S.P.O.N. - Im Zweifel links

Schlafwandler 2014 vom 17.3.2014

Eine Kolumne von Jakob Augstein

"Mit uns kann man reden - aber die Russen schicken Soldaten." Dieses Selbstbild des Westens ist falsch und gefährlich. In Wahrheit steuern wir gegenüber Russland seit 1989 einen Kurs der Konfrontation - wo wird das enden?

96,8 Prozent? Den Russen ist nicht zu helfen. Sie verstehen von Wahlen immer noch so wenig, dass sie nicht mal anständig manipulieren können. Aber das Krim-Referendum vom Sonntag war ohnehin eine west-östliche Farce. Die Russen hätten an den Zahlen nicht drehen müssen: Niemand zweifelt, dass die Mehrheit der Krim-Bevölkerung russisch gesinnt ist. Andererseits hatte der Westen das ganze Referendum schon vorher für illegal erklärt. Eine "Pseudo-Befragung", sagte François Hollande, "rechtlich wertlos".

Die Bedeutung dieser Abstimmung ist darum eine andere: Der Ost-West-Konflikt lebt wieder auf. Aber die Kalten Krieger sitzen nicht im Kreml. Sondern in Washington, in Brüssel und in Berlin. Seit 1989 steuert der Westen einen Kurs der Konfrontation gegenüber Russland. Leichtsinn oder Kalkül? Die Politik des Westens ist von sonderbarer Geschichtslosigkeit. Wir laden den russischen Bären zum Tanz. Aber wir können nicht sicher sein, dass wir dem kontinentalen Krieg für immer entkommen sind.

Gregor Gysi hat in der vergangenen Woche im Bundestag eine wichtige Rede gehalten. Er sagte, im Umgang mit Russland haben Nato und EU falsch gemacht, was sie falsch machen konnten. Gorbatschows "Gemeinsames Haus Europa" und der Plan einer neuen Sicherheitsarchitektur jenseits von Nato und Warschauer Pakt? Der Westen nahm das nicht ernst. Das Versprechen, die Nato nicht an die russische Westgrenze auszudehnen? Der Westen hat es gebrochen. Die russische Sorge vor den Abwehrraketen, die in Osteuropa stationiert werden sollen? Der Westen hat sich darüber hinweggesetzt. Putins Angebot einer Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok? Der Westen reagierte mit Schulterzucken. Und dann Barrosos Forderung an die Ukraine, sich zwischen Russland und der EU zu entscheiden… Ein letzter, schwerer diplomatischer Fehler. Der deutsche Außenminister Steinmeier tut seitdem, was er kann, die Scherben einzusammeln.

Gernot Erler, Russlandbeauftragter der Bundesregierung, hat schon im Mai 2013 geschrieben: "Dieser außenpolitisch unerträgliche Zustand hat sich über Jahre aufgebaut, und alle, die kontinuierlich mit russischen Partnern im Gespräch sind, haben ihn kommen sehen."

Warum macht der Westen das? Es gibt nur eine Antwort: Hybris. "Weil Sie glaubten, solche Sieger im Kalten Krieg zu sein, dass alle alten Maßstäbe für Sie nicht mehr gelten", rief Gysi in Richtung der Regierungsbänke.

Gysi hat das Hohe Haus - und die Öffentlichkeit - an eine schlichte Tatsache erinnert: "Die USA wollen mehr Einfluss gewinnen und vorhandenen verteidigen, und Russland will mehr Einfluss gewinnen und vorhandenen verteidigen." Wir beschönigen uns selbst. Wir halten unsere Machtpolitik für Normalität und die der anderen für einen Angriff. Bei "Zeit Online" konnte man neulich lesen: "In Krisen aller Art versuchen die Europäer stets, Spannungen durch ausführliches Reden abzubauen. Wladimir Putin und die russische Duma aber setzen auf die Eskalation täglich noch einen drauf." Das stimmt nicht. Die Wahrheit ist, wenn es um die Verteidigung der eigenen Interessen geht, nehmen sich Ost und West nicht viel. Auf der Krim basteln sich die Russen ihre Wahlergebnisse - und in der "Zeit" reden wir uns die Wirklichkeit schön. Solchen Verzerrungen begründen Mythen, und aus solchen Mythen wächst der Hass.

Der Historiker Christopher Clark hat neulich im SPIEGEL selber vor eilfertigen Parallelen gewarnt. Aber in den "Schlafwandlern", seinem großen Buch über den Ersten Weltkrieg, schreibt er: "Die Krise, die im Jahr 1914 zum Krieg führte, war die Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur."Es war eine Kultur von Konfrontation und Gelegenheit. Im Krimkrieg empfahl Bismarck 1854 seiner Regierung, "unvermutet in Österreich einzurücken ..., während Böhmen bar von Truppen ist". Warum? Weil es möglich war. Und es war so vieles möglich, als die Sowjetunion in ihren Trümmern lag und Jelzin in seinem Suff. Immerhin warnen dann 2008 doch die Deutschen davor, als die Amerikaner vorschlugen, Georgien und die Ukraine in die Nato aufzunehmen.

Jetzt hat Barack Obama den neuen Herren von Kiew, Arsenij Jazenjuk, gleich ins Oval Office geladen. Dass dessen Regierung ebensowenig legitim ist, wie es das Referendum war - egal. Die Faschisten, die in Kiew jetzt an der Macht beteiligt sind, sind übrigens echt und nicht nur Putins Propagandafiguren. Gysi hat in seiner Rede den Parteichef der Swoboda zitiert: "Schnappt euch die Gewehre, bekämpft die Russensäue, die Deutschen, die Judenschweine und andere Unarten."

Angela Merkel und Steinmeier schweigen dazu. Die wichtigste Parallele, die sich bei Christopher Clark zu unserer Gegenwart findet, ist aber diese: Er erzählt von der gefährlichen Wirkung, die seinerzeit "die weithin verbreitete Legende vom historisch notwendigen Niedergang Österreich-Ungarns" entfaltete: "Sie (nahm) den Gegnern Wiens auch die letzten Skrupel und untergrub die Vorstellung, dass Österreich-Ungarn wie jede andere Großmacht auch Interessen hatte, die es mit gutem Recht energisch verteidigte."

Es sind heute die russischen Interessen, die der Westen missachtet. Auf Dauer zum eigenen Schaden.

http://www.spiegel.de/politik/ausland/referendum-pro-russland-jakob-augstein-ueber-den-konflikt-auf-der-krim-a-959058.html