlachtopfer (vgl. Mark. 12,28-32par). Im folgenden Kapitel
wird das Bekenntnis Israels zu Gott begründet in der Erwählung Israels durch
Gott. Hier finden sich wunderschöne Formulierungen, die einen auch heute noch -
2500 Jahre nach dem diese Texte formuliert worden sind - anrühren, weil sie von
einem innigen Verhältnis Gottes zu Israel sprechen: „Denn du bist ein heiliges
Volk dem HERRN, deinem Gott. Dich hat der HERR, dein Gott, er-wählt zum Volk
des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind. Nicht hat euch der HERR
angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker -denn du
bist das kleinste unter allen Völkern -, sondern weil er euch geliebt
hat..."(5. Mose 7,6ff).
In scharfem Kontrast zu diesen Worten der Liebe Gottes
finden wir zu Beginn des Kapitels die Auffor-derung alle anderen Völker, die
Israel im Lande vorfindet, auszurotten, d.h. an ihnen „den Bann zu
vollstrecken"(V. 2). Israel wird von Gott gesegnet werden mit allem Guten,
was das Land hervor-bringt, aber es darf die vorgefundenen Völker nicht
schonen: „Du aber sollst alle Völker vertilgen, die der HERR, dein Gott, dir
geben wird"(V. 16). „Dazu wird der HERR, dein Gott, Angst und Schrecken
unter sie senden, bis umgebracht sein wird, was übrig ist" (V. 20). Diese
Aufforderung zur Tötung aller im Lande vorgefundenen Nichtisraeliten wird
begründet mit der Gefahr, dass eventuell Überlebende der bisherigen Bewohner
die Israeliten zum Abfall vom Glauben an Gott verführen könnten.
Diese Aufforderung zur Gewaltausübung überspielt die
Realität, nach der es nie eine Zeit gegeben hat, in der Israel das Land allein
bewohnt hat. Das Richterbuch stellt das fest (Kap. 1 und 3, 1-6) und kann dem
sogar einen Sinn abgewinnen: Israel soll in der Standfestigkeit seines Glaubens
von Gott geprüft werden (vgl. 2,1-5).Die Idealvorstellung bleibt aber, dass dem
von dem einen Gott erwählten einen Volk das Leben in diesem einen Land
entspricht („ein Gott, ein Volk, ein Land"). Neben dieser deuteronomischen
bis deuteronomistischen Linie im Alten Testament gibt es eine ganz andere Sicht
auf das Zusammenleben mit anderer Völkern im Land, die wir in einigen
prophetischen Texten finden.
2. Die prophetische Linie des gemeinsamen Wohnens im
Lande
Diese Propheten nehmen die Realität im Land anders
wahr und trauen Gott mehr zu. Die Tatsache, dass schon immer verschiedene
Völker miteinander in diesem kleinen Flecken Erde von der Größe der Schweiz
miteinander lebten, wird nun positiv aufgenommen. Die Propheten sehen darin
nichts Negatives, sondern die Chance zu einem Leben in Vielfalt. Dabei
vertrauen sie darauf, dass sich am Ende der gute und friedensbringende Wille
Gottes durchsetzt, auch wenn jetzt andere noch andere Orientierungen haben.
Einen grandiosen und zukunftsweisenden Text finden wir
im Rahmen der großen Endzeitprophetie des Propheten Hesekiel. Am Ende der
Zeiten wird der Anbetungsort Gottes, der Tempel, und das ganze Land erneuert
werden. Dann werden die Menschen Gottes Willen tun und ein Strom des Heils wird
von Jerusalem ausgehen. Zu dieser Endzeitvision gehört auch eine Neuverteilung
des Landes: „Und ihr sollt dies Land austeilen unter die Stämme Israels, und
wenn ihr das Los werft, um das Land unter euch zu teilen, so sollt ihr die
Fremdlinge, die bei euch wohnen und Kinder unter euch zeugen, halten wie die
Einheimischen unter den Israeliten, mit euch sollen sie ihren Erbbesitz
erhalten unter den Stämmen Israels, und ihr sollt auch ihnen ihren Anteil am
Lande geben, jedem bei dem Stamm, bei dem er wohnt, spricht Gott der HERR"
(Hesekiel 47,21-23). Die Nichtisraeliten werden behandelt wie die Israeliten.
