Welches Syrien ist gemeint?
von Karin Leukefeld
»Damaskus wird brennen. In
ganz Syrien wird gekämpft. Selbst in der eigenen Wohnung ist niemand sicher.
Menschen werden gedemütigt, verschleppt, auf offener Straße getötet. Das ist
Syriens Alltag.«
Mit diesen Worten wird ein
ganzseitiger Beitrag des syrischen Schriftstellers Fawwaz Haddad eingeleitet,
den die Frankfurter Allgemeine Zeitung kürzlich (5.2.2013) veröffentlichte. Was
folgt ist eine fulminante Klage, die der Schriftsteller geradezu wie einen Fluch
über seine Heimat schleudert. Schockiert und zornig beschreibt Haddad in seinem
Essay Bilder, die Internet und Fernsehsender seit Monaten in alle Welt
ausstrahlen und auf denen »Häuser, Bäckereien, Moscheen und Kirchen zerstört
werden. Scharfschützen verschonen weder Kinder noch Frauen, noch alte Menschen,
Bomben fallen auf Felder, Bäume und Vieh.« Für Haddad sind die Verantwortlichen
dieses Elends klar. Es sind die vom Staat gezüchteten »hasserfüllten Milizen«
und eine Armee, die »zu einer Bande von Räubern« verkommen sei. Das Regime habe
»willentlich« Chaos geschaffen und das Volk »den Schlächtern seines
Sicherheitsapparates überantwortet«, schreibt Haddad.
Niemand kann den Schmerz
eines Menschen über die Zerstörung seiner Heimat nachempfinden und bevor ich
fortfahre, versichere ich dem Schriftsteller meinen Respekt. Dennoch frage ich
mich, welches Syrien der Autor beschreibt? Als Syrer müsste er besser wissen
als ich, eine ausländische Reporterin, dass der Krieg in Syrien viele Facetten
hat. Es gibt das Elend, das er beschreibt, doch es gibt noch viel mehr. Warum
würdigt er nicht die Menschen, die Zehntausende Inlandsvertriebene in ihren
Gemeinden willkommen geheißen haben, wie in Tartus, Lattakia, Sweida oder
Qariyatayn östlich von Homs. Warum schreibt er nicht über die Bauern, die
inmitten der Unsicherheit ihre Felder und Obstplantagen bestellen, um die
Märkte und Menschen zu versorgen. Die Bäcker, die 24 Stunden am Tag backen, die
Elektrotechniker, die oft unter Lebensgefahr zerstörte Leitungen und Transformatoren
reparieren, die Fahrer, die Schulkinder, Angestellte und Reisende weiterhin Tag
für Tag transportieren?
»Syrien befreit sich nach und
nach, die befreite Fläche wächst, auch wenn dies mit Strömen von Blut erkauft
wird«, schreibt der renommierte Schriftsteller. Doch welche »befreite Fläche«
meint er? Und »befreit« von wem?
Besser als die Autorin müsste
der Syrer Fawwaz Haddad wissen, dass in den Dörfern um Idlib und Aleppo viele
Menschen vor den »Befreiern« flohen, weil sie ihre Schulen zu Militärstützpunkten
machten, Krankenstationen konfiszierten und einfache Polizisten zwangen zu
ihnen überzulaufen, wenn sie nicht erschossen werden wollten. Die in
nächtlichen Umzügen drohten: »Diejenigen, die das Regime unterstützen, werden
bald im Grab liegen«. Eine Studentin der Universität von Aleppo beschrieb einer
Reporterin der »Global Post« im Sommer 2012, sie habe »die Idee einer
Revolution gut« gefunden. »Wir hatten viel unter Bashar, freie
Gesundheitsversorgung, gute Ausbildung, aber ich dachte, uns steht mehr zu.
Jetzt geht alles rückwärts, mit Freiheit hat das nichts zu tun. Man sagt uns,
was wir zu denken und wie wir uns zu kleiden haben. Man bedroht uns, wenn wir
eine eigene Meinung äußern.« Dort, wo die Studentin lebte, wurde der einzige
Geldautomat zerstört, über den die Angestellten ihren monatlichen Lohn
erhielten. »Weil er von der Regierung aufgestellt worden war.«
Wie kann es sein, dass der
angesehene Schriftsteller Fawwaz Haddad nicht weiß, dass in den »befreiten
Gebieten« islamistische Gruppen und Salafisten den verbliebenen Menschen das
Leben schwer machen? Jeder Reisende, der von dort kommt, spricht über die
Banden aus Azaz. Sie stehlen den umliegenden Dörfern, wo Kurden und Jesiden
leben, das Mehl, Heizöl und Benzin. Sie überfallen Busse, entführen Menschen
und wollten sogar Jesiden töten, weil sie meinten, es handele sich um
»Ungläubige«. Das konnte glücklicherweise
von beherzten Nachbarn verhindert werden.
Warum schreibt Fawwaz Haddad
nicht über die Ältestenräte, die an vielen Orten durch das Gespräch versuchen,
die Kämpfe und die damit einhergehenden Zerstörungen zu beenden? Warum erwähnt
er nicht die unzähligen Intellektuellen, Priester und Imame, Studierenden und
Künstler, die mitten im Krieg Initiativen starten, um ihre Gesellschaft zu
retten? Die Seminare organisieren, um die Bedeutung einer aktiven
Zivilgesellschaft zu vermitteln, wie es die Bewegung »Den syrischen Staat
aufbauen« in Sweida, Damaskus, Homs, Lattakia und Aleppo tut?
Woher weiß Fawwaz Haddad nur,
dass es in Damaskus »370 Kontrollpunkte« und »neunzig Hochhäuser mit
Scharfschützen« gibt? Hat er sie gezählt? Und warum verliert er kein Wort über
die finanzielle und militärische Unterstützung, mit der die Türkei, Saudi
Arabien und Katar den Krieg anheizen?
Viele Fragen hätte ich an den
Schriftsteller Haddad, der mittlerweile sein Land verlassen hat und einige
Monate Zeit zur Reflexion im Golfstaat Katar weilte. Mit seinem Essay wolle er
»das Recht« der Syrer »auf Freiheit und ein Leben in Würde« ausdrücken, doch
nicht einmal heißt es in dem Text: Syrien wird leben. Das ist, was ich als
Reporterin von den Menschen gehört habe, die in Syrien zwischen den Fronten
ausharren. Die einander helfen. Die in ihren Wohnungen zusammen rücken, um
anderen Zuflucht zu geben. Die – noch immer – auf die Vernunft derjenigen
warten, die ihnen diese Tragödie eingebrockt haben. Das ist Syriens Alltag. Ein
Land wird zerstört durch Gewalt und die Arroganz der Macht. Und durch eine
unerträglich einseitige Darstellung dessen, was geschieht. Als Schriftsteller
hat man vielleicht das Recht zur Einseitigkeit, als Reporterin nicht.
Die Autorin ist freie
Journalistin und berichtet für »nd« aus Syrien.
http://epaper.neues-deutschland.de/eweb/nd/2013/02/16/a/26/656317/