Venezuela, ein Faktencheck der anderen Art
Vorurteile von außen sind bei
Betrachtungen über Venezuela, wie überhaupt, fehl am Platze.
von Günter
Buhlke, Januar 2019
Die gängigen Medien in Deutschland schildern die Lage
in Venezuela fortdauernd als katastrophal. Die realen Ursachen jedoch benennen
sie kaum. In ihrer Darstellung war Chávez ein Phantast und Maduro sei absolut
unfähig, das Land zu regieren.
Für die Medien der westlichen
Industrieländer führen alle gesellschaftlichen Alternativen, die jenseits der
neoliberalen Marktwirtschaft liegen in ein Chaos. Sie und ihre Politiker folgen
dem Konzept der Truman – Doktrin von 1947 (Wikipedia: Containment –
aufhalten/zurückdrängen). Sie stören sich daran, dass Chávez seinem
Regierungsprogramm den Namen "Sozialismus des 21.
Jahrhunderts" gab, nicht so sehr, dass der in Venezuela verhafte
Berliner Journalist Billy Six seine schwerbewaffneten Bewachern freundlich
lächelnd umarmt (Berliner Zeitung, 2.1.2019).
Ja, die Situation in dem rohstoffreichen
Land ist beklagenswert. Rohstoffe allein erzeugen aber keinen Wohlstand. Erst
mit ihren Verarbeitungsstufen werden die Voraussetzungen für regelmäßige
Einnahmen des Staatshaushaltes und der Familien geschaffen. Wichtig vor allem,
auf wessen Rechnung sich die Verarbeitung vollzieht. Im Lande oder im Ausland?
Seit 500 Jahren, das heißt vom Anbeginn
an, fehlte Geld zur eigenständigen Entwicklung in Venezuelas. Karl der V.,
Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und spanischer König,
verfügte als Kolonialherr, dass alle Steuereinnahmen nach Madrid zu senden sind
und er verbot den Handel zwischen seinen Kolonien. Der erste im spanischen
Auftrag vertraglich bestellte Gouverneur in Venezuela war übrigens ein
Deutscher aus dem Augsburger Handels- und Bankhaus der Welser. Gouverneur
Ambrosius Alfinger musste Venezuela wegen ungenügender Erfüllung seines
Vertrages mit dem Kaiser und wegen der Beraubung der Bevölkerung nach 26 Jahren
die Verwaltung des Gebietes aufgeben ("Ureinwohner, Pfahlbauten und
Gründungen des Alfingers", Verlag Fotolitos Garcia y Hijos, 1979).
Nach Ende der Kolonialherrschaft der
Spanier vor 200 Jahren landeten die Ergebnisse des Wertzuwachses aus der
Rohstoffwirtschaft in Tresoren von New York, Madrid und London. Kapital zum
Aufbau von Verarbeitungsindustrien blieb weiterhin nicht in Venezuela. Die
erzwungene Arbeitsteilung zwischen der Rohstoff-Förderung in Venezuela und der
gewinnbringenden Verarbeitung im Ausland, hat sich im Verlauf der Zeit
verfestigt. Der Großhandel, das Bank- und Versicherungsgewerbe verblieben
weiter in den Händen der Ausländer, bis zur Gegenwart.
Ergebnis: Venezuela muss verarbeitete
Erdölprodukte wertmäßig um das Vielfache importieren als die Rohölexporte
einbringen (Quelle: Ministerio del Poder Popular de Petrolio y Mineria).
Sparguthaben als Quelle für Kreditfinanzierungen wurden wegen der relativ
geringeren Zahl der steuerpflichtigen Beschäftigten in Industriebereichen nur
unzureichend gebildet. Vermögende Venezolaner, wie Großagrarier und Partner der
ausländischen Unternehmer haben ihre Gelder überwiegend in den USA angelegt.
Der von Chávez angestrebte Sozialstaat
auf der Grundlage einer repräsentativen Demokratie (Anm. d. Red.: ... auf
der Grundlage einer partizipativen Demokratie. Dieser Unterschied ist
wesentlich für den Chavismus) benötigt finanzielle Mittel für den Aufbau
einer selbsttragenden Wirtschaft mit einer Verarbeitungsindustrie und Schaffung
von Arbeitsplätzen. Die Bildung, das Gesundheitswesen, die
Verkehrsinfrastruktur und die Forschung hatten einen erheblichen Nachholbedarf.
Kredite aus eigenen Quellen standen über Jahrzehnte nur unzureichend für den
Staatshaushalt zur Verfügung. Sie waren im Wesentlichen nur beim
Internationalen Währungsfonds zu erhalten. Meist gegen Auflagen, die Sozialausgaben
zu kürzen und Teile des staatlichen Eigentums zu privatisieren. Außerdem
stuften die US-Ratingagenturen für lateinamerikanische Länder die Zinsen
überwiegend auf "B"- und "C"-Niveau uns belaufen sich somit
bis auf 16 Prozent. Seit den 1970-ziger Jahren herrschte in Lateinamerika das
profitgetriebene Geschäftsmodell der Schuldenfallen, mit ausgeprägten
Profitlogiken, eingebettet im Konzept des Neoliberalismus.
Chávez und Maduro hatten für ihre
sozialbewussten Alternativen schwierige Ausgangsbedingungen. Sie benötigen
gleichgesinnte kompetente Führungskräfte und Verwaltungsangestellte, sowie
ausreichend Zeit für ihre Projekte. Die Regierungen Chávez/Maduro sind seit
1998, d.h. erst seit 20 Jahren im Amt. Konservative Gegenkräfte bremsten die Entwicklung.
