USA Eine progressive Stimme aus den USA
Die Eliten „haben jede Glaubwürdigkeit verloren“
Interview mit dem Journalisten Chris Hedges
von David North am 12. Oktober 2017
Am 2. Oktober führte der
Vorsitzende der internationalen Redaktion der WSWS, David North, ein Interview
mit Chris Hedges, Träger des Pulitzer-Preises, Autor, Dozent und ehemaliger
Korrespondent der New York Times. Zu Hedges besonders bekannten
Büchern zählen „War is
a Force That Gives Us Meaning“, „Death of the Liberal Class“, „Empire of
Illusion: the End of Literacy and the Triumph of Spectacle“ und (gemeinsam mit dem
Cartoonisten Joe Sacco)
„Days of Destruction, Days of Revolt“ sowie „Wages of
Rebellion: the Moral Imperative of Revolt“.
In einem Artikel unter
der Überschrift „So werden abweichende Stimmen zum Schweigen gebracht“, der am
17. September auf dem Nachrichtenportal Truthdig erschien, warnte Hedges
unter Berufung auf Berichte der WSWS über die Google-Zensur
gegen linke Websites vor „schwarzen Listen, Zensur und der Verleumdung von
Dissidenten als ausländische Agenten im Dienste Russlands und als Verbreiter
von ‚Fake News‘.“Hedges schrieb, „dass das Justizministerium den Sender RT
America und seine ,Verbündeten‘ – damit sind Leute wie ich gemeint –
aufgefordert hat, sich unter dem Foreign Agent Registration Act registrieren zu
lassen. [1] Unter diesem Gesetz aus dem Jahr 1938 muss jede politische
Tätigkeit für ausländische Rechtspersonen registriert werden. Da der Staat
zweifellos weiß, dass sich die meisten von uns nicht als ausländische Agenten
registrieren lassen werden, bedeutet dies, dass unsere Sendungen offair genommen
werden. Diese Absicht steckt wohl dahinter.“ North eröffnete das Interview mit einer Frage zur
Bedeutung der antirussischen Kampagne in den Medien.
David North: Wie beurteilen
Sie die Fixierung auf Russland und die Auslegung der Wahlen allein unter dem
Aspekt der Manipulation durch Putin?
Chris Hedges: Das ist ebenso lächerlich wie Saddam Husseins
Massenvernichtungswaffen. Es ist eine völlig unbewiesene Behauptung, mit der
eine schockierende Anschuldigung verbreitet wird: Kritiker des Kapitalismus und
Imperialismus seien ausländische Agenten Russlands.Ich zweifle nicht daran,
dass die Russen Zeit, Kraft und Geld investiert haben, um die Ereignisse in den
Vereinigten Staaten in ihrem Interesse zu beeinflussen. Das haben wir ja auch getan und tun es
heute noch, sowohl in Russland als auch in anderen Ländern überall auf
der Welt. Ich sage also nicht, dass es keine Einflussnahme oder versuchte
Einflussnahme auf die Ereignisse gab.Aber die Vorstellung, dass die Russen
den Ausschlag für Trumps Wahlsieg gaben, ist absurd. Sie basiert auf der unbewiesenen Behauptung, dass Russland die E-Mails von
[Clintons Wahlkampfmanager] Podesta an WikiLeaks weitergab und ihre
Veröffentlichung dann Hunderttausende Clinton-Wähler zum Umschwenken auf Trump
veranlasste. Das ergibt keinen Sinn. Manchmal wird es auch darauf
geschoben, dass RT America, wo ich eine Show habe, alle dazu gebracht hat, für
die Grünen zu stimmen. Das meint jedenfalls der Direktor der nationalen
Geheimdienste.
