Ukrainekrieg: Westen empfiehlt jetzt Strategie der Eindämmung
Washington und Berlin dringen laut einem Bericht auf
Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau. US-Experten fordern Übergang vom Krieg
zu „Strategie der Eindämmung“ gegen Russland.
In Deutschland und in den Vereinigten Staaten wächst der Druck auf Kiew,
sich Verhandlungen mit Moskau über einen Waffenstillstand nicht mehr zu
verschließen. Die Regierungen beider Länder streben, wie Ende vergangener Woche
berichtet wurde, den Übergang zu solchen Verhandlungen an, wünschen aber, dass
Kiew sie selbst einleitet, ohne öffentlich dazu aufgefordert zu werden. Eine
Aufforderung gäbe die stetige Behauptung des Westens, die Ukraine bestimme
eigenständig über ihr Vorgehen, der Lächerlichkeit preis. Der Plan, Gespräche
mit Moskau anzubahnen, trägt dem Scheitern nicht nur der Kiewer Gegenoffensive,
sondern auch der westlichen Russland-Sanktionen Rechnung: Da es nicht gelingt,
den ukrainischen Streitkräften zum Sieg auf dem Schlachtfeld zu verhelfen oder
Russland ökonomisch niederzuringen, wird von Experten schon seit einiger Zeit
der Übergang zu einer Politik der Eindämmung empfohlen. Diese soll den
aktuellen militärischen Stand einfrieren, ohne ukrainische Gebiete formell an
Russland abzutreten. Begleitet werden soll sie von einer massiven Aufrüstung
der NATO. Für Deutschland fordern Experten einen „Mentalitätswechsel“; Berlin
dringt auf „Kriegstüchtigkeit“.
Das Ende des magischen Denkens
Bereits am 16. November hatten Eugene Rumer, ein
ehemaliger Russland-Experte der US-Geheimdienste, und Andrew S. Weiss, ein Russland-Experte der US-Regierungen von George
H.W. Bush und William Clinton, in einem Beitrag für das Wall Street Journal
ausdrücklich einen Schwenk zu einer „Strategie der Eindämmung“ gegenüber
Russland gefordert. Im Westen hätten sich die Regierungen allzu häufig
„magischem Denken“ hingegeben, schrieben Rumer und Weiss: Man habe „auf Sanktionen gesetzt“, darauf, „Russland
diplomatisch zu isolieren“, auf „eine erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive“,
auf „neue Waffentypen“ ; ein Beispiel für Letzteres
war die deutsche Begeisterung für die Lieferung von Kampfpanzern des Typs
Leopard („free the Leopards!“). Nichts davon habe zum Erfolg geführt, halten
die beiden Experten fest; die Gegenoffensive sei gescheitert, die russische
Wirtschaft stehe besser da als gedacht, Präsident Wladimir Putin werde von der
Bevölkerung weiterhin unterstützt. Man müsse daher einen Kurswechsel einleiten
und sich auf einen langfristigen Machtkampf einstellen. Dazu müsse die Ukraine
weiter gefördert und hochgerüstet werden; die Sanktionen gegen Russland müssten
in Kraft bleiben; es gelte Moskau konsequent zu isolieren. Anstatt auf schnelle
militärische Erfolge der Ukraine zu hoffen, müssten die NATO-Staaten sich
selbst massiv hochrüsten – gegen Russland.
Ein Mentalitätswechsel
Eine solche massive Hochrüstung haben erst vor kurzem zwei Experten von der
Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) gefordert. Demnach
benötigen die NATO sowie die Bundesrepublik „eine Strategie, die auf
frühestmögliche Abschreckung setzt“ und bereits in wenigen Jahren auf
hochgerüstete Streitkräfte zurückgreifen kann. Dazu sei ein „Quantensprung“
notwendig, heißt es: Die Bundesregierung müsse „binnen kürzester Frist die
Bundeswehr personell stärken“, „die Rüstungsproduktion ausweiten“ und vor allem
„die Resilienz verbessern“. „Voraussetzung dafür ist ein Mentalitätswechsel in
der Gesellschaft“, heißt es in dem DGAP-Papier. Dieser aber könne nur dann
eingeleitet werden, „wenn die Gesamtverteidigung ein Teil des Alltags von
Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft wird“. Dazu müsse man die Bevölkerung
in den Prozess einbinden, was „über Wettbewerbe, Weiterbildungen,
Trainingscamps“ oder „andere interaktive Formate“ geschehen könne. Denkbar sei
„ein verpflichtendes Praktikum für alle in Deutschland lebenden Menschen im
Alter von 18 bis 65 Jahren“ auf dem Feld der „Gesamtverteidigung“. Der
Forderung nach einem Mentalitätswechsel entspricht, dass
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius die
deutsche Gesellschaft „kriegstüchtig“ sehen will und die neuen
Verteidigungspolitischen Richtlinien dies ausdrücklich unterstützen.
Ziele und Mittel
Mit Blick auf die Lage in der Ukraine haben am 17. November zwei weitere
einflussreiche US-Experten auf der Website der Zeitschrift Foreign
Affairs Überlegungen zur US-Strategie präsentiert.
