Ukraine: Das Massaker von Odessa am
2.5.2014
»Das Thema wird umgangen«
Am 2. Mai fanden in vielen
europäischen Städten Veranstaltungen zum Gedenken an das Massaker von Odessa
ein Jahr zuvor statt. Die meisten Medien schwiegen. Ein Gespräch mit Oleg
Musyka
Von
Arnold Schölzel
Odessa,
2. Mai: Trotz Drohungen von Polizei und Neofaschisten gedachten Tausende der
Toten
Foto: Sergey Gumenyuk/EPA/dpa-Bildfunk
Oleg Musyka ist Mitglied der ukrainischen Partei Rodina und war
Aktivist der Antimaidanbewegung auf dem Platz Kulikowo Polje in Odessa. Deren
Zeltstadt wurde am 2. Mai 2014 von Neofaschisten zerstört. Dabei kamen nach
offiziellen Angaben über 40 Menschen um, nach Aussagen von Augenzeugen waren es
weit über 100 Menschen. Zusammen mit anderen Aktivisten, die Repressionen durch
die Kiewer Regierung bzw. durch Neofaschisten fürchten und sich deswegen nicht
in der Ukraine aufhalten, versucht er seit Sommer 2014, die
Informationsblockade über das Geschehen in Westeuropa zu durchbrechen.
Am 2. Mai jährte sich das
Massaker im Gewerkschaftshaus von Odessa, bei dem wahrscheinlich weit über 100
Menschen ums Leben kamen, zum ersten Mal. Sie und andere Aktivisten der dort
angegriffenen Antimaidandemonstranten haben im vergangenen Jahr versucht,
europaweit über das, was dort geschah, zu informieren. Wie sieht Ihre Bilanz
aus?
Wir
betrachten es als unsere Aufgabe, die Informationsblockade über das Geschehen
am 2. Mai 2014 in Odessa zu durchbrechen. Das haben wir nach unserer Meinung
weitgehend erreicht, aber es war sehr schwierig. Immerhin gelang es uns am
ersten Jahrestag, in mehr als 40 Städten Europas an die Ereignisse vor einem
Jahr zu erinnern – mit Ausstellungen, Demonstrationen und Kundgebungen.
Wo gab
es besonders große Resonanz?
Die
größten Manifestationen fanden in London, Stockholm und in Mailand statt,
außerhalb Europas in Kanada, mit Australien hatten wir eine
Skype-Konferenzschaltung. In Berlin hatten verschiedene Solidaritätsgruppen zu
einer Kundgebung am Brandenburger Tor aufgerufen, zu der insgesamt etwa 500
Menschen kamen. Wir hatten dort einen Konflikt mit der Polizei, die von uns
verlangte, auf die zum Tiergarten gewandte Seite des Tores zu gehen, wo es
weniger Publikumsverkehr gibt. Dieser Standortwechsel war ärgerlich, weil wir
dadurch viel Zeit verloren haben.
Wie
groß ist das Interesse in der Bundesrepublik an diesem Datum?
Außer
in Berlin gab es Veranstaltungen in Hamburg, Osnabrück und Rostock. Nach meiner
Meinung ist die Unterstützung hier für unser Anliegen sehr groß. Viele Menschen
wissen, was tatsächlich passiert ist. Die deutschen Politiker bemühen sich
allerdings sehr, das Thema vergessen zu machen und es zu umgehen. Bei den
Medien ist es so wie vor einem Jahr: Die einen berichten nicht, andere
informieren und helfen uns damit.
Was
geschah am Jahrestag in Odessa?
Er fand
in der Bevölkerung große Aufmerksamkeit. Fast 5.000 Menschen kamen im Laufe des
2. Mai auf den Platz vor dem Gewerkschaftshaus, den Kulikowo Polje, um Blumen
und Kränze niederzulegen. Auf den Straßen patrouillierten allerdings viele
Polizisten und andere Uniformierte, die jeden kontrollierten, der zum
Gewerkschaftshaus wollte. Trotz der drohenden Repressionen kamen Tausende.
Zuerst
hieß es, dass die Behörden die öffentliche Erinnerung an die Opfer unterbinden
wollten, dafür sollte eine Demonstration des »Rechten Sektors« stattfinden, aus
dem die Angreifer vor einem Jahr kamen. Was wurde daraus?
Vor
allem haben das Innenministerium und der Geheimdienst in den letzten Apriltagen
bis zum 1. Mai in Odessa zahlreiche Menschen verhaftet und eingeschüchtert. Am
Tag selbst gab es viele Schikanen. Nur ein Beispiel: Eine Aktivistin der
Antimaidanproteste, die unter dem Namen Viktoria als »Stimme Odessas« in der
Stadt bekannt ist, wurde vom Geheimdienst am 2. Mai, also am Sonnabend, für
zwei Stunden zur Mittagszeit zu einem Gespräch vorgeladen. Für den Abend war
ein »Trauermahl der Erinnerung« vorbereitet, zu dem auch sie eingeladen war,
aber sie wurde erneut einbestellt.
Das
schlimmste an diesem Tag war aber der Aufmarsch der Neofaschisten. Die Partei
Swoboda bezeichnet den 2. Mai 2014 als »Tag des Sieges« und beging ihn nicht
als Trauer-, sondern als Feiertag. Das charakterisiert, in welcher Verfassung
der Staat ist. Trotz alledem haben zwei Stadtverordnete meiner Partei Rodina an
diesem Tag das Gedenken in Odessa organisiert.
Oleg Musyka Foto: Christian Ditsch.de |
Welche
Bedeutung hat der 2. Mai 2014 für die Bevölkerung der Stadt?
Die
Mehrheit betrachtet diesen Tag nach meiner Meinung als denjenigen, an dem sie
durch die neue Macht in Kiew auf die Knie gezwungen wurde. Odessa war eine
Heldenstadt des Großen Vaterländischen Krieges, nun behaupten die ukrainischen
Massenmedien, sie sei eine »Bandera-Stadt«, stehe also in der Tradition des
Nationalisten. Die Einwohner seien froh, dass die Lage nun ruhig sei. Die große
Zahl von Menschen, die am 2. Mai zum Kulikowo Polje kamen, besagt aber, dass
die Bevölkerung nicht einverstanden ist mit dem, was dort vor einem Jahr
geschah. Ich als Odessaer freue mich darüber, denn ein Jahr lang wurde gegen
die Opfer gehetzt.
Ist die
Stadt politisch gespalten?
Das
betrifft nicht nur Odessa, sondern die gesamte Ukraine – das haben die
herrschenden Politiker erreicht. Sie versuchen die Bevölkerung von der Realität
abzulenken. Dem wollen wir unsere Informationen entgegensetzen. Langsam bemerken
die Menschen, dass sie getäuscht wurden. Dazu gehören nicht wenige, die auf dem
Maidan waren. Im April wurde der Journalist Oleg Busina in Kiew ermordet, das
hat viele erschüttert. Denn es zeigt klar, dass die Regierung nicht in der Lage
ist, die nationalistischen Kräfte zu steuern. Das Justizsystem funktioniert
nicht und klärt weder auf, wer auf dem Maidan geschossen hat, noch den 2. Mai
in Odessa oder den Abschuss des malaysischen Flugzeugs. Westeuropäische
Politiker äußern zwar ihre Sympathie für die Ukraine, aber für Ermittlungen
setzen sie sich nicht ein.
Im
November finden Kommunalwahlen statt, wir arbeiten dafür, dass sie in Odessa
ohne Einmischung von Polizei oder gar Militär stattfinden. Dann wird sich
zeigen, wie die Bevölkerung denkt.
Gegen
die Partei Rodina der Ukraine und gegen Sie persönlich gibt es in der
Bundesrepublik immer wieder Angriffe: Ihre Partei sei politisch ähnlich
ausgerichtet wie die Partei Rodina in Russland, die Ende März in St. Petersburg
eine Konferenz abhielt, an der westeuropäische Neofaschisten teilnahmen. Was
antworten Sie den Kritikern?
Unsere
Partei wurde 2009 registriert. Sie nahm 2010 an den Kommunalwahlen teil und
erhielt 13 Mandate im Stadtrat von Odessa sowie drei Sitze im Parlament des
Gebietes Odessa. Unser Parteivorsitzender Igor Markow ist Abgeordneter in der
Werchowna Rada in Kiew. Der Parteiname ist identisch mit dem in Russland, aber
die führenden Personen und die Ziele sind völlig unterschiedlich. Unsere sind
z. B. der föderative Staatsaufbau der Ukraine, die Einführung von Russisch als
zweiter Amtssprache sowie eine starke Rolle der Gewerkschaften bei der
wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes. Vom ersten Tag an
verstanden wir uns als antifaschistische Partei und kämpften entsprechend.
Unsere gesamte Tätigkeit ist auf unserer Internetseite dokumentiert, das kann
man sich ansehen. Igor Markow wird dort mit den Satz zitiert: »Wir werden den
Faschismus bekämpfen, wenn nötig so wie unsere Väter.« Wir können nicht mit der
russischen Partei Rodina gleichgesetzt werden, in der nationalistische Ideen
vorherrschen. Wir haben deswegen keine organisatorischen oder andere
Beziehungen zu ihr.
Die
Konferenz in einem Hotel in St. Petersburg habe ich mir angesehen und bin zu
dem Schluss gekommen, dass es sich um eine Provokation gegen die Regierung und
den Präsidenten Russlands handelte. Sie sollten mit Dreck beworfen werden. Das
gleiche gilt für die Einladungen zu dieser Konferenz an die Repräsentanten der
Volksrepubliken Lugansk und Donezk. Sie haben abgelehnt. Unsere Partei hatte
mit dieser Veranstaltung nichts zu tun.
jungeWelt vom 26.5.2015