Russland mit anderen Augen betrachtet

 

Seit meiner Kindheit habe ich Kontakte zu russischen Freunden, habe Russisch studiert, war Lehrer, später nach meinem 4-jährigen 2. Direktstudium Außenpolitik mehrere Jahre in der Abteilung sozialistische Länder tätig und habe mich dabei auch mit Russland beschäftigt.

 

Russland war das 1. Land auf der Erde, das die Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels in die Praxis umgesetzt hat und über 70 Jahre eine andere Gesellschaftsordnung ohne Unterdrückung der Arbeiterklasse und Bauernschaft praktizierte.

Seit dem offenen Verrat Gorbatschows aber, diskutiert man sogar unter einigen Linken ernsthaft darüber, ob denn die Oktoberrevolution demokratisch genug war, da sie ja, hier wird an die Ermordung der Zarenfamilie erinnert, mit der Ausbeuterklasse rigoros Schluss gemacht hat. Dass die Ausbeuterklasse nie Rücksicht auf die Volksmassen genommen hat ( durch zügellose Ausbeutung wurden Hunger und früher Tod der Betroffenen billigend in Kauf genommen !) wird von den betroffenen Linken geflissentlich ausgeklammert.

Man bedient damit bewusst oder unbewusst die Interessen der Ausbeuterklassen und das wird zurecht als Opportunismus, beziehungsweise Revisionismus der marxistisch-leninistischen Idee bezeichnet.

Heute, nach über 20 Jahren Verrat an der Sache der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten und dem dadurch bedingten Zusammenbruch des sozialistischen Weltsystems, schauen die Menschen immer noch voller Erwartung nach Russland.

Mein Mann und ich reisen seit Jahren auch nach der so genannten Wende in dieses Land und besuchen dort unsere russischen Freunde, die wir seit DDR-Zeiten kennen.

 

Kurz zur Lage im heutigen Russland

Nach der nicht freiwilligen Machtübergabe des russischen Präsidentenamtes von Jelzin auf Putin ( nach außen sah es jedoch so aus !) hatte sich die Wirtschaft in Russland wieder stabilisiert.

Putin selbst schätzt die damalige Lage, als er die Macht übernahm, in seiner Rede an die Nation im Frühjahr 2008 wie folgt ein:

 

1.      „Ein bedeutender Teil der Wirtschaft wurde von Oligarchen oder offen kriminellen Strukturen kontrolliert. Putin führt in seiner Rede einige Fakten für den Aufschwung Russlands an:

„In den vergangenen 8 Jahren hat sich der Umfang der ausländischen Investitionen in der russischen Wirtschaft  um das Siebenfache vergrößert. Ich erinnere daran, dass in der Vergangenheit der jährliche Abfluss von Kapital 10-15- 20 und manchmal sogar 25 Mrd. US Dollar betrug. Aber im vergangenen Jahr wurde ein Rekord erzielt: ein absoluter Zustrom von Kapital von 82,3 Mrd. Dollar.

Die Fondwirtschaft entwickelte sich  fantastisch- im Vergleich zum Jahre 1999 wuchs sie um das 22- Fache ! Nach diesen Kennziffern haben wir bereits im Jahre 2006 Mexiko, Indien, Brasilien und sogar Südkorea, welches hohe Entwicklungstempi aufweist, überholt.

Im Jahre 1999 betrugen die Fondanlagen 60 Milliarden Dollar, im Jahre 2007 bereits

1 Billion 330 Milliarden US- Dollar.

Der Warenumschlag Russlands mit dem Ausland erhöhte sich um das Fünffache. Jährlich fahren 6 Millionen unserer Bürger ins Ausland.“

 

Da ich auch nach 1989 in Russland vor allem als Dolmetscher besucht habe, stellte ich nach der Machtübernahme Putins in Russland jährlich ebenso den gewaltigen Unterschied vor allem im wieder wachsenden Lebensstandard der Bevölkerung seit Gorbatschows und Jelzins Zeiten fest.

 

In der deutschen Presse vermittelt man ein völlig einseitiges Bild über Russland.

Meist wird die Bevölkerung als völlig verarmt hingestellt, was ja auch in Bezug auf die letzten Jahre der Sowjetunion zutrifft.Aber es wird so getan, als ob all die genannten Dinge auf interne Fakten zurückzuführen wären und nicht auf die bewusste Zerschlagung des russischen Marktes durch die innere Konterrevolution  unter Gorbatschow und Jelzin sowie das ausländische Monopolkapital !!