Relativ hohe Einnahmen standen Venezuela zwar aus den Rohstoffexporten zur
Verfügung aber nicht ausreichend für die angestrebte Aufgabe. Zuviel ist seit
historischen Zeiten ins Ausland abgeflossen. Aufgrund fehlender
Verarbeitungskapazitäten war der jährliche Importaufwand um ein Vielfaches
höher. Selbst Benzin musste importiert werden. Venezuela hatte keine eigene
Tankerflotte. Die Handels- und Leistungsbilanzen Venezuelas wiesen überwiegend
Negativsalden aus (Statistisches Amt Venezuelas, INE).
Chávez verfolgte eine Konzeption für das
Land. Seine Reformziele wurden nach umfangreichen Konsultationen in dem
Entwicklungskonzept "Schritte für die Periode 2013 bis
2019" detailliert beschrieben (s. Ausgabe
"Keiner kann im Frieden leben, wenn
es dem bösen Nachbarn (und der Opposition) nicht gefällt", lautet ein
deutsches Sprichwort. Der nördliche, die USA, unternehmen große Anstrengungen,
die Entwicklung in Venezuela mit Sanktionen, Boykotten und Medienaufwand
zurückzudrängen. Uncle Sam greift auf seine Interventionserfahrungen in
Lateinamerika zurück. (Nikaragua, Kuba, Guatemala, Chile u.a.). Die OAS und die
LIMA Gruppe werden mobilisiert und die US–Administration sieht ihre Sicherheit
durch Venezuela bedroht. Das erlaubt schärfere Aktionsmöglichkeiten (z.B.
Decreto ejecutivo – Declaracion de Emergencia Nacional con respecto a
Venezuela). Präsident Trump glaubt, ein militärisches Eingreifen in Venezuela
sei, neben den bereits verhängten Sanktionen, eine mögliche Option.
Die zerstrittene venezolanische
Opposition versuchte mit Straßen-Krawallen Wahlakte für sich zu gewinnen
(Quelle: Venezuela-Avanza, 5.7.2017, Alexander-von Humboldt-Gesellschaft e.V.)
Ein starkes Druckinstrument gegen Maduro ist gegenwärtig die Verschärfung und
Aufrechterhaltung der verheerenden Inflation und die Beeinflussung des inneren
Versorgungsmarktes. 2018 soll die Auswanderung venezolanischer Bürger in die
Nachbarländer Kolumbien und Brasilien für politische Aufmerksamkeit und Druck
sorgen.
Chávez und Maduro haben mit ihren
Maßnahmen zur allgemeinen Sozialversicherung für die Bevölkerung, zur
Einführung einer Altersrente für alle, zum Abbau der extremen Armut, zum Aufbau
der kommunalen Räte, der Einrichtung der Missionen und Schaffung von Wohnraum
für große Teile der Bevölkerung in Venezuela Anerkennung gefunden. Die Jugend
erhielt Perspektiven, ihr Leben durch Bildung zu gestalten. Chávez und Maduro
haben 8 von 9 Wahlprozessen zu ihren Gunsten gestalten können. Die Wahlen
wurden von den internationalen Wahlbeobachtern stets als demokratisch und frei
von Manipulationen eingestuft. Beachtliches wurde zur Erreichung der
Millenniumsziele der
Stimmenmehrheiten hat Maduro in allen
letzten Wahlen verbuchen können, wenn auch mit knappen Ergebnissen. Maduro hält
sich an die Verfassung des Landes, die unter Beachtung weltweit anerkannten
demokratischen Prinzipien unter Chávez entwickelt und mit großer Mehrheit von
der Bevölkerung angenommen wurde. Die Opposition kann kein zukunftsstarkes
Angebot für Venezuela unterbreiten. Die USA scheinen mit ihren Regelungen im
eigenen Gesundheitssystem und mit der Jugendarbeitslosigkeit z.B. in Chicago
von 70 Prozent, kein Vorbild sein. Die Lebensverhältnisse in den USA, boten
keine Alternativen, auch nicht ihr Umweltverhalten oder ihr
Migrationsverständnis. Blaupausen der Führungsstrukturen des Sozialismus des
20. Jahrhunderts kommen ebenso wenig in Betracht. Das Sozialismusmodell hat
nach der Wende um 1990 demokratische Fortschritte vollzogen und Lernprozesse
durchgemacht.
Was zu tun ist, müssen die Venezolaner
selbst entscheiden. Sie kennen am besten ihre konkreten Bedingungen und haben
Vorstellungen über ihre Zukunft. Gefährliche Rückschritte für die Lage um
Venezuela und der Region bedeuten aktuell mediale Gedankenspiele und erste
praktische Übungen paramilitärischer Optionen (Análisis del esquema de la
ofensiva paramilitar). Die kolumbianische Tragödie ist keinesfalls Geschichte.
Vorurteile von außen sind bei
Betrachtungen über Venezuela, wie überhaupt, fehl am Platze.
Quelle: https://www.pressenza.com/de/2019/01/venezuela-ein-faktencheck-der-ander...
Über den Autor Günter Buhlke: Geb. 1934. Verh. Studium an der Humboldtuniversität
und der Hochschule für Ökonomie Berlin. Dipl. Volkswirtschaftler.
Internationale Arbeit als Handelsrat in Mexiko und Venezuela. Koordinator für
die Wirtschaftsbeziehungen der
Quelle: https://weltnetz.tv/story/1718-venezuela-ein-faktencheck-der-anderen-art