Klimadebatte der Grünen
"völlig verkürzt" Sarah Wagenknecht
in einem Fokus-Interview
FOCUS: Die Grünen argumentieren
hoch moralisch. Ist das nicht, wenn man sich deren Zustimmungswerte anschaut,
ein Erfolgsrezept?
Wagenknecht: Ein Klimaschutz,
der zulasten der Mittelschicht und der Ärmeren geht, statt sich mit den
globalen Konzernen anzulegen, ist weder moralisch noch wirkungsvoll. Außerdem führt dieser Ansatz, der schon beim Erneuerbare-Energien-Gesetz
verfolgt wurde, dazu, dass es für Umweltpolitik weniger Rückhalt gibt.
FOCUS: Die Klimafrage scheint
zurzeit allerdings alles andere zu verdrängen.
Wagenknecht: Ich finde, dass die
Klimadebatte, wie die Grünen sie führen, völlig
verkürzt ist.
Wagenknecht betont "klimazerstörenden Effekt der
Globalisierung"
FOCUS: Wieso?
Wagenknecht: Menschen, die
aufs Auto angewiesen sind, weil in ihrer Region kein Zug und kein Bus mehr
fährt, taugen nicht zum Feindbild. Nicht jeder kann sich eine Wohnung in hippen Großstadtbezirken leisten, wo man gut mit dem Fahrrad zum Job kommt.
Und der klimaschädliche Ausstoß einer
Durchschnittsfamilie, die sich einmal im Jahr eine Flugreise leistet und öfter
Fleisch isst, steht in keinem Verhältnis zum klimazerstörenden Effekt der
Globalisierung, in deren Rahmen Konzerne ihre Produkte teilweise mehrfach über
riesige Distanzen verschiffen, um immer dort zu produzieren, wo die Löhne am
niedrigsten und die Standards am schlechtesten sind.
Ein anderes Beispiel: Viele große Unternehmen
konstruieren ihre Produkte bewusst so, dass sie schnell wieder kaputtgehen,
„quick and dirty“ bringt Rendite, und man kann schnell das nächste Modell in
den Markt drücken. Eine unglaubliche Verschwendung!
Würden alle Gebrauchsgüter doppelt so lange halten,
würde ihre Produktion halb so viel Treibhausgase erzeugen.
Klimapläne der Grünen "elitär" und
"arrogant"
FOCUS: Ist es nicht ein guter
Ansatz, von jedem zu verlangen, dass er wegen des Klimaschutzes aufpassen soll,
was er kauft und was er isst?
Wagenknecht: Ja, wer das kann,
sollte es tun. Aber viele Leute können sich den Bioladen nicht leisten. Deshalb
ist es falsch, den Konsum in den Mittelpunkt zu stellen und wie die Grünen
Umweltpolitik zu einer Frage des Lifestyles zu machen. Das ist ein elitärer
Ansatz. Wenn jetzt etwa die CO2-Steuer zur Hauptforderung in der Klimadebatte
wird, dann geht das wieder zulasten der Ärmeren und der Mitte, die schon heute
einen immer größeren Teil ihres Budgets für Strom und Benzin ausgeben müssen.
Wann haben die Grünen interveniert, als die Bahn auf
Börsenfähigkeit getrimmt wurde? Das hat dazu geführt, dass in ländlichen
Gegenden viele Bahnstrecken stillgelegt wurden. Dann auf die Leute
herabzublicken, die in diesen Regionen leben und ihr Auto brauchen, ist
arrogant.
FOCUS: Das klingt, als stünden
Sie als Linke dem Diesel-Fahrer aus der Provinz näher als dem progressiven
Grafikdesigner in Prenzlauer Berg.
Wagenknecht: Links heißt,
nicht die Interessen der Eliten zu vertreten, sondern die der abstiegsbedrohten
Mitte und der Ärmeren. Eine Politik, die die Situation dieser Menschen weiter
verschlechtert, ist für mich nicht tragbar.
Grünen-Wähler als Elite?
FOCUS: Die Grünen-Wähler sehen
Sie als Eliten?
Wagenknecht: Die Grünen werden heute
überwiegend von besser verdienenden Akademikern gewählt. In diesem Milieu gehören
häufige Fernreisen zum Lebensstil. Da fällt es relativ leicht, in Zukunft
vielleicht auf den einen oder anderen Flug zu verzichten. Die sind in einer
ganz anderen Situation als Leute, die sich vielleicht jedes Jahr einen Urlaub auf Mallorca leisten können und jetzt fürchten, dass selbst das nicht mehr
erschwinglich ist.
FOCUS: Machen wir es einmal
praktisch: Wie sähe denn eine Energiewende nach den Vorstellungen von Sahra
Wagenknecht aus?
Wagenknecht: Wir brauchen viel
mehr staatliches Geld zur Erforschung neuer Technologien. Alle grundlegenden technologischen Durchbrüche wurden bisher vom Staat
finanziert, wie die Ökonomin Mariana Mazzucato in ihrem Buch „Das Kapital des
Staates“ nachweist. Das ist mein Vorwurf an die Bundesregierung: Die
Stromkunden zahlen Milliarden für die erneuerbaren Energien. Ein großer Teil
davon fließt aber an Großgrundbesitzer, auf deren Land die Windräder stehen,
statt in die Erforschung besserer Solarmodule oder völlig neuer technologischer
Ideen, die wir dringend brauchen.
"Technologiewandel im großen Maßstab kann nur der
Staat voranbringen"
FOCUS: Warum sollte das der
Staat machen?
Wagenknecht: Technologiewandel im
großen Maßstab kann nur der Staat voranbringen, privatem Kapital ist die
Erforschung von echtem Neuland schlicht zu unsicher. Die Big Five der digitalen
Ökonomie sind nicht zufällig in den USA entstanden. Der Staat hat das Silicon
Valley massiv unterstützt. In diesem Punkt hat Deutschland – und leider auch
Europa – weitgehend versagt.
FOCUS: Einen Kohleausstieg gäbe
es auch mit Ihnen?
Wagenknecht: Wir müssen raus aus den
fossilen Energien, aber die erneuerbaren können den Bedarf heute noch nicht
decken. Wenn wir das ändern wollen, brauchen wir neue technologische Ideen.
Seriöse Umweltpolitik bei den Grünen? "Ein
Irrtum"
FOCUS: Verstehen Sie die Leute,
die in der Lausitz für Tagebaue und Kohlekraftwerke kämpfen?
Wagenknecht: Ja. In der
Lausitz etwa gibt es sonst keine Branche, bei der man einen halbwegs gut
bezahlten Job finden kann. Der Markt richtet das nicht. Dafür braucht es kluge
staatliche Ansiedlungs- und Förderpolitik für Industriearbeitsplätze.
FOCUS: Um dieses Milieu kümmern
sich die Grünen Ihrer Meinung nach also kaum?
Wagenknecht: Das sind nicht ihre
Wähler. Im Übrigen ist es ein Irrtum anzunehmen, seriöse Umweltpolitik wäre bei
den Grünen in guten Händen. Wir erleben doch immer
wieder, dass sie dort, wo sie regieren, das Gegenteil von dem machen, was sie
vorher verkündet haben.