Russland zu Fragen Krieg
-Frieden
«Wir würden Krieg gerne
vermeiden – das ist das Wichtigste!»
Interview mit Pjotr O. Tolstoi*,
Stellvertretender Vorsitzender der Russischen Staatsduma
Zeit-Fragen Nr. 11 v. 07. Mai 2019
In Zeit-Fragen Nr. 8 vom 26. März berichteten wir über die Konferenz
«Niemals vergessen – Frieden und Wohlstand statt Kriege und Armut» in
Belgrad. Pjotr O. Tolstoi, der Vize-Vorsitzende der Russischen Staatsduma, war
innerhalb einer grossen russischen Delegation einer der Referenten. Am Rande
der Konferenz führte Zeit-Fragen mit ihm das folgende Interview.
Zeit-Fragen: Welchen persönlichen Bezug haben Sie zum
Nato-Angriffskrieg auf die Bundesrepublik Jugoslawien?
Pjotr Olegowitsch Tolstoi: Vor zwanzig Jahren arbeitete ich als Journalist für das russische
Fernsehen. Als die Bombardierungen begannen, stand ich jeden Tag in direktem
Kontakt mit Belgrad. Ich erinnere mich zum Beispiel sehr gut daran, dass ich
vom Studio in Moskau direkt in einer Live-Sendung mit meinem Freund Jewgeni
Baranov, ebenfalls Journalist und auch bei dieser Konferenz anwesend, verbunden
war, als die Bomben auf das Gebäude des serbischen Fernsehens abgeworfen
wurden. Plötzlich war der Ton weg, die Leitung war tot.
Für mich war das auch eine ernsthafte berufliche
Herausforderung, denn damals arbeitete das russische Fernsehen ohne
Ersatzprogramm. So hatte ich dreissig Minuten Sendezeit vor mir, ich hatte den
Ton und die Verbindung nach Belgrad verloren und musste als Moderator diese
halbe Stunde live ausfüllen. Schliesslich haben wir die Situation und
insbesondere die Folgen dieses Nato-Angriffs für Russland und die
internationale Politik mit verschiedenen russischen Gästen diskutiert, die
heute auch an der Konferenz anwesend sind.
Es war eine sehr klare Lehre für das ganze Land und
für die meisten russischen Bürger. Dieser Angriff veränderte ihre Sichtweise
stark, ihre Sichtweise auf den Westen, sowohl vor als auch nach der Aggression
gegen Jugoslawien. Dies war der erste Vertrauensbruch zwischen Russland und dem
Westen. Dann war da Jewgeni Primakow, der mit seinem Flugzeug – meiner
Meinung nach zu Recht – zurückkehrte,1 was die Beziehungen zwischen dem
Westen und Russland negativ beeinflusste. Das ist sehr schade, aber leider ist
es so. Und es scheint unmöglich, das kurzfristig zu ändern.
Sie haben erwähnt, dass es Lehren aus diesem Krieg zu
ziehen gibt. Woran denken Sie dabei?
Erstens bin ich überzeugt, dass nichts eine
militärische Intervention – um das Wort Aggression zu vermeiden –
in ein souveränes Land rechtfertigt: weder humanitäre Gründe, noch der Schutz
der Menschenrechte, noch der Schutz vor ethnischen Konflikten. In unserer
internationalen Politik gehen wir von diesem Prinzip aus.
Und ich kann Ihnen sagen, dass die überwiegende
Mehrheit der Mitglieder der Interparlamentarischen Union (IPU, Organ der
Vereinten Nationen) eine von Russland eingebrachte Resolution unterstützt hat.
Diese besagt, dass es verboten ist, sich auf diese Weise in die inneren
Angelegenheiten eines souveränen Landes einzumischen. Wir bestehen darauf
nicht, weil wir selbst von solchen Interventionen bedroht wären. Nein, denn
dank des Erbes der UdSSR verfügt Russland glücklicherweise über Atomwaffen, so
dass wir dieser Bedrohung nicht ausgesetzt sind.
Doch wir alle haben die Veränderungen gesehen, die in
mehreren europäischen Ländern stattgefunden haben, aber auch in Afghanistan, im
Irak und in Libyen, wo die Demokratie nicht verbessert wurde. Wenn solche
Interventionen eingeleitet werden, geht man immer von guten Prinzipien aus, die
auch wir unterstützen: Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und so weiter.
Haben wir heute in Afghanistan Demokratie? Oder in
Libyen? Oder in all den anderen Ländern, die angegriffen wurden?
Meiner Meinung nach hat diese Situation Präsident Putin motiviert, dem Antrag
von Bashar al-Assad auf ein Engagement in Syrien zu entsprechen. Der Grund war
nicht, dass ein Diktator Putin einen Diktator Assad unterstützen wollte.
Überhaupt nicht. Vielmehr wollte Russland die staatlichen Strukturen auf
syrischem Gebiet unterstützen. Denn ihre Auflösung hätte viel schlimmere Folgen
gehabt als jene heute in Libyen. Das Wichtigste – unabhängig vom
Schicksal Assads – war die Erhaltung staatlicher Strukturen, um den
internationalen Terrorismus zurückweisen zu können.