Sie erhalten im Heiligen Land Erbbesitz, d.h. den gleichen Anteil und die
gleichen Rechte wie die Israeliten. Dieser Besitz soll ihnen und ihren
Nachkommen gehören. Sie haben also eine sichere Existenz im Land und müssen
sich über die Zukunft nicht sorgen. Das ist eine wunderbare Vision für Frieden
im Lande Israel.
Einen etwas anderen Akzent setzen die prophetischen
Texte aus dem Jesaja- und dem Michabuch, Jesaja 2,1-5 par. Micha 4,1-5, vgl.
bes. V. 5! Hier erwartet der Seher, dass am Ende der Tage die Nachbarvölker
Israels sich gemeinsam mit dem Volk Israel Orientierung von Gott geben lassen.
Vom Zion geht Weisung für Frieden aus. Gott selbst wird dann „richten unter den
Heiden und zurecht-weisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu
Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider
das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg
zu führen"(V. 4). Jerusalem wird dann eine Schule des Friedens für die
ganze Welt.
Ich muss unwillkürlich daran denken, dass mit dem
Aufkommen dieser aus diesen Prophetenworten genommenen Parole „Schwerter zu
Pflugscharen" die gewaltlose Widerstandsbewegung in der
Mir stellt sich die Lage so dar, dass auch im heutigen
Judentum verschiedene Ausrichtungen einander widerstreiten. Dabei wäre es gut,
auch auf die Stimme der Propheten zu hören, die im Miteinander von Israel und
den Völkern im Lande einen verheißungs-vollen Weg in die Zukunft sehen.
2. Christentum: Vom gewaltlosen, armen Mann aus
Nazareth zu den Kreuzzügen
Auch das Christentum hat nicht eine einzige und dann
auch noch friedvolle Geschichte. Leider haben wir Christen die
Friedensbotschaft Jesu selbst über Jahrhunderte nicht ernst genommen. Trotzdem
ist eine Ahnung von der Kraft, die in dieser Botschaft steckt, erhalten
geblieben. Dies ist mir vor zehn Jahren bei einer Begegnung mit dem damaligen
palästinensischen Ministerpräsidenten überraschend deutlich geworden. 2009 war
ich aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der einheimischen lutherischen Kirche
im Heiligen Land. Bischof war zu der Zeit Dr. Munib Younan, auch Präsident des
Lutherischen Weltbundes. Er nahm die ausländischen Bischöfe, die zu Gast waren,
mit zu einer Begegnung mit dem damaligen, palästinensischen Ministerpräsidenten
Dr. Salam Fayyad, einem sog. Technokraten, der keiner der palästinensischen
Parteien angehörte. In dem Gespräch kamen wir auch auf die Rolle der Christen
in dem Konflikt zusprechen, da sagte der Ministerpräsident - selbst Moslem -
sinngemäß: die Rolle der Christen bestehe vor allem darin, zur Gewaltlosigkeit
zu mahnen. Es gebe doch auch in der Bibel diesen Satz von Jesus Christus, dass
man seine Feinde lieben solle. Das sei eine unverzichtbare Botschaft der Christen
in diesem Konflikt. Damit wird uns Christen - denen, die auf der einen Seite
Israels, und denen, die auf der Seite Palästinas leben, und uns Christen im
Ausland eine wichtige Rolle gegeben, die sich aus unserem Bekenntnis zu Jesus
Christus ergibt.