 

Interessant für mich ist, dass es auch im heutigen Russland, das wir natürlich nicht mehr mit der Sowjetunion von damals gleichsetzen können, einzelne Überbleibsel aus sowjetischen Zeiten, sowohl positiver als auch negativer Natur, gibt wie:

-         Festhalten an geringen Mieten-, Strom- bzw., Telefonkosten aber auch

      an den schon im Sozialismus bemängelten und teilweise ungerechtfertigten

-         Unterschieden zwischen Löhnen der Intelligenz und der arbeitenden Bevölkerung

Deshalb kann man auch heute noch einen Lohnunterschied von ca. 5000 Rubeln bei Ärzten

( die natürlich heute meistens noch Privatpatienten haben und sich von ihnen ihre Dienste gut bezahlen lassen ), aber auch Lehrern ( diese bekommen in etwa das Gleiche ) und Arbeitern in Betrieben, die ca. 20 000 -25000 Rubel erhalten, feststellen, was sich dann auch in entsprechenden größeren Unterschieden bei Renten ausdrückt.

Ein Arzt, beziehungsweise Ingenieur, aber auch Militärangehörige, bekommen heute  ca. 6000 -8000 Rubel Rente, während z. B. ein Arbeiter ca. 12 000 Rubel erhält.

 

Angehörige des Großen Vaterländischen Krieges bzw. Leningradveteranen, die die faschistische Belagerung überlebt haben, erhalten ca. 15 000-20 000 Rubel.

Das Rentenalter liegt immer noch sehr tief.

Die Frauen erhalten eine Rente mit 55 Jahren, während die Männer bis vor kurzem noch mit 60 Jahren in Rente gehen konnten. Seit Januar 2009 steht das Renteneintrittsalter bei 61,5 Jahren. In sensiblen Bereichen, wie z.B. im Bergbau, in der Chemieindustrie oder beim Militär, ging man vor kurzem noch mit ca. 48 Jahren in Rente. Auch hier hat man das Renteneintrittsalter auf 1,5 Jahre angehoben.

Aber alle Rentner können beliebig zuverdienen und in ihrem alten Beruf weiterarbeiten.

Rentner haben folgende Vergünstigungen:

. Sie zahlen nur 50% an Miete, Strom, Gas oder Wasser

. Für einen geringen monatlichen Beitrag von ca. 360 Rubeln können sie die Metro, den Bus,

  bzw. die Straßenbahn nutzen, bzw. sie erhalten bei Nichtbenutzung dieser Karte, den Betrag

  zu ihrer Rente zugerechnet.

  Bei Invalidenrentnern gilt diese Karte auch außerhalb für Regionalzüge und Busse !!

 

Auch die heutige Nomenklatura in der Politik ( Putin, Medwedjew ) halten an der bewährten Steigerung des sozialen Wohlstands der Bevölkerung fest.

So sind in den vergangenen 3 Jahren die Renten 3 Mal gestiegen.

Die Kinder bekommen vielerorts Schulspeisung (Frühstück und Mittagessen), da die gering Verdienenden (pro Person in der Familie wird bei der Berechnung von 4000 Rubeln ausgegangen, d.h. bei einer Familie mit 2 Kindern wären das 16000 Rubel ) für dieses Essen nichts zu bezahlen brauchen.

Junge Mütter erhalten beim 1. Kind eine einmalige Unterstützung von 30 000 Rubeln und 1,5 Jahre 40 % ihres vormaligen Verdienstes, wenn sie ihr Kind zu Hause erziehen wollen.

Die Rentner können auf Antrag kostenlos zur Kur fahren, wobei natürlich Angehörige des Großen Vaterländischen Krieges bevorzugt werden.

Von 10-16.00 Uhr erhalten Pensionäre Ermäßigungen beim Einkauf.

Geringverdienende brauchen in großen Kaufhäusern bei Vorlage eines Berechtigungsscheines auf alle wichtigen Lebensmittel 5 % weniger zu bezahlen.

Besondere Fürsorge genießen alle diejenigen, die längere Zeit in Sibirien gearbeitet haben.

So kann eine Frau mit 2 Kindern und 20-jähriger Tätigkeit in Sibirien bereits mit 50 Jahren in Rente gehen, bei weniger Jahren Arbeit in Sibirien wird das dementsprechend auf das Rentenalter angerechnet.

Für Militärangehörige gilt außerdem die Regelung, dass für alle, die noch im Beruf stehen, bei einer Überfahrt des sibirischen Territoriums, diese Reise kostenlos ist, d.h. man bekommt von der jeweiligen Institution die Kosten zurückerstattet.

Es hat sich mittlerweile bei Firmen in Deutschland, die mit Russland kooperieren durchgesprochen, dass ausgebildete Fachkräfte ( z. B. Programmierer bzw. Fachdolmetscher u.a. in Russland oft das gleiche Gehalt wie in Deutschland erhalten, bzw. sogar mehr.