Außerdem meine ich, dass man sich in Europa nicht
wirklich bewusst ist, dass dies der Grund ist, weshalb heute keine
YouTube-Videos mehr zu finden sind, die zeigen, wie Menschen in orangefarbener
Kleidung geköpft werden. Die internationalen Terroristen wurden von den Russen,
Iranern und der Hizbullah aus dem syrischen Gebiet verdrängt. Dies gefällt der
Koalition von sechzig westlichen Ländern nicht, die damit im Irak begonnen
hatte. Wie auch immer, ich bin mir ganz sicher, dass es die richtige
Entscheidung war, für Syrien und für die ganze Welt, denn das ist der Weg aus solchen
Krisen heraus.
Syrien ist das erste Land, in dem es gelang, die
Terroristen zu stoppen …
… sie zurückzudrängen, man kann nicht sagen, sie zu
stoppen, denn sie sind nach Afrika gegangen, sie sind fast überall vertreten.
Aber immerhin haben wir es geschafft, ihre Aktivitäten zu begrenzen. Ich möchte
darauf hinweisen, dass die Russen auf Ersuchen der syrischen Regierung nach
Syrien gegangen sind. Unabhängig davon, was man von Assad und seiner Regierung
hält, es ist die von der Uno und somit von der internationalen Gemeinschaft
anerkannte Regierung, die Russland offiziell um Unterstützung gebeten hat. Die
russischen Streitkräfte kamen nicht auf die gleiche Weise wie die
Nato-Flugzeuge, die ihre Basis im italienischen Aviano verliessen, um im Namen
der Demokratie Bomben auf Serbien abzuwerfen.
Muss man das heute noch erklären?
So ist es! Ich betone all dies, weil in der
öffentlichen Meinung und in der westlichen Presse unrealistische Stereotypen
über die Situation in Syrien und in der Ukraine in bezug auf Russland, über
Gas, und über verschiedene andere Themen vermittelt werden … Diese
unverantwortliche Verbreitung von albernen Stereotypen verzerrt die öffentliche
Meinung erheblich.
Infolgedessen muss man den Menschen die Realitäten von
Grund auf neu erklären. Ich selbst unterhalte mich oft mit Mitgliedern anderer
europäischer Parlamente. Meine niederländischen Kollegen zum Beispiel wussten
nicht, dass die Ukraine früher zu Russland gehörte. Sie glaubten, dass sie
immer unabhängig gewesen sei und dass Russland einen Teil davon annektiert
habe. Sie wussten nicht, dass auf dem Gebiet der Ukraine zwanzig Millionen
Russen leben. Sie wussten auch nichts von der Geschichte des Landes. Als ich
anfing, ihnen Schritt für Schritt zu erklären, waren sie sehr überrascht und
sagten: Aber das ändert ja alles!
Als Gäste aus der Schweiz, die ja nicht Mitglied der
Nato ist, interessiert es uns natürlich auch sehr, wie sich Ihre Beziehungen
zur Schweiz gestalten?
Wir haben sehr gute Beziehungen zur Schweiz.
Anlässlich eines Frühstücks traf ich Herrn Yves Rossier, den Schweizer
Botschafter in Moskau. Die Schweiz versucht immer noch, als Vermittler zwischen
dem Westen und Russland zu fungieren.
Auch bei den Sanktionen?
Ja, aber politisch kann ich Ihnen sagen, dass wir
trotz der gegenseitigen Besuche, an denen ich teilgenommen habe – des
Präsidiums des Schweizer Parlaments in Moskau und des Präsidiums des russischen
Parlaments in der Schweiz –, derzeit keine interparlamentarische Arbeit
zwischen den beiden Parlamenten haben. Gründe dafür sind die Sanktionen gegen
Russland und die politische Zurückhaltung unserer Schweizer Kollegen. Aber wir
verstehen sie gut. Die Versuche der Schweiz, den Status der Neutralität zu
erhalten, sind interessant. Die Schweiz ist ein Land, das in der Vergangenheit
oft Schauplatz schwieriger Verhandlungen war, in denen grundlegende Abkommen
zur internationalen Sicherheit unterzeichnet wurden.
Auch wir in der Schweiz sind natürlich in Sorge wegen der Kündigung des
Seit dem Rückzug der Vereinigten Staaten aus dem
Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (
Was kann Ihrer Meinung nach getan werden, um diese
Situation zu verbessern?
Das ist sehr schwierig. Es muss uns gelingen, die
Klischees in der öffentlichen Meinung zu korrigieren, zu überwinden, alles
wieder auf Null zu bringen und sich wieder an den Verhandlungstisch zu setzen.
Manchmal wird vorgeschlagen, den Jalta-Vertrag zu erneuern. Aber vor Jalta war
Krieg. Wir würden Krieg gerne vermeiden, jegliche militärischen Konflikte
vermeiden. Das ist das Wichtigste.