In der Verkündigung des historischen Jesus finden wir
Hinweise darauf, dass er das Prinzip der Gewaltlosigkeit auch in den
politischen Kampf hineinzieht. So heißt es etwa in den Seligpreisungen in
Matthäus 5,5.: „Selig sind die Sanftmütigen/Gewaltlosen, denn sie werden das
Erdreich (Land) besitzen." Jesus ist den Weg der Gerechtigkeit und der
Gewaltlosigkeit gegangen. Bei seinen Jüngern waren Anhänger des gewaltsamen
Aufstandes und der frommen Erwartung, dass Gott schon alles gut machen würde
(Vgl. die Zeloten („Simon Zelotes") und das Schicksal Gamlas!).
Doch Jesus selbst hat eine grundsätzlich friedfertige
Linie nie verlassen. Für ihn stand stets der Schalom Gottes im Zentrum.
Schalom, das meint eine Ausgewogenheit aller Lebensverhältnisse. Im Blick auf
den Umgang mit den Besatzern, den Römern, wollte Jesus keine gewaltsame
Auseinander-setzung. Als er auf seinem letzten Weg nach Jerusalem der Stadt
nahe kommt, muss er weinen im Blick auf die Zerstörungen, die kriegerische
Auseinandersetzungen mit sich bringen und er bedauert, dass es offensichtlich
auf eine gewaltsame Eskalation hinausläuft „Wenn doch auch du heute erkannt
hättest, was dir Frieden bringt! Aber jetzt ist es vor deinen Augen
verborgen"(Lukas 19,42, vgl.41-44). Jesus hat das Ziel des Shalom niemals
aufgegeben. Am Ende hat er diese Ausrichtung mit seinem Leben bezahlt.
Leider ist diese klare Position Jesu von seiner Kirche
an entscheidenden Stellen verlassen worden. Im Blick auf das Heilige Land ist
besonders an die Epoche der Kreuzzüge zu denken. Während für uns diese Zeit
vielleicht nur ein vergangenes Kapitel im Buch der Geschichte ist, ist sie in
Israel-Palästina in ihren Auswirkungen höchst aktuell. Bis heute treffen wir in
steinernen Monumenten und in vielen Köpfen bei Muslimen und Juden im Land auf
die Anwesenheit der Kreuzfahrer. Unvergesslich ist die demagogische Wirkung der
Predigt von Papst Urban II., der 1095 in Clermont zur Befreiung Jerusalems von
der Macht der Muslime aufrief, und dann das Volk mit dem Satz „Gott will
es!" antwortete. Dabei gingen die Kreuzfahrer bei ihrem letztlich
gescheiterten Versuch, einen Gottesstaat im Lande der Bibel aufzurichten,
unglaublich grausam vor. Und obwohl die Aufforderung zur Gewaltanwendung Geist
und Botschaft Jesu fundamental widerspricht, hat sich das Christentum mit
diesem Sündenfall in das Gedächtnis der Geschichte eingegraben.
Am Ende stehen wir vor der Frage: Mit welcher Hoffnung
leben wir? Können und sollen wir etwas tun für einen Frieden in Nahost? Schon
die den Christen zugeschriebene Aufgabe, an Gewaltlosigkeit bei der Suche nach
einem Frieden zwischen Israel und Palästina zu erinnern, ist eine riesengroße
Herausforderung. Leben wir in der Hoffnung auf das in Christus bereits
angebrochene Reich Gottes, das uns im Geschenk des Glaubens bereits jetzt zu
einem Leben herausfordert, das dem Schwachen dient, dem Frieden nachjagt und
die Gerechtigkeit sucht?
Im Dezember 2009 hat eine Gruppe palästinensischer
Christinnen und Christen aus verschiedenen Kirchen einen leidenschaftlichen
Aufruf veröffentlicht, der als „Kairos-Palästina-Dokument" bekannt
geworden ist. Darin heißt es unter vielem anderem: „Liebe ist das Gebot
Christi, unseres Herrn, an uns, und es gilt für Freunde wie für Feinde.[...]
Christus, unser Herr, hat uns ein Beispiel gegeben, dem wir nacheifern müssen.