Diese Fixierung auf Russland ist eine Taktik, mit der die herrschende Elite und insbesondere
die Demokratische Partei einer äußerst unangenehmen Realität ausweicht: dass ihre Unbeliebtheit auf ihre Politik zurückzuführen ist: auf die
Deindustrialisierung und die Angriffe auf arbeitende Männer und Frauen und arme
Farbige. Sie ist zurückzuführen auf verhängnisvolle Handelsabkommen wie
das NAFTA, durch das gute, tariflich entlohnte Arbeitsplätze vernichtet und an
Orte wie Mexiko verlagert wurden, wo Arbeiter ohne Sozialleistungen für 3
Dollar die Stunde schuften. Sie ist zurückzuführen auf die
allgegenwärtige systematische Masseneinkerkerung, die 1994 von Bill Clinton
mit seinem Gesetz zur Verbrechensvorbeugung eingeführt wurde, und auf die
Verdrei- und Vervierfachung der Gefängnisurteile. Sie ist zurückzuführen auf
die Streichung elementarer sozialer Dienste (einschließlich der von Clinton
abgeschafften Sozialhilfe), die Deregulierung, den Zerfall der Infrastruktur
mitsamt den öffentlichen Schulen und auf die Steuerverweigerung der
Unternehmen. Sie ist zurückzuführen auf die Verwandlung des Landes in eine Oligarchie. Die ausländerfeindliche Revolte auf der Rechten und der gescheiterte
Aufstand innerhalb der Demokratischen Partei werden erklärlich, wenn man sich
anschaut, was sie aus diesem Land gemacht haben.Die Polizei ist zu einer Art militärischen Truppe geworden, die Viertel von Randgruppen
tyrannisiert, wo die Leute keinerlei Rechte mehr haben und straflos erschossen werden dürfen. Täglich werden mehr als drei Menschen getötet. Der Staat
erschießt arme Farbige und sperrt sie ein, um die gesellschaftliche Kontrolle
zu behalten. Dieselbe Art der Kontrolle wird ohne weiteres jeden anderen Teil
der Bevölkerung treffen, der aufbegehrt.Die Hexenjagd gegen Russland wird vor allem von der Demokratischen Partei betrieben. Sie vermeidet damit, sich ihre
Komplizenschaft bei der Zerstörung unserer bürgerlichen Freiheiten
einzugestehen – in dieser Hinsicht war Barack Obama schlimmer als George W.
Bush. Sie konfrontiert sich nicht mit ihrer Rolle bei der Zerstörung unserer
Wirtschaft und unserer demokratischen Institutionen.Politiker wie die Clintons, Pelosi und Schumer sind Kreaturen der Wall Street. Deshalb setzen sie alles daran, den Sanders-Flügel der
Demokratischen Partei zurückzudrängen. Ohne das Geld der Wall Street hätten sie
keine politische Macht. Die Demokratische Partei arbeitet nicht wirklich wie
eine politische Partei. Sie ist ein Werkzeug, um die Massen unaufhörlich in
Atem zu halten und die Öffentlichkeit mit exaltierten Kampagnen zu überziehen,
die von Unternehmensspenden finanziert werden. Die Parteibasis hat im Hinblick auf die Führung oder Politik der Partei kein
Mitspracherecht, wie Bernie Sanders und seine Anhänger feststellen mussten.
Die Mitglieder sind in diesem sterilen politischen Theater nur Requisiten.Diese Partei-Eliten, die von Gier, Kurzsichtigkeit und einem tiefem Zynismus
zerfressen sind, halten den gesamten politischen Prozess im Würgegriff. Den
werden sie nicht lockern, selbst wenn alles in sich zusammenbricht.
DN: Chris, Sie haben für die New
York Times gearbeitet. Wann war das genau?
CH: Von 1990 bis 2005.
DN: Da Sie einige Erfahrung mit dieser Institution haben:
Welche Veränderungen stellen Sie fest? Wir haben betont, dass die
Zeitung eine Basis in der wohlhabenden oberen Mittelschicht aufgebaut hat.
CH: Die New York Times wendet sich
bewusst an 30 Millionen Menschen der oberen Mittelklasse, wohlhabende
Amerikaner. Es ist eine nationale Zeitung; nur etwa 11 Prozent ihrer
Leserschaft ist aus New York. Die Zielgruppe der Times erkennt man sofort, wenn man sich ihre Rubriken zu den Themen Wohnen,
Stil, Unternehmen oder Reisen anschaut. In diesen Beiträgen wird zum
Beispiel geschildert, wie schwierig es ist, ein Zweithaus in den Hamptons [einem Mekka der Superreichen] zu unterhalten. Sie kann gute investigative Arbeit leisten, tut es
aber selten. Sie behandelt außenpolitische Themen. Doch dabei spiegelt sie
das Denken der Eliten wider. Ich lese die Times jeden Tag, vielleicht
auch, weil Ihre Website das Gegengewicht dazu bildet.
DN: Das hoffentlich stärker ist.