Ich zitiere dabei aus Russland aktuell vom 11.9.2009 den deutschen  Personalberater von Scherl & Partner:

„Russland ist jedenfalls kein Land zum Sparen und gute Mitarbeiter haben überall ihren Preis...

Für einen russischen Niederlassungsleiter oder Geschäftsführer in Moskau muss man auch heute noch ein monatliches Festgehalt ( ohne zusätzliche Boni wie Firmenwagen usw. ) ca. 6000 Euro (+- 2000 ) netto veranschlagen.

Ein guter Manager oder Vertriebsingenieur darf ohne weiteres mit einem fixen Monatsgehalt netto ( ohne Boni ) in Höhe von ca. 3000 Euro ( +- 1000 ) rechnen. Einen guten auptbuchhalter oder Leiter der Finanzabteilung beispielsweise wird man kaum unter 400 Euro netto monatlich finden.“Hauptbuchhalter oder Leiter der Finanzabteilung beispielsweise wird man kaum unter 4000 Euro netto monatlich finden“

So ist es denn nicht verwunderlich, dass 2 Programmierer in Russland, mit denen ich kürzlich sprach, innerhalb von 3-4 Jahren ihr gebautes Haus in einem Nobelviertel von Sankt Petersburg abbezahlt hatten.

 

Auch heute noch bestimmt der IWF (Internationaler Währungsfond ) und die Weltbank 

( beide von den USA dominiert ) einen ungerechten Währungskurs gegenüber Russland.

Zwischen Rubel einerseits und Euro bzw. Dollar andererseits besteht heute ein Kursunterschied von 40: 1

 

Wenn man bedenkt, dass ein einfaches Brot ca. 15 Rubel kostet, würde ein Ausländer, der mit Euro bzw. Dollar bezahlt, für 1 Dollar bzw. 1 Euro 2,5 Brote erhalten.

 

Dieser Kurs ist natürlich überaus ungerecht und würde der Wirtschaft Russlands schaden, wenn man völlig unkontrolliert und willkürlich Ausländer nach Russland reisen lassen würde.

 

Da  die Arbeitenden in Russland keineswegs hungern müssen, sondern ganz im Gegenteil, können sie sich für ihr Erspartes durch die verhältnismäßig geringen Kosten für Grundnahrungsmittel auch etwas leisten, z. B. Auslandsfahrten.

 

So kommt der Sohn von unseren Freunden jedes Jahr für 4 Wochen zu Besuch nach Deutschland. Er verdient als Feuerwehrmann ca. 25 000 Rubel.

Das wären umgerechnet 250 Euro.

Für dieses Geld müsste man in Deutschland unter der Brücke nächtigen.

In Russland sind 25 000 Rubel viel Geld.

 

Noch erwähnen möchte ich Folgendes:

Während in Russland fast jeder der älteren Bürger Privateigentum an Wohnraum hat,

(Man gab Anfang der 90iger Jahre den russischen Bürgern die Möglichkeit, für wenig Geld ihre Wohnung zu kaufen!) macht das Privateigentum an Wohnraum, bzw. einem eigenen Häuschen, in Deutschland nur ca. 10 %  im Vergleich zu Russland von heute ca. 70 % aus.

 

Was die von Merkel in Russland angeprangerte Pressefreiheit anbelangt, so konnte ich während der Zeit meiner Aufenthalte in Russland feststellen, dass es eine Menge, auch sog. Oppositionszeitungen, in Russland gibt und auch das Fernsehen ausgewogen berichtet.

So wurde im August 2010 z. B. während der besten Sendezeit über den Putsch von 1991 berichtet.

Es kamen sowohl Filatow, damaliger Sekretär des ZK, als auch Sergej Kurigan, ein namhafter Journalist, in Streitgesprächen, die über Wochen fortgesetzt wurden, zu Wort.

In dieser Runde äußerte z. B. Rutzkoi, ehemaliger Vizepräsident der RSFSR:

„Niemals hätte die UdSSR zerschlagen werden müssen. Das sehen wir am heutigen Niedergang in Russland im Vergleich zu Sowjetzeiten. Die Duma hätte die Ablösung von Jelzin fordern müssen.!“

 

Wäre eine solche freie und offene Meinungsäußerung im deutschen Fernsehen, bei denen es um Für und Wider damaliger sozialistischer Verhältnisse geht, überhaupt möglich ?

Diese Frage muss man mit NEIN beantworten.

 

Brigitte Queck, Diplomstaatswissenschaftler Außenpolitik