Rede des Praesidenten der russischen Foederation
Wladimir Putin
Meine Damen und Herren!
Das Format der Konferenz bietet mir die
Möglichkeit, auf ein übermäßiges Höflichkeitsgetue zu verzichten und nicht in
abgerundeten und angenehmen, dafür hohlen diplomatischen Klischees zu sprechen.
Das Format der Konferenz bietet die Möglichkeit, das zu sagen, was ich wirklich
über die Probleme der internationalen Sicherheit denke. Sollten meine
Überlegungen unseren Kollegen übermäßig polemisch zugespitzt oder unexakt
erscheinen, bitte ich sie, nicht böse auf mich zu sein, denn das hier ist nur
eine Konferenz. Und ich hoffe, dass Herr Teltschik nicht schon nach den
ersten zwei bis drei Minuten meiner Rede auf „Rot“ schalten wird.
Bekanntlich ist die Problematik der internationalen
Sicherheit viel breiter, als die Probleme der militärpolitischen Stabilität.
Das sind die Stabilität der Weltwirtschaft, die Überwindung der Armut,
wirtschaftliche Sicherheit und Entwicklung des interkulturellen Dialogs.
Dieser umfassende und unteilbare Charakter der
Sicherheit ist auch in deren Grundprinzip formuliert: „Die Sicherheit
eines jeden ist die Sicherheit aller.“ Wie Franklin Roosevelt bereits in
den ersten Tagen des erst entbrennenden Zweiten Weltkrieges sagte: „Wo der Frieden
auch immer verletzt wird, der Frieden gerät überall in Gefahr.“
Diese Worte sind auch heute noch aktuell. Davon
zeugt übrigens auch das Thema unserer Konferenz, wie es hier geschrieben steht:
„Globale Krisen - globale Verantwortung.“
Erst vor zwei Jahrzehnten noch war die Welt
ideologisch und wirtschaftlich gespalten und ihre Sicherheit wurde von den
gigantischen strategischen Potentialen zweier Großmächte gewährleistet.
Die globale Konfrontation rückte äußerst akute
wirtschaftliche und soziale Fragen an den Rand der internationalen Beziehungen
und der Tagesordnung. Der Kalte Krieg hat uns - wie jeder Krieg eben -
metaphorisch ausgedrückt, „Granaten hinterlassen, die immer noch scharf sind“.
Ich meine damit ideologische Klischees, Doppelstandards und sonstige Schablonen
des von der Existenz der Blöcke geprägten Denkens.
Die nach dem Kalten Krieg angebotene monopolare
Welt ist auch nicht zu Stande gekommen.
Natürlich kennt die Geschichte der Menschheit auch
Perioden eines monopolaren Zustandes und des Strebens nach Weltherrschaft. In
der Geschichte der Menschheit hat es bereits so ziemlich alles gegeben.
Was ist aber eine monopolare Welt? Wie
dieser Begriff auch immer ausgeschmückt werden mag - im Endeffekt bedeutet er
in der Praxis nur eines: Ein Zentrum der Macht, ein Zentrum der Kraft und ein
Zentrum der Beschlussfassung.
Das ist die Welt eines Herrschers, eines Souveräns.
Im Endeffekt ist das nicht nur für diejenigen verderblich, die sich im Rahmen
dieses Systems befinden, sondern auch für den Souverän selbst, weil es ihn von
innen zerstört.
Und das hat natürlich mit Demokratie nichts zu tun.
Weil Demokratie bekanntlich die Macht der Mehrheit bei gleichzeitiger
Berücksichtigung der Interessen und Meinungen der Minderheit ist.
Übrigens: Russland, uns werden dauernd Lektionen in
Sachen Demokratie erteilt. Diejenigen, die uns belehren, wollen aber aus
irgendeinem Grunde nicht gerade lernen.
Ich glaube, dass das monopolare Modell für die
heutige Welt nicht nur unannehmbar, sondern überhaupt unmöglich ist. Und nicht nur weil bei der Führung eines
einzelnen in der heutigen - eben in der heutigen - Welt weder die
militärpolitischen noch die wirtschaftlichen Ressourcen ausreichen würden.
Was noch wichtiger ist: Das Modell selbst funktioniert nicht, weil seine
Grundlage nicht die moralische Basis der gegenwärtigen Zivilisation enthält und
auch nicht enthalten kann.
Dabei ist alles, was sich heute in der Welt
abspielt - und wir haben gerade erst begonnen, darüber zu diskutieren - eine
Folge der Versuche, gerade diese Konzeption, die Konzeption der monopolaren
Welt, in die internationalen Angelegenheiten hineinzupflanzen.
Und was ist das Resultat?
Die einseitigen und des öfteren unlegitimen
Handlungen haben kein einziges Problem gelöst. Mehr noch:
Sie haben zu neuen menschlichen Tragödien und zu neuen Spannungsherden geführt.
Urteilen Sie selbst: Die Kriege sowie die lokalen und regionalen Konflikte sind
nicht weniger geworden. Herr Teltschik hat gerade das durchaus sanft erwähnt.
Dabei sterben in diesen Konflikten nicht weniger, sondern sogar mehr Menschen
als früher. Wesentlich mehr - wesentlich mehr!
Heute beobachten wir eine fast durch nichts
gezügelte und übertriebene Anwendung von militärischer Gewalt in den
internationalen Angelegenheiten. Einer Gewalt, die die Welt in die Tiefen
einander ablösender Konflikte stößt. Als Folge reichen die Kräfte nicht für
eine umfassende Lösung zumindest eines einzelnen davon. Auch ihre politische
Lösung wird unmöglich.
Wir beobachten eine immer stärkere Vernachlässigung
der grundlegenden Prinzipien des Völkerrechts. