Ukraine im Dezember 2015
Fast zwei Jahre nach dem
von Berlin unterstützten Umsturz in Kiew ziehen Experten eine gleich in
mehrfacher Hinsicht verheerende Bilanz der Entwicklung in der Ukraine. Das
belegen aktuelle Studien in den an der Universität Bremen publizierten
"Ukraine-Analysen". Demnach ist die Wirtschaft des prowestlich
gewendeten Landes katastrophal eingebrochen und droht aufgrund der politischen
Unwägbarkeiten noch weiter abzustürzen. Die Krise hat zu einem Rückgang der
Reallöhne um mehr als 30 Prozent geführt; die Preise für Lebensmittel sind im
laufenden Jahr um 34 Prozent gestiegen, die Wohnkosten haben sich seit der
Unterstellung des Landes unter westliche Dominanz verdoppelt. Ein Drittel der
Ukrainer kann sich die notwendigen Nahrungsmittel nicht mehr leisten; lediglich
der Konsum von Brot und Kartoffeln bleibt annähernd konstant. Gleichzeitig
dauern Nepotismus und Korruption auch unter der neuen Regierung an und drohen
breite Proteste hervorzurufen. Weniger als ein Drittel der Bevölkerung äußert
noch "Vertrauen" gegenüber Staatspräsident Petro Poroschenko; seine
"Vertrauensbalance", die statistische Differenz zwischen Zustimmung
und Ablehnung, liegt noch unter derjenigen für Staatspräsident Wiktor
Janukowitsch im Dezember 2013. Die "Vertrauensbalance" für Regierung
und Parlament hat sogar ein - unter Janukowitsch nie gekanntes - Langzeittief
erreicht.
Ökonomisch abgestürzt
Fast zwei Jahre nach dem
von Berlin unterstützten Umsturz in Kiew bilanzieren Experten in den an der
Universität Bremen publizierten Ukraine-Analysen die Entwicklung des Landes.
Das Ergebnis ist niederschmetternd. Die ökonomische Lage ist desaströs. Das
ukrainische Bruttoinlandsprodukt, das bereits 2014 um 6,8 Prozent eingebrochen
ist, stürzt noch weiter ab; Fachleute schätzen den Rückgang im Jahr 2015 auf um
die elf Prozent. Im kommenden Jahr könne es eventuell wieder ein leichtes
Wachstum zwischen einem und zwei Prozent geben, heißt es - dies aber nur dann,
wenn es nicht erneut zu politischen Erschütterungen komme, etwa zu einem Bruch
des Waffenstillstands im Osten der Ukraine. Dies allerdings sei ziemlich
ungewiss. Ein hoher Schuldenstand belastet das Land; eine Zunahme ausländischer
Direktinvestitionen halten Experten "angesichts der noch sehr fragilen
Gesamtlage" für "derzeit nicht realistisch". "Westliche
Banken" zögen sich im Gegenteil "weiterhin eher aus dem Land
zurück". Die Entwicklung der Exporte sei ernüchternd. Während die
Ausfuhren nach Russland stark eingebrochen seien, habe "der einseitig
gewährte Marktzugang in die EU" bislang nichts eingebracht; der
ukrainischen Wirtschaft fehlten vor allem "in der Breite wettbewerbsfähige
Produkte für den EU-Binnenmarkt". Immerhin sei es gelungen, das
Außenhandelsdefizit zu senken: Die massive Abwertung der Hrywnja habe ausländische
Waren so stark verteuert, dass ihr Absatz und damit auch der Gesamtimport
dramatisch eingebrochen sei und das niedrige Niveau der Exporte nicht mehr
nennenswert übersteige.[1]
Extreme Armut
Die sozialen Folgen des
ökonomischen Zusammenbruchs sind verheerend. "Laut Angaben des
ukrainischen Statistikamtes haben sich die Reallöhne in der Ukraine seit Ende
2013 um mehr als 30 Prozent verringert", heißt es in den Ukraine-Analysen.
Der monatliche Durchschnittslohn ist von rund 280 Euro im Jahr 2013 auf 156 Euro
im Oktober 2015 gefallen. Jeder zehnte Ukrainer muss sich mit einem Einkommen
unterhalb des offiziellen Existenzminimums (54 Euro) begnügen, das allerdings
nach allgemeiner Auffassung auch nicht annähernd zum Überleben ausreicht. Weil
die Durchschnittsrente (79 Euro) ebenfalls kein Auskommen ermöglicht, ist
Erwerbsarbeit unter Rentnern verbreitet. Dabei wird arbeitenden Pensionären
seit April 2015 die Rente um 15 Prozent gekürzt. Oft werden Löhne nur mit
Verspätung oder gar nicht gezahlt; der Lohnrückstand hat sich im Verlauf des
Jahres 2014 verfünffacht. Die Ukraine-Analysen resümieren: "Das Ausmaß der
extremen Armut ist dramatisch gestiegen." Besonders betroffen seien neben
den Rentnern "kinderreiche Familien und die ländliche Bevölkerung".[2]
Brot und Kartoffeln
Schwer wiegt im Alltag vor
allem die dramatische Teuerung bei Nahrungsmitteln, Medikamenten, Wasser und
Heizung. Offiziellen Angaben zufolge stiegen die Lebensmittelpreise im Jahr
2014 um rund 25 Prozent; dieses Jahr ist sogar ein Anstieg um 34 Prozent zu
verzeichnen. "Umfragedaten weisen darauf hin, dass die Menschen ihren
Konsum entsprechend verringern", heißt es in den Ukraine-Analysen:
"Es werden insgesamt weniger Obst, Fleisch, Fisch, Eier, Zucker,
Milchprodukte und andere Lebensmittel konsumiert"; lediglich der Verbrauch
von Brot und Kartoffeln bleibe "relativ unverändert". "Etwa
einem Drittel der Bevölkerung" fehle "die Möglichkeit, notwendige
Nahrungsmittel zu kaufen"; dabei könnten sich "Familien mit Kindern
insgesamt weitaus weniger Lebensmittel pro Person leisten als Familien ohne
Kinder". Die Preise von Medikamenten und anderen Produkten der
medizinischen Versorgung seien ebenfalls um mehr als 30 Prozent gestiegen.
Strom und Wasser seien um 50 bis 70 Prozent teurer geworden, Gas koste
mittlerweile dreimal so viel wie 2013. Im Ergebnis hätten sich "die
Wohnkosten fast verdoppelt". "Vor dem Hintergrund schleppender
Reformen", urteilt eine Expertin, "kann ein weiteres Absinken des
Lebensstandards zu sozialen Spannungen im Land führen."[3]
Oligarchen und
Korruption
Umso schwerer wiegt, dass
nicht einmal die auf dem Majdan breit geforderte und von der Kiewer
Umsturzregierung lautstark angekündigte Bekämpfung der Korruption wirklich
Fortschritte erzielt. Staatspräsident der prowestlich gewendeten Ukraine ist
ein Oligarch, der neue Ministerpräsident entstammt dem alten ukrainischen
Polit-Establishment.[4] Das am 16. Oktober 2014 in Kraft getretene Gesetz
"Über die Säuberung des Regierungsapparates", das die Korruption habe
beseitigen sollen, habe sich als überaus problematisch erwiesen, heißt es in
den Ukraine-Analysen. Es widerspreche zentralen Richtlinien des Europarats und
führe nicht zum Ziel. "Nepotismus und Korruption" grassierten weiter;
"zudem zeugt die selektive Anwendung des Gesetzes vor allem davon, dass
politische Zweckmäßigkeiten und persönliche Ergebenheiten bei der
Postmaidanregierung weiter Vorrang vor Verfassung und Gesetz haben".
"Mehr als zwei Drittel der Ukrainer waren im Juni ... davon überzeugt,
dass die Regierung die Lustration nur imitiert", heißt es, "und
weitere 16 Prozent bezweifelten, dass überhaupt eine Form von 'Reinigung' des
Staatsapparates stattfinde". Der "Unmut" wachse und werde sich
möglicherweise auch in Protesten artikulieren - "vor allem angesichts der
beständig schlechten wirtschaftlichen Lage ohne Aussicht auf spürbare
Verbesserungen in absehbarer Zeit".[5]
Die Vertrauensbalance
Wie groß das
Protestpotenzial in der Ukraine ist, das sich gegenwärtig noch durch Agitation
gegen Russland weitgehend nach außen ablenken lässt, zeigen jüngste Umfragen in
der Bevölkerung zum "Vertrauen in die politischen Institutionen". Die
Umfragen können nicht in den Verdacht gerückt werden, von Russland
nahestehenden Kräften frisiert worden zu sein: Sie stammen von zwei bekannten prowestlichen
Instituten und sind in den keinesfalls prorussischen Ukraine-Analysen
abgedruckt worden.[6] Ihnen zufolge erklärten im Sommer 2015 29,5 Prozent der
Ukrainer, sie vertrauten Staatspräsident Petro Poroschenko, während 62,5
Prozent dies verneinten. Die "Vertrauensbalance" - eine statistische
Größe, die von der Zustimmung die Ablehnung abzieht - lag damit für Poroschenko
bei minus 33 Prozent, klar unterhalb des Vergleichswerts für den damaligen
Staatspräsidenten Wiktor Janukowitsch im Dezember 2013 (minus 27 Prozent). Die
"Vertrauensbalance" für die ukrainische Regierung (minus 56 Prozent)
und diejenige für das Parlament (minus 63 Prozent) haben heute - unter
Janukowitsch nie dagewesene - Minusrekorde erreicht. Gleiches gilt für Polizei
(minus 57 Prozent), Gerichte (minus 67 Prozent) und Staatsanwaltschaft (minus
67 Prozent). Sogar die "Vertrauensbalance" der ukrainischen Medien,
die unter Janukowitsch stets bei plus 20 Prozent oder mehr gelegen hatte,
näherte sich im Juli dem Nullpunkt und ist inzwischen womöglich sogar ins Minus
gerutscht. Zu den wenigen Institutionen, die noch über eine positive
"Vertrauensbalance" verfügen, gehören neben der Kirche (34 Prozent)
vor allem die Freiwilligenbataillone (16 Prozent), also tendenziell reaktionäre
und - im Falle der Bataillone - nationalistische und in Teilen faschistische
Kräfte, auf denen in der prowestlich gewendeten Ukraine das letzte Vertrauen
der Bevölkerung ruht.
Quelle: German Foreign
Policy 16.12.2015
Mehr zur deutschen Ukraine-Politik: Faschisten als Vorbild, Widerspenstige
Kollaborateure, Ein Misstrauensreferendum, Kontrollmission in Kiew, Die Belagerung der Krim
(I) und Die Belagerung der Krim
(II).
[1] Gunter Deuber, Andreas
Schwabe: Äußerst verhaltener Wirtschaftsausblick zwei Jahre nach dem Maidan.
In: Ukraine-Analysen Nr. 161, 7-13.
[2], [3] Kseniia Gatskova: Der Lebensstandard in der Ukraine in den Jahren
2014/2015: sinkender Wohlstand und die Anpassungsstrategien der Bevölkerung.
In: Ukraine-Analysen Nr. 161, 09.12.2015, 2-5.
[4] S. dazu Die Restauration der
Oligarchen (II), Die Restauration der
Oligarchen (III), Die Restauration der
Oligarchen (IV) und Steinmeier und die
Oligarchen.
[5] Andreas Stein: Ernüchterung nach einem Jahr Lustrationsprozess. In:
Ukraine-Analysen Nr. 160, 26.11.2015, 2-6.
[6] Die Umfragen
wurden vom Fonds Demokratischer Initiativen und dem Rasumkow-Zentrum zwischen
dem 22. und dem 27. Juli erhoben; zentrale Resultate sind einzusehen in:
Ukraine-Analysen Nr. 160, 26.11.2015, 11f.