CH: Das allerdings stärker ist. Die Times war seit jeher eine elitäre Publikation. Als sie jedoch in
finanziellen Schwierigkeiten steckte, verschrieb sie sich unter Abe
Rosenthal als Herausgeber voll und ganz der Ideologie des Neokonservatismus und Neoliberalismus.
Rosenthal führte die Rubriken
ein, die auf die Elite abgestimmt waren. Und er verhängte eine De-facto-Zensur
gegen Kritiker des ungezügelten Kapitalismus und Imperialismus,
wie Noam Chomsky oder Howard
Zinn. Er ekelte Reporter
hinaus, die wie Sydney Schanberg Immobiliengesellschaften in New York
herausgefordert oder wie Raymond Bonner über das Massaker von El Mozote in El Salvador
berichtet hatten. Jede Woche traf
sich Rosenthal mit seinem Verleger William F. Buckley zum Mittagessen.
Weil sie sich solcherart den reaktionärsten Kräften des Kapitalismus und
Befürwortern des amerikanischen Imperialismus an den Hals warf, war die
Zeitung eine Zeit lang sehr profitabel. Doch die Ausbreitung des Internets und
der Verlust von Kleinanzeigen, auf die rund 40 Prozent der Einnahmen aller
Zeitungen entfielen, machten der Times am Ende natürlich
genauso zu schaffen wie allen anderen Zeitungen. Die gedruckten Zeitungen haben
das Monopol darauf verloren, Verkäufer und Käufer zusammenzubringen. Zeitungen
sind in einem alten System der Berichterstattung befangen, das darauf
abzielt, die Wahrheit im Namen einer formelhaften „Objektivität“ und „Ausgewogenheit“ im Interesse der Mächtigen und Reichen zu vernebeln. Doch auch die Times wird, wie alle
byzantinischen Höfe, bis zum bitteren Ende an ihrem Heiligen Gral
festhalten.Dem hohen intellektuellen Anspruch der Zeitung – insbesondere
bei den Buchrezensionen und dem Wochenrückblick – machte Bill Keller den
Garaus, ein Neokonservativer, der als Kolumnist für den Irakkrieg Stimmung
machte. Er holte Leute wie Sam Tanenhaus in die Redaktion. Zu diesem Zeitpunkt
stellte sich das Blatt vorbehaltlos hinter die utopische Ideologie des
Neoliberalismus und das Primat der Konzernmacht als einziger Form
des menschlichen Fortschritts. Zusammen mit Business Schools,
wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten und den Gurus des Staats
verbreitete die Times die absurde Idee, dass es uns allen besser ginge, wenn wir jeden
Bereich der Gesellschaft dem Diktat
des Markts unterwerfen würden. Um das zu
glauben, muss man mit einer besonderen Art von Dummheit geschlagen sein.
Studenten an der Harvard Business School arbeiteten sich noch an Fallstudien
über Enron und sein geniales Geschäftsmodell ab, da brach Enron schon zusammen und entpuppte sich als ein gigantischer Betrug. Bei
all dem ging es in Wirklichkeit nicht um Ideen. Es ging um nackte Gier. Dafür legten sich die angeblich
Gebildetsten unter uns ins Zeug, wie
Larry Summers – was die Lüge widerlegt, dass unser Niedergang auf mangelnde
Bildung zurückzuführen sei. Der wirkliche Grund war eine abgewirtschaftete
und amoralische Elite und die kriminellen Finanzinstituten, die für
ihre Bereicherung sorgten.Das kritische Denken, das auf der Kommentarseite,
im Wochenrückblick oder in den Buchbesprechungen – wenn auch nie allzu
ausgeprägt – zu finden gewesen war, löste sich unter Keller in Luft auf. Die
Globalisierung durfte nicht hinterfragt werden. Da die Times wie alle Institutionen der Elite hermetisch gegen Stimmen von außen
abgeschirmt ist, merkten die Beteiligten gar nicht, wie bedeutungslos sie
wurden und welch lächerliches Bild sie abgaben. Thomas Friedman und David
Brooks könnten genauso gut für die [Satirezeitschrift] Onion schreiben.Ich habe im Ausland gearbeitet. Deshalb war ich nicht häufig in
der Redaktion, weiß aber, dass dort ein Klima der Angst herrscht. Die Regeln
sind nicht an die Wände geschrieben, aber jeder kennt das inoffizielle Motto
der Zeitung, auch wenn es keiner ausspricht: Tritt niemals denjenigen zu nahe, die uns Geld und Zugang zu Informationen
verschaffen! Von Zeit zu Zeit darf
man ihnen ein bisschen auf die Füße treten. Aber wenn Sie ein ernsthafter
Reporter sind, wie Charlie Leduff oder Sydney Schanberg, der denen eine Stimme
geben will, die keine Stimme haben, und zu Fragen der Hautfarbe, Klasse,
kapitalistischen Ausbeutung oder imperialer Verbrechen schreiben möchten, dann
werden Sie für das Management sehr schnell zum Problem und werden geschasst. Diejenigen,
die im Unternehmen aufsteigen und Machtpositionen besetzen, sind vollendete
Karrieristen. Da es ihnen ausschließlich um die eigene Karriere und das Ansehen
und die Rentabilität der Institution geht, sind die Führungspositionen der
Zeitung mit lauter Mittelmäßigen besetzt. Der Karrierismus ist die größte
Achillesferse des Blatts. Es mangelt ihm nicht an Talenten. Doch was ihm fehlt,
sind geistige Unabhängigkeit und Zivilcourage. Es erinnert mich an Harvard.