Die Rückkehr an den Verhandlungstisch ist bei weitem
die beste Lösung.
Wir sind bereit! Dafür sind wir offen. Russland
betont dies, Putin sagt es bei jeder Gelegenheit, der Aussenminister und ich
als Mitglied des Präsidiums des Parlaments betonen es bei allen unseren
internationalen Treffen. Auf parlamentarischer Ebene sind wir zum Beispiel mit
den Amerikanern im Gespräch, die in der OSZE in Wien gerne mit den russischen
Delegationen zusammentreffen. Wir diskutieren über viele Dinge, aber die
Schwierigkeit besteht darin, die Welle von Stereotypen zu überwinden, mit denen
man heute in den meisten Medien, in der internationalen Politik und auch bei
zahlreichen Politikern konfrontiert ist.
Wir hoffen also, dass sich das früher oder später
ändern wird, sonst ist ein militärischer Konflikt unvermeidlich. Und wir wollen
nicht, dass das passiert.
Deutschland spielt im Konflikt zwischen der Nato und Russland eine grosse
Rolle. Wie beurteilen Sie die deutsch-russischen Beziehungen?
Wir haben sehr gute Beziehungen zu Deutschland. Es ist
unser wichtigster Wirtschaftspartner in Europa. Gemeinsam verwirklichen wir ein
sehr wichtiges Projekt für ganz Europa, die Gaspipeline Nord Stream 2, die
von einigen übrigens als politische Waffe behandelt wird. Man sagt uns, es sei
der Molotow-Ribbentrop-Pakt im Gasbereich und ähnlichen Unsinn. Meiner Meinung
nach macht diese Pipeline die deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähiger, denn
unser Gas ist 40 % billiger als das amerikanische Flüssiggas. Ich hoffe
daher, dass sich das russische Gas langfristig positiv auf die Wirtschaft ganz
Europas auswirken wird.
Welche Rolle spielen direkte Kontakte zwischen den
Bürgerinnen und Bürgern unserer Länder, zum Beispiel in Form von
Städtepartnerschaften, angesichts der oben genannten
Verständigungsschwierigkeiten?
Wir gehen vom Prinzip aus, je mehr Kontakte, desto
besser. Während der Fussballweltmeisterschaft 2018 kamen Hunderttausende
Menschen nach Russland. Sie erkannten, dass es kein Land ist, in dem man nur
Balalaika spielende Bären findet, was eines der Stereotypen ist. Das war sehr
wirkungsvoll. Wir sind daher offen für alle möglichen und denkbaren
Austauschmöglichkeiten und natürlich auch für jeden Austausch zwischen Städten.
Wir entwickeln derzeit ein Projekt für elektronische
Visa, die über den Heimcomputer bestellt werden können. Ich hoffe, dass dieser
Plan bereits nächstes Jahr umgesetzt sein wird. Russland ist offen für jeden
Austausch. Die Probleme entstehen dadurch, dass es einige Unterschiede zwischen
der Realität und den Stereotypen gibt, die in der Öffentlichkeit zirkulieren.
Die Leute denken, unser Land sei sehr weit weg, und wenn man ihnen sagt, dass
Moskau drei Flugstunden von Genf entfernt ist, fällt es ihnen schwer, das zu
glauben.
Also, wir werden sehen. Wir laden immer alle ein.
Kommt, seht euch an, wie wir leben. Wir haben sehr viele Probleme im Inneren
des Landes, das ist uns bewusst. Es ist ein riesiges Land. Aber fügen wir nicht
noch internationale Spannungen auf Ebene der internationalen Politik hinzu. Ich
hoffe, dass sich die Situation früher oder später verbessern wird – zugunsten
des Austauschs.
Herr Tolstoi, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
*Pjotr Olegovitsch Tolstoi ist Journalist, Medien-Produzent, Moderator und Politiker. Im September
2016 wurde er von der regierenden Partei Einiges Russland in die Russische
Staatsduma gewählt und bekleidet dort das Amt des Vize-Vorsitzenden. Er ist
Mitglied der Gesellschaftlichen Kammer der Russischen Föderation, deren Aufgabe
u.a. die Einbringung der Interessen der Bürger und der gesellschaftlichen
Gruppierungen in die Staatsorgane ist. 1999, zur Zeit der Nato-Bombardierungen
von Serbien, berichtete er im russischen Staatsfernsehen täglich über das
Kriegsgeschehen. Pjotr Tolstoi ist Ururenkel des Schriftstellers und
Philosophen Leo Tolstoi.
1Jevgeni Primakow, Ministerpräsident der Russischen
Föderation, befand sich am 24. März 1999 auf dem Weg in die Vereinigten
Staaten, um einen offiziellen Besuch in Washington zu machen. Als er von den
ersten Nato-Bomben auf Belgrad erfuhr, befahl er dem Kapitän seines Flugzeugs,
als Zeichen des Protests sofort nach Moskau zurückzukehren.
(Übersetzung aus dem Französischen Zeit-Fragen)