Vor 74
Jahren hat Hitlerdeutschland den Russlandfeldzugbegonnen
Es ist
Krieg, Mama!
von Rudolf Hänsel
Im Sommer
1941 überfiel das Deutsche Reich die Sowjetunion. Die Bilanz des Schreckens:
13Millionen tote Soldaten, 14 Millionen tote Zivilisten, 3 Millionen tote Kriegsgefangene
(1)
Der
kirgisische Schriftsteller Tschingis Aitmatow beschreibt in seinen Erzählungen
und Novellen wie dieser Krieg über sein Heimatland hereinbrach und das Leben
der Menschen verändert hat. (2)
Nur drei Generationen
später werden schon wieder die Kriegstrommeln geschlagen für einen Krieg gegen
Russland.
Doch wir
können es sagen, es wenn möglich schreiben, es wenn nötig hinausschreien wie
Mutter Tolgonai in „Goldspur der Garben“: „Ich bin damit nicht einverstanden,
mein ganzes Leben bin ich nicht einverstanden damit! Die Menschen können und
müssen dem Krieg Einhalt gebieten.“ (3)
„Das Glück
des Ackerbauern liegt im Säen und Ernten.“
Zu Beginn
der Erzählung „Goldspur der Garben“ beschreibt Tolgonai, Tochter eines
kirgisischen Taglöhners, wie sie als 17jährige bei der Ernte Suwankul, ihren
zukünftigen Ehemann kennenlernte: „Flammend stieg die Sonne auf, die
schneebedeckten Berggipfel erglänzten in goldenem Schimmer, wie ein tiefblauer
Fluss strömte uns aus der Steppe der Wind entgegen. Diese frühen Sommermorgen
waren die Morgenröte unserer Liebe. Die ganze Welt verwandelte sich wie im
Märchen, wenn wir zusammen dahingingen. Und das Feld, grau, zerstampft und
aufgewühlt, wurde zum schönsten
Feld der
Erde.“ (S. 435)
Vom Glück beseelt
fragte sie ihren Liebsten: „Suwan, was glaubst du, wir werden doch glücklich
sein, ja?“
Darauf
antwortete er: „Wenn Land und Wasser gleichmäßig unter alle verteilt werden,
wenn auch wir unser eigenes Feld haben, wenn auch wir pflügen, säen und unser
eigenes Getreide dreschen –dann wird das unser Glück sein. Ein größeres Glück
braucht der Mensch nicht, Tolgonai. Das Glück des Ackerbauern liegt im Säen und
Ernten.“ (S. 436)
Mit ihren
Händen schufen beide ihr Leben. Sie arbeiteten und legten sommers und winters
den Ktmen (eine Art Hacke) nicht aus der Hand: Viel Schweiß haben sie
vergossen, viel Mühe aufgewandt. Sie bauten sich ein Haus und schafften sich
ein paar Stück Vieh an. Sie begannen wie Menschenzu leben. Das Großartigste
aber war, dass ihnen drei Söhne geboren wurden.
Die Zeit
verging und fast unmerklich wuchsen die Söhne heran.
Jeder wählte
seinen eigenen Weg.
„Es ist
Krieg, Mama!“
Im Sommer
1941, an einem Morgen vor Sonnenaufgang, erblickten Tolgonai und die anderen
Bauern beim Mähen auf einem neuen Getreidefeld direkt am Fluss, wie am anderen
Flussufer plötzlich ein Reiter auftauchte. Er kam hinter den letzten Höfen des Ails (kirgisisches Dorf) hervorgeprescht
und jagte im wildem Galopp geradewegs durch Gestrüpp und Schilf, als wäre eine Meute wilder Hunde hinter ihm her. Was
trieb diesen Menschen?
Es war ein
junger Russe.
Er fuchtelte
mit den Armen und rief ihnen etwas zu, aber durch das Getöse des Flusses war nichts
zu verstehen.
Als der
Reiter den reißenden Fluss durchquert hatte und bei einem Mähdrescher ankam,
war plötzlich ein großes Geschrei.
Von allen
Seiten stürzten Menschen dorthin, manche zu Fuß, andere zu Pferd, wieder andere
standen auf ihren Fuhrwerken und hieben mit der Peitsche auf die Pferde ein.
Auch
Tolgonai lief los.„Gott behüte! Gott behüte!“, flehte Tolgonai, im Laufen die
Hände emporgestreckt. Als sie endlich ankam, war der Mähdrescher von einer
lärmenden Menge umringt.
Sie konnte
nichts hören, nichts verstehen. Verzweifelt versuchte sie, sich einen Weg durch
die Menge zu bahnen. Als sie ihren Sohn Kassym neben dem Mähdrescher stehen
sah, streckte sie wie eine Blinde die zitternden Arme nach ihm aus. Der kam auf
sie zu und fing sie auf.
„Es ist
Krieg, Mama!“,
hörte
Tolgonai wie von weitem seine Stimme.
Sie blickte
ihn an, als ob sie nicht begriffe, was das für ein Wort sei. (S. 454)
„Krieg?
Krieg, sagst du?“, fragte die Mutter zurück.
„Ja, Mama,
Krieg ist ausgebrochen“, antwortete er.
Tolgonai aber
kam immer noch nicht klar zu Bewusstsein, was
sich hinter
diesem Wort verbarg und sie fragte: „Wie denn, Krieg?
Warum Krieg?
Krieg, sagst du?“
Sie
wiederholte dieses unheimliche Wort und dann packte sie
jähes
Entsetzen, und sie begann zu weinen nach all der ausgestandenen Angst und der
unerwarteten Nachricht. Auch die umstehenden Frauen fingen an, laut zu jammern
und zu klagen.(S. 454) „
Mit dieser
Minute“, erinnert sichTolgonai, „begann ein neues Leben –das Leben im Krieg.
Wir hörten
nicht den Schlachtenlärm, aber unsere Herzen hörten die Schreie der Menschen.“
(S. 456)
Leben im
Krieg. Ein Mann nach dem anderen bekam vom Boten des Dorfsowjets die Einberufung.
Auch Suwakul und Kassym mussten Abschied nehmen.
Die
Zurückgebliebenen aber arbeiteten weiter:„
Sie
arbeiteten in der Mittagsglut und in den schwülen Trockenwindnächten, bei der
Mahd, beim Drusch, beim Einfahren, sie arbeiteten unentwegt und kannten keinen
Schlaf und keine Ruh. Dabei wurde die Arbeit immer mehr, denn immer weniger
Männer blieben übrig.“ (S.456)
Tolgonai
gürtete sich nun wie ein Mann, wie es ihr der Kolchosvorsitzende gesagt hatte,
setzte sich aufsPferd und kam ihren Pflichten als Brigadier nach: „Gesunde
Männer gab
es nicht mehr in den Ailen, nur nochkranke und lahme, und die übrigen
Arbeitskräfte waren Frauen, Mädchen, Kinder und Greise. (S. 469)Alles, was
geerntet wurde, lieferten sie an die Front ab. Auch die Kinder mussten ran.
Eines Tages kam der Kolchosvorsitzende mit dem Schulleiter in die Klasse und
sagte zu den
Schülern:
„Ich bin zu euch gekommen, Kinder, weil ein paar von euch vorübergehend wegmüssen
von der Schule. Wir dürfen keine Zeit verlieren, müssen die Zugpferde für die
Frühjahrsbestellung vorbereiten, dabei graust einen, sie anzusehen, sie halten
sich kaum noch auf den Beinen. (...) Woher aber die Arbeitskräfte nehmen, auf
wen sich stützen? (...) Uns blieb nichts anders übrig, als euch um Hilfe zu
bitten.“ (4)
Für viele
Jungen begann ein schweres Erwachsenenleben.
Als Tolgonai
eines Abends nach getaner Arbeit nach Hause ritt, erfuhr sie von ihren
Nachbarinnen vor ihrem Haus, dass ihr Mann Suwankul und ihr Sohn Kassym
gefallen sind. Sie schrie auf,dass es über die ganze Straße gellte. Und auf
einmal wurde sie ganz taub: „Wahrscheinlich war ich von meinem Schrei taub
geworden.
Die Straße
wankte, mir war, als fielen die Bäume um und stürzten die Häuser ein. In der
unheimlichen Stille wechselten vor meinen Augen die Wolken am Himmel, vor
mir
erschienen entstellte, stumme Gesichter.“ (S. 484) Ihre Sonne war erloschen.
„Mutter Erde, können die Menschen leben ohne Krieg?“
Nach einiger
Zeit ging Tolgonai in in einem dunklen gesteppten Beschmet (Halbrock) über dem frisch
gewaschenen weißen Kleid und um den Kopf ein weißes Tuch langsam zum Feld
hinaus und sprach lange mit der Mutter Erde:
„Warum,
Mutter Erde, stürzen nicht die Berge ein, warum treten nicht die Seen
über die
Ufer, wenn solche Menschen fallen wie Suwankul und Kassym?
Beide, Vater
und Sohn, waren tüchtige Ackerbauern. Seit Urgedenken lebt die Welt durch
solche Männer, von ihnen wird sie ernährt, von ihnen im Krieg verteidigt, sie
werden als erste Soldat. Wäre der Krieg nicht gewesen, was hätten Suwankul und
Kassym
noch alles
vollbringen können, wie viele Menschen hätten sie mit den Früchten ihrer Arbeit
beschenken, wie viele Felder bestellen und wie viel Korn ausdreschen können.
Und sie selbst,
hundertfach
belohnt mit den Früchten der Arbeit anderer, wie viel
Schönes
hätten sie noch erleben können. Sag mir, Mutter Erde, sag mir die Wahrheit:
Können die Menschen leben ohne Krieg?“
„Eine
schwierige Frage hast du mir da gestellt, Tolgonai. Es gab Völker, die durch
Kriege ausgerottet wurden, es gab Städte, die in Schutt und Asche fielen, und
es gab Jahrhunderte, da ich davon träumte, eine menschliche Spur zu finden. Und
jedes Mal, wenn die Menschen wieder einen Krieg anzettelten, rief ich ihnen zu:
‚Haltet ein, lasst das Blutvergießen!’Und auch jetzt wiederhole ich: ‚Ihr
Menschen hinter den Bergen und Meeren! Ihr Menschen auf der ganzen Welt, was
fehlt euch –Land? Hier bin ich –das Land, die Erde ! Ich bin für euch alle
dieselbe, und für mich seid ihr alle gleich. Nicht euren Hader brauche
ich,sondern eure Freundschaft, eure Arbeit! Werft ein einziges Korn in die
Furche, und ich gebe euch hundert Körner dafür zurück. Steckt ein winziges Reis
in den Boden, und ich ziehe euch eine Plantage groß. Legt einen Garten an, und
ich überschütte euch mit Früchten.
Züchtet
Vieh, und ich werde Gras sein. Baut Häuser, und ich werde Mauer sein. Pflanzt
euch fort, vermehrt euch, und ich werde euch allen eine herrliche Heimstatt
sein. Ich bin
unendlich,
ich bin grenzenlos, ich bin tief, und ich bin hoch, ich habe Platz für euch
alle!’
Und da
fragst du noch, Tolgonai, ob die Menschen ohne Krieg leben können.
Das hängt
nicht von mir ab, das hängt von euch Menschen ab, von eurem Willen und eurem
Verstand.“(S. 489)
„Bedenke
doch, teure Erde, gerade deine besten Arbeiter, deine geschicktesten Meister
mordet der Krieg. Ich bin damit nicht einverstanden, mein ganzes Leben bin ich
nicht einverstanden damit! Die Menschen können und müssen dem Krieg Einhalt
gebieten.“ „Denkst du denn, Tolgonai, ich leide nicht unter den Kriegen? Doch!
Ich leide sehr.
Ich sehne mich
nach den Händen der Bauern, ewig beweine ich meine Kinder, die Ackersleute,
immer werden mir Suwankul, Kassym und alle gefallenen Soldaten fehlen.
Wenn ich
ungepflügt bleibe, das Getreide ungemäht und ungedroschen bleibt, rufe ich sie
(...). Doch sie geben keine Antwort...“