DN: Lassen Sie uns noch einmal auf diese Story über
russische Hackerangriffe zurückkommen. Sie sprachen darüber, dass eine Story,
die außer Behauptungen diverser Geheimdienste keinerlei faktische Grundlage
hat, als Nachricht präsentiert wird, die über jeden Zweifel erhaben ist. Wie
schätzen Sie das ein?
CH: Die kommerziellen Sender, einschließlich CNN und
MSNBC, betreiben keinen Journalismus. Den gibt es bei ihnen kaum. Die
prominenten Korrespondenten sind Hofschranzen der Elite. Sie treten den Klatsch
bei Hofe breit und trompeten ihn in die Welt: die ganzen Anschuldigungen gegen
Russland. Sie plappern auf Befehl nach, was ihnen gesagt wird. Echten
Journalismus und die Wahrheit opfern sie zugunsten von Quoten und Gewinn. Diese
Nachrichtenshows sind eine von vielen Einnahmequellen einer Konzernstruktur.
Als solche konkurrieren sie mit anderen Einnahmequellen. Der Chef von CNN, Jeff
Zucker, der daran beteiligt war, für „Celebrity Apprentice“ die fiktive Gestalt
des Donald Trump zu entwerfen, hat die Politik auf CNN zu einer
24-Stunden-Reality-Show gemacht. Jede Art von Nuancierung, Vieldeutigkeit, Sinn
und Tiefe musste mitsamt den nachweisbaren Fakten anzüglicher Unterhaltung
weichen. Lügen, Rassismus, Bigotterie und Verschwörungstheorien werden
ausgebreitet und als berichtenswert erachtet, und das oftmals von Leuten, die
sich durch nichts als geistige Verwirrung auszeichnen. Nachrichten als
Burleske.Im Vorfeld des Irak-Krieges war ich Mitglied des investigativen Teams
bei der New York Times. Ich berichtete von Paris aus über Al-Qaida in Europa
und im Nahen Osten. Lewis Scooter Libby, Dick Cheney, Richard Perle und
gelegentlich ein Geheimdienstangehöriger segneten damals die Story ab, die die
Regierung in Umlauf bringen wollte. In den journalistischen Regeln der Times heißt es, dass keine Story gebracht werden darf, die auf nur eine Quelle
zurückgeht. Wenn aber drei oder vier angeblich unabhängige Quellen das gleiche
Narrativ bestätigen, dann können Sie die Story bringen, und so wurde es auch
gemacht. Die Zeitung hat keine der Regeln gebrochen, die an der Columbia
Journalism School gelehrt werden, und hat doch nichts als Lügen verbreitet.Das
Ganze war eine Farce. Das Weiße Haus versorgte Judy Miller oder Michael Gordon
mit irgendeiner Lügengeschichte und erklärte dann in Talkshows: „Wie die Times berichtet …“ Das verlieh diesen Lügen den Anschein von Unabhängigkeit und
seriösem Journalismus. Das war ein institutionelles Versagen auf der ganzen
Linie, dem sich die Zeitung nie gestellt hat.
DN: Die
CH: Nicht alles wird der Zeitung untergejubelt. Und nicht
viel davon kam von der
DN: Das läuft auch in die umgekehrte Richtung?