Richard Haass, ehemaliger Präsident des Council on Foreign Relations, und Charles Kupchan,
Ex-Mitarbeiter des Nationalen US-Sicherheitsrats unter Präsident William Clinton,
urteilen, Kiew und der Westen befänden sich „auf einem nicht länger haltbaren
Pfad“. Die ukrainischen Kriegsziele – die Rückeroberung der Krim und des Donbass – seien „strategisch außer Reichweite, sicherlich
für die nahe Zukunft und sehr wahrscheinlich auch darüber hinaus“. Zudem habe
„die politische Bereitschaft, der Ukraine weiterhin militärische und
wirtschaftliche Unterstützung zukommen zu lassen, sowohl in den USA als auch in
Europa zu erodieren begonnen“. Die „grelle Diskrepanz zwischen den Zielen und
den verfügbaren Mitteln“ steche ins Auge. Die Vereinigten Staaten müssten nun
mit der Ukraine zusammenarbeiten, um „zu einer neuen Strategie überzugehen, die
die militärischen und die politischen Realitäten widerspiegelt“. Unterbleibe
dies, dann drohe Kiew langfristig die Unterstützung des Westens insgesamt zu
verlieren, mit sehr weit reichenden Folgen, warnen die beiden Autoren.
Vom Angriff zur Verteidigung
Als unumgänglich erachten Haass und Kupchan dabei die Bereitschaft der Ukraine, „einen Waffenstillstand
mit Russland auszuhandeln“ und zugleich ihren militärischen Schwerpunkt „vom
Angriff zur Verteidigung“ zu verlagern. Es gehe nicht darum, Territorium
offiziell aufzugeben, erläutern die Autoren. Kupchan
hatte bereits im Juni ausdrücklich darauf hingewiesen, dass
man die Kämpfe einstellen, jedoch zugleich am Anspruch auf Territorien
festhalten kann; als „historische Analogie“ hatte er die Bundesrepublik
genannt: Diese hatte während des Kalten Kriegs den Anspruch auf das Territorium
der DDR in der Tat nie aufgegeben. Als weitere Parallele gilt Korea, wo seit
Jahrzehnten Waffenstillstand herrscht, ohne dass Südkorea je auf seinen
Anspruch auf den Norden verzichtet hätte. Wie Haass
und Kupchan urteilen, müsse die Ukraine jetzt
allerdings „anerkennen, dass ihre kurzfristigen Prioritäten vom Versuch, mehr
Territorium zu befreien, sich verschieben müssen zur Verteidigung und zur
Wiederherstellung von mehr als 80 Prozent des Landes, das sie immer noch unter
Kontrolle hat“. Dazu sei ein Waffenstillstand hilfreich, womöglich sogar nötig.
Nicht zuletzt werde ein solches Vorgehen „demonstrieren“, dass Kiew eine
„anwendbare Strategie mit erreichbaren Zielen“ habe; das werde auch helfen,
langfristig westliche Unterstützung zu sichern.
„Aus freien Stücken“
An die Gedankengänge knüpfen nicht nur Überlegungen an, die vor kurzem ein
ehemaliger Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Zelenskyj,
Oleksij Arestowytsch, in
einem Interview mit der Zeitschrift Stern geäußert hat. Arestowytsch sprach von einer „Sackgasse auf dem Schlachtfeld“, urteilte, es
sei an der Zeit, „sich an den Verhandlungstisch zu setzen“, und plädierte
dafür, sich am Vorbild der Bundesrepublik in den Jahren des Kalten Kriegs zu
orientieren:
„Die Rückkehr der besetzten Territorien“ könne man „auf politischem Wege verfolgen“
Auch Pläne der
US-amerikanischen sowie der deutschen Regierung, über die Ende vergangener
Woche das Springer-Blatt Bild berichtete, entsprechen dem Modell. Demnach gilt
nun die Einleitung von Verhandlungen mit Russland als Ziel. Allerdings solle
der ukrainische Präsident „selbst zu der Erkenntnis kommen“, dass es „so nicht
weitergeht“, wird ein Berliner Insider zitiert: Zelenskyj
„soll sich aus freien Stücken an seine Nation richten und erklären, dass man
verhandeln muss“. Dies gilt als unumgänglich, da es im Westen bislang immer
hieß, man richte sich stets nach dem ukrainischen Willen und mache Kiew
keinerlei Vorgaben; eine Abkehr davon wäre dem Publikum schwer zu verkaufen.
Druck
Allerdings sollen Vorkehrungen getroffen werden, die geeignet sind, Zelenskyj zu der vom Westen gewünschten Kurskorrektur zu
veranlassen. So heißt es, es sollten bloß exakt so viele Waffen geliefert
werden, wie sie zur Verteidigung erforderlich seien. Zudem wird als Alternative
„ein eingefrorener Konflikt ohne Einvernehmen der Konfliktparteien“ in Aussicht
gestellt. Er würde die Ukraine aufreiben und Kiew wohl früher oder später zum
Nachgeben zwingen. Offiziell wird der Inhalt des „Bild“-Berichts noch
dementiert. Von Experten jedoch wird ein Waffenstillstand immer häufiger
gefordert – seltener in Deutschland, öfter in den USA.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9416.