Wir müssen dem Bösen widerstehen, aber er hat uns auch gelehrt, dass wir dem
Bösen nicht mit Bösem widerstehen sollen. [...] Es ist ein schwieriges Gebot,
aber es muss unbedingt befolgt werden" (Zitiert nach http://www.oikoumene.orcı/de/dokumentation/documents
/other-ecumenicahbodieslkairos-palaestina-dokument.html, S. 9, gefunden am
3.11.2010.) Unter diesem Anspruch können wir in unserem Engagement für einen
Frieden in Nahost nicht bleiben. Ein christlicher Einsatz für den Frieden kann
nur friedliche Wege dahin unterstützen.
Ich bin dankbar für die Position von „Pax
Christi". (Siehe:
http://wwwpaxchristi.de/fi›dfiles/doc/Beschluss%20Unqeteilte%20Solidarit%E4t.2.ndf,
besucht am 3.11.2010.) Die Delegiertenversammlung 2010 der deutschen Sektion
dieser katholischen Friedensbewegung hat in großer Differenziertheit und
Klarheit zum Ausdruck gebracht, dass es in dem Konflikt um einen gerechten
Frieden gehen muss. Darin heißt es: „Heute ist eine Situation der Gewalt
eingetreten, die kaum Hoffnung auf einen gerechten Frieden verspricht. [...]
Kriterien zur Beurteilung einer Politik, die dem Ziel eines gerechten Friedens
dient, sind das Völkerrecht und die Menschenrechte. Von hier aus eröffnen sich
Wege, aus der Sackgasse der Gewalt herauszukommen. [...] Wir sehen das
berechtigte Interesse des Staates Israel an der Sicherheit und Freiheit seiner
Bürger/innen, und wir sehen ebenso das Recht auf Sicherheit und Freiheit der
Palästinenser/innen. Die internationale Staatenge-meinschaft muss beide Seiten mit
dem gleichen Maßstab beurteilen: Gleiches Recht auf Sicherheit,
Selbstbestimmung, Freizügigkeit, gleiche Menschenwürde. Es darf keine doppelten
Standards in der Bewertung der Situation in Israel/Palästina geben."
Dieses Statement markiert, wie unsere christliche
Überzeugung in einen Prozess zur Überwindung des Konfliktes eingebracht werden
kann und muss. Natürlich sind wir realistisch, unsere persönliche Überzeugung
ist wichtig, aber trägt allein nicht viel aus. Umso wichtiger ist es, sich mit
Gleichgesinnten zusammen zu finden, um gemeinsam etwas zu bewegen. Einseitige
Analysen und Stellungnahmen helfen nicht weiter. Aus unserer Geschichte ist uns
als Deutschen eine Verantwortung für die Freiheit und Sicherheit der
Bürgerinnen und Bürger im Staat Israel aufgetragen, aber das darf nicht auf
Kosten der Freiheit und der Sicherheit der Palästinenser und Palästinenserinnen
gehen. Doppelte Standards vertiefen den Konflikt und sind im Blick auf eine
Lösung kontraproduktiv. Wir sollten versuchen, beide Narrative, den der
Israelis und den der Palästinenser zu verstehen. Nachdem beinahe hundert Jahre
kriegerischer Auseinandersetzung zu keiner Lösung geführt haben, werden
vielleicht einzelne bereit, auf bisher marginalisierte Stimmen zu hören, wie
sie z.B. Martin Buber mit seiner Vision von einem binationalen Staat erhoben
hat. Die Mehrheit wird eine solche Stimme für unzeitgemäß halten. Aber wann
sollen wir sie erheben, wenn nicht jetzt? Viel können wir von Deutschland aus
nicht tun. Aber wir können für einen gerechten Frieden beten. Gelegentlich
werden wir um Rat und Hilfe gefragt. Was in unseren Kräften steht, sollten wir
den Weg zu einem gerechten Frieden unterstützen. Ich bedanke mich für Ihre
Aufmerksamkeit!