CH: Natürlich. Wenn Sie einen Termin bei einem hohen
Regierungsbeamten bekommen möchten, müssen Sie beständig Anfragen einreichen,
und der Beamte entscheidet dann, wann er Sie empfängt. Und wenn er Sie sehen
möchte, dann in der Regel deshalb, weil er Ihnen etwas andrehen will.
DN: Das antirussische Narrativ der Medien ist von großen
Teilen derjenigen, die sich als „Linke“ bezeichnen, übernommen worden.
CH: Bleiben Sie mir bloß weg mit der amerikanischen
Linken. Erstens gibt es keine amerikanische Linke – keine irgendwie
ernstzunehmende Linke, die etwas von politischen oder revolutionären Theorien
versteht, sich in ökonomische Studien vertieft hat oder weiß, wie Machtsysteme
funktionieren, insbesondere bei Konzernen und Großmächten. Die Linke hat sich
in der gleichen Art von Personenkult festgefahren wie der Rest der
Gesellschaft. Sie konzentriert sich auf Trump, als ob er das zentrale Problem
wäre. Doch Trump ist nicht die eigentliche Krankheit, sondern ein Produkt, ein
Symptom eines gescheiterten Systems und einer dysfunktionalen Demokratie.Wenn
man versucht, mit Leuten von der angeblichen Linken zu diskutieren, dann
reduzieren sie die Diskussion meistens auf diese holzschnittartige Sicht der
Politik.Die ernsthafte Linke in diesem Land wurde dezimiert. Das begann mit der
Unterdrückung der radikalen Bewegungen unter Woodrow Wilson, gefolgt von der
Kommunistenhatz in den 1920er Jahren, mit der unsere Arbeiterbewegung und
unsere radikale Presse fast völlig zerstört wurden, und dann kamen die ganzen
Säuberungen der 1950er Jahre. Der Gründlichkeit halber schickten sie die
liberale Klasse gleich mit in die Wüste – man denke nur an Henry Wallace. Was
sich dann im Kalten Krieg als „liberal“ bezeichnete, setzte den Kapitalismus
mit Demokratie und den Imperialismus mit Freiheit gleich. Ich habe in der
Schweiz und in Frankreich gelebt. In Europa findet man noch Reste einer
radikalen Linken, sodass die Europäer etwas haben, auf dem sie aufbauen können.
Aber wir hier müssen praktisch noch einmal bei Null anfangen.Ich muss mich
ständig mit der Antifa und dem Schwarzen Block herumschlagen. In meinen Augen
sind sie Paradebeispiele für eine unfassbare politische Unreife. Widerstand ist
schließlich keine persönliche Katharsis. Wir bekämpfen nicht den Aufstieg des
Faschismus in den 1930er Jahren. Unsere Konzerneliten sind bereits an der
Macht. Und wenn wir keine breite Widerstandsbewegung der Bevölkerung aufbauen,
was viel geduldige Organisation unter arbeitenden Männer und Frauen erfordert,
dann werden wir nach und nach aufgerieben.Trump ist nicht das eigentliche
Problem. Aber allein dieser Satz wäre für die meisten Leute, die sich der
Linken zurechnen, das Ende der Diskussion.Der kapitalistische Staat macht es
einem sehr schwer, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wenn man an dieser
radikalen Kritik festhält. Da bekommt man niemals eine feste Stelle. Man wird
wahrscheinlich auf keinen akademischen Posten berufen. Man gewinnt keine
Preise. Man bekommt kein Stipendium. Wenn die New York Times Ihr Buch rezensiert, dann beauftragt sie einen willfährigen Handlanger wie
George Packer, der es pflichtschuldigst zerreißt – wie er es mit meinem letzten
Buch getan hat. Die Elitehochschulen replizieren die Strukturen und Ziele der
Konzerne. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich habe als Gastprofessor an einigen
von ihnen gelehrt, beispielsweise in Princeton und Columbia. Wenn Sie etwas
durch einen Promotionsausschuss bekommen möchten, von einem Einstellungsausschuss
ganz zu schweigen, dann müssen Sie ganz und gar auf Nummer Sicher gehen. Sie
dürfen der wirtschaftsfreundlichen Haltung nicht widersprechen, da sie die
ganze Institution durchdringt und durch Spenden der Unternehmen und die Diktate
reicher Alumni erzwungen wird. Bei den meisten dieser Stiftungsräte gehört die
Hälfte der Mitglieder ins Gefängnis!Im Großbritannien des 17. Jahrhunderts galt
Spekulation als Verbrechen. Spekulanten wurden gehängt. Heute stehen sie an der
Spitze der Wirtschaft und des Staats. Sie haben die Aneignung von Reichtum zum
Mittel gemacht, das geistige, kulturelle und künstlerische Leben im Land zu
zerstören und unsere Demokratie zu ersticken. Es gibt ein Wort für diese Leute:
Verräter.
