Venezuela
Strategie des Terrors
Internationale Medien verbreiten eifrig die Zahl der
bei Protesten in Venezuela getöteten Menschen. Die Hintergründe interessieren
weniger
Von André Scheer
Angriff auf Polizisten durch einen
oppositionellen Demonstranten am 19. April in Caracas
Foto: AP Photo/Fernando Llano
In Venezuela ist die Zahl der in Folge der Gewaltwelle in den vergangenen
Wochen getöteten Menschen auf 21 gestiegen. Am Sonntag (Ortszeit) erlag
Almelina Carrillo im Krankenhaus den schweren Verletzungen, die sie am
vergangenen Mittwoch am Rande einer Demonstration von Chavistas erlitten hatte.
Aus einem nahen Hochhaus hatten mutmaßliche Regierungsgegner Flaschen und
andere Gegenstände aus den Fenstern auf die Demonstranten geworfen, eine traf
die 47jährige.
Die Bilder der schwer verletzten Frau kursierten schon unmittelbar nach dem
Ereignis im Internet. So veröffentlichte das Portal El Cooperante das
Foto unter der Überschrift »Angriff auf das Volk« – und behauptete, dass die
Attacke einer »Oppositionsdemonstration« gegolten habe. Ähnlich berichtete auch
der von Kolumbien aus gegen Venezuelas Regierung hetzende Propagandasender
Ein genauerer Blick auf die Bilanz der Gewalt ist bei den bürgerlichen
Medien unerwünscht, denn das Ergebnis würde der allgemein verbreiteten
Darstellung widersprechen, es handle sich vor allem um oppositionelle
Demonstranten, die Opfer von Polizei und chavistischen Gruppen wurden. Wie aus
einer Aufstellung des vom Kulturministerium betriebenen Rundfunksenders Alba
Ciudad hervorgeht, starben 13 der 21 bekannten Opfer bei der Plünderung von
Geschäften, neun von ihnen durch Stromschläge. Andere Opfer waren unter anderem
ein aus dem Hinterhalt erschossener Beamter der Nationalgarde oder ein
Motorradfahrer, der von militanten Regierungsgegnern ermordet wurde, weil er
eine Barrikade ignoriert hatte. Nur in zwei Fällen wird bislang davon
ausgegangen, dass die Sicherheitskräfte für den Tod der Demonstranten verantwortlich
waren. Als Reaktion darauf wurden 16 Polizisten in Haft genommen, die
Untersuchungen laufen.
Mit Schweigen überging der internationale Mainstream auch den Tod von zwei
weiteren Regierungsanhängern, die am Wochenende Opfer von Gewalttaten wurden.
Am Sonntag wurde in Ciudad Guayana der Leichnam von Esmín Ramírez entdeckt. Wie
das Onlineportal Primicia berichtete, hatte der Gewerkschafter, der im
staatlichen Bergbauunternehmen Ferrominera beschäftigt war, zusammen mit einem
Kollegen nach einem Treffen von Funktionären der Arbeitervertretung in einem
Geschäft Hühnchen kaufen wollen. Dort wurden sie von den Tätern überwältigt und
entführt. Kurz darauf wurde Ramírez' Begleiter aufgefordert, den Wagen zu
verlassen, denn »Es geht nicht um dich«. Zwar holte er sofort Hilfe, doch
Ramírez konnte nur noch ermordet aufgefunden werden. Die Umstände sprechen
dafür, dass der als Linker bekannte und bei den Rechten verhasste
Gewerkschafter das Opfer eines politisch motivierten Verbrechens wurde.
Ebenfalls am Wochenende wurde in Valles del Tuy die 48jährige Jackeline
Ortega ermordet. Wie die Tageszeitung El Universal informierte, befand
sich die Aktivistin der Regierungspartei PSUV mit rund 30 weiteren Menschen in
der Umgebung ihres Hauses, als sich vier maskierte Männer auf zwei Motorrädern
näherten und das Feuer auf die Frau eröffneten. Die Hintergründe dieses
Verbrechens sind noch unklar. Der Informationsdienst Resumen Latinoamericano
kommentierte, die rechte Opposition sei dazu übergegangen, gezielt bekannte Vertreter
des Regierungslagers umzubringen. Anhänger der Regierung machen aus Kolumbien
nach Venezuela eingedrungene Paramilitärs für die Zunahme von Gewaltverbrechen
verantwortlich. Die Hauptstadt Caracas gilt als die gefährlichste Metropole des
Kontinents.
Venezuelas rechte Opposition verlangt von der
Deutschen Bank, Goldgeschäfte mit der Regierung in Caracas zu verweigern. In
einem Brief an Bankchef John Cryan forderte Parlamentspräsident Julio Borges,
das Finanzinstitut solle den Handel ablehnen, weil Präsident Nicolás Maduro
»eine Diktatur« errichte. Zudem unterstütze man sonst eine Regierung mit
»Verbindungen zum Drogenhandel und internationalen Terrorismus«. Aus dem Brief
zitierte am Sonntag die Deutsche Presseagentur. Die Deutsche Bank lehnte einen
Kommentar zum Ansinnen der Regierungsgegner ab. Ähnliche Schreiben gingen
Medienberichten zufolge auch an die Citigroup, Goldman Sachs und die Bank of
America.
Die Opposition vermutet, dass die Regierung sogenannte
Swap-Geschäfte plant, bei denen die Zentralbank einer anderen Bank Goldreserven
für eine bestimmte Zeit leiht und im Gegenzug dafür Devisen erhält. Auf diese
Weise wolle Venezuelas Zentralbank auf die gegenwärtige Devisenknappheit
reagieren. Da rund 95 Prozent der Staatseinnahmen aus dem Ölverkauf kommen,
leidet das Land besonders stark unter dem Preisverfall.
Mit dem Schreiben bestätigt der Rechtsblock indirekt
Vorwürfe der Regierung, sie sei einer »internationalen Finanzblockade«
ausgesetzt. Ende März hatte Außenministerin Delcy Rodríguez bei einer Tagung
der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) die anderen Länder aufgefordert,
die Behinderung Venezuelas bei der Durchführung von Geldgeschäften zu beenden.
Auch Maduro kritisierte wiederholt das Vorgehen internationaler Finanzagenturen
und anderer Institutionen gegen die Bolivarische Republik. So habe der
Abgeordnete José Guerra sogar versucht, Druck auf China auszuüben. Eine
künftige Regierung der Rechten werde Investitionen der Volksrepublik in
Venezuela nicht anerkennen, habe der Politiker an die chinesische Botschaft in
Caracas geschrieben.
»Diese Art von Aktionen der Nationalversammlung macht die
Liste der Tricks noch länger, mit denen die antichavistischen Politakteure im
venezolanischen Parlament versuchen, die Erholung der venezolanischen Ökonomie
zu verhindern«, kommentierte das Internetportal Misión Verdad den Vorstoß des
Parlamentspräsidenten. (dpa/jW)
Quelle:
https://www.jungewelt.de/artikel/309529.strategie-des-terrors.html