DN: Wie beurteilen Sie die Folgen der Identitätspolitik
in Amerika?
CH: Die Identitätspolitik ist ein Maß für die Unreife der
Linken. Der Staat hat sich die Identitätspolitik zu eigen gemacht. Barack Obama
hat uns gezeigt, was wir von der Identitätspolitik haben: rein gar nichts.
Obama war, wie Cornel West sagte, ein schwarzes Maskottchen der Wall Street,
und jetzt reist er überall herum, um seinen Lohn für den Ausverkauf an uns
einzuheimsen.Meine Lieblingsanekdote über Identitätspolitik: Cornel West und
ich führten zusammen mit anderen einen Marsch Obdachloser vor den Nationalen
Parteitag der Demokraten in Philadelphia an. Dort fand am selben Abend eine
Veranstaltung statt. Hunderte Teilnehmer hatten sich eingefunden, in ihrer
Mehrheit wütende Anhänger von Bernie Sanders. Ich wurde eingeladen dort zu
sprechen. Im Hinterzimmer saß eine Gruppe jüngerer Aktivisten, und einer von
ihnen sagte: „Diesen Weißen lassen wir nicht als Ersten sprechen.“ Dann stand
er auf und hielt eine Rede, in der er erklärte, dass jetzt alle für Hillary
Clinton stimmen müssten. Da sieht man, wohin die Identitätspolitik führt. Es
gibt einen großen Unterschied zwischen Leuten wie Corey Booker und Van Jones,
die den Kapitalismus hochleben lassen, und wahren Radikalen wie Glen Ford und
Ajamu Baraka. Der Staat pickt sich ganz bewusst Frauen oder Menschen mit
dunkler Hautfarbe heraus, um sie zu fördern und so seine Grausamkeit und
Ausbeutung zu verschleiern.Es ist natürlich sehr wichtig, dass diese Stimmen
gehört werden, aber doch nicht jene, die sich an die Machtelite verkauft haben.
Ein Paradebeispiel ist die feministische Bewegung. Dem alten Feminismus, vor
dem ich große Hochachtung habe, dem Feminismus einer Andrea Dworkin, ging es um
die Emanzipation unterdrückter Frauen. Diese Form des Feminismus hat nicht
versucht, Prostitution als Sexarbeit zu rechtfertigen. Damals wusste man, dass
es ebenso falsch ist, Frauen in der Sexindustrie zu missbrauchen, wie in einem
Sweatshop. Doch die neue Form des Feminismus ist vom Gift des Neoliberalismus
durchtränkt. Nun geht es darum, eine Frau zum CEO oder Präsidenten zu machen,
damit sie, wie Hillary Clinton, diesen Posten im Dienst des
Unterdrückungssystems ausübt. Der neue Feminismus erklärt die Prostitution zur
Frage des freien Willens. Welche Frau, die ein festes Einkommen und Sicherheit
genießt, würde sich freiwillig dafür entscheiden, für ihren Lebensunterhalt
vergewaltigt zu werden? Identitätspolitik ist Anti-Politik.
DN: Soweit ich weiß, sprachen Sie auf der
Socialist-Convergence-Konferenz und wurden niedergeschrien, als Sie Obama und
Sanders kritisierten.
CH: Ja, daran erinnere ich mich schon gar nicht mehr.
Wegen meiner Kritik an Obama bin ich an vielen Orten niedergeschrien worden,
unter anderem in Berkeley. Auch als Unterstützer und Redenschreiber für Ralph
Nader musste ich das lange Zeit ertragen. Die Leute wehren sich dagegen, dass
ihre Illusionen über diese von Werbeagenturen geformten Politiker, ihre
vermeintlichen Retter, zerschlagen werden, Sie scheuen die Anstrengung,
wirklich darüber nachzudenken, wie Herrschaft funktioniert, und sich für ihren
Sturz zu organisieren.
DN: Sie haben erwähnt, dass Sie bereits seit geraumer
Zeit die World Socialist Web Site lesen. Dann wissen Sie, dass wir uns völlig außerhalb
dieses Rahmens bewegen.
CH: Ich bin kein Marxist. Ich bin kein Trotzkist. Aber
die Site gefällt mir. Sie berichten seriös über wichtige Themen, und das auf
eine Weise, die man selten findet. Sie engagieren sich in Fragen, die mir
wichtig sind – Masseneinkerkerung, die Rechte und Kämpfe der Arbeiterklasse und
imperiale Verbrechen. Ich lese die Site schon seit langem.
DN: Viele, die sich als links ausgeben – die Pseudolinken
– bringen die Interessen der wohlhabenden Mittelschicht zum Ausdruck.
CH: Genau. Als in den führenden Institutionen alle nach
mehr Multikulturalismus riefen, ging es in Wirklichkeit darum, einige
handverlesene farbige Menschen oder Frauen in Fakultäten oder Redaktionen
unterzubringen, während gleichzeitig ein brutaler wirtschaftlicher Angriff auf
die arbeitenden Armen, insbesondere die armen Farbigen in den
deindustrialisierten Regionen der USA geführt wurden. Das haben die meisten
dieser Multikulturalisten überhaupt nicht mitbekommen. Ich bin durchaus für
Diversität, aber nicht, wenn sie auf Kosten der wirtschaftlichen Gerechtigkeit
geht. Cornel West ist einer der großen Vorreiter nicht nur der schwarzen
Predigertradition, der wichtigsten geistigen Tradition unserer Geschichte,
sondern auch der Forderung nach Gerechtigkeit in allen ihren Formen. Ohne
wirtschaftliche Gerechtigkeit kann es keine Rassengerechtigkeit geben.
Und während die
Institutionen der Elite aus Alibigründen ein paar neue Gesichter in ihre
Hierarchie eingesprenkelt haben, sind sie zugleich wie die Berserker über die
Arbeiterklasse und die Armen, insbesondere die farbigen Armen hergefallen.Ein Großteil der Linken fiel auf den Trick mit der
Identitätspolitik herein. Es war eine Art Schickimicki-Aktivismus. Er
tastete das Konzernsystem, das wir doch zerstören müssen, nicht an. Er
schminkte ihm ein freundliches Gesicht.
DN: Die World Socialist Web Site hat die Frage der Ungleichheit ins Zentrum ihrer Berichterstattung
gestellt.
CH: Das ist der Grund, warum ich sie lese und mag.
DN: Um noch einmal auf die Russlandfrage zurückzukommen:
Wie wird das Ihrer Meinung nach weitergehen? Wie ernst nehmen Sie diesen
Angriff auf demokratische Rechte? Wir sprechen von einer neuen Hexenjagd im
Stile McCarthys. Halten Sie diese Analogie für gerechtfertigt?
CH: Ja, natürlich handelt es sich um eine Neuauflage von
McCarthy. Doch wir sollten uns eingestehen, dass unsere Stimmen praktisch
bedeutungslos sind.
DN: Da bin ich anderer Meinung.
CH: Bedeutungslos in dem Sinne, dass wir innerhalb des
Mainstreams nicht wahrgenommen werden. Wenn ich in Kanada bin, werde ich zur
besten Sendezeit von
DN: Ich halte es für einen großen Fehler, sich auf das
Gefühl der Isolation oder Ausgrenzung zu fixieren. Ich möchte Ihnen etwas
prophezeien: Sie werden, eher früher als später, mehr Interviewanfragen und
Fernsehauftritte bekommen. Wir befinden uns in einer Zeit eines kolossalen
politischen Zusammenbruchs. Wir werden erleben, dass die Arbeiterklasse mehr
und mehr als starke politische Kraft hervortritt.
CH: Deshalb haben sie es ja auf uns abgesehen. Der
Bankrott der herrschenden Ideologie und der Bankrott der amerikanischen
Liberalen und Linken bedeutet, dass diejenigen zum Schweigen gebracht werden
müssen, die an theoretischer Gründlichkeit und einer Analyse der Machtsysteme
einschließlich Wirtschaft, Kultur und Politik festhalten.
Quelle: http://www.wsws.org/de/articles/2017/10/12/hedg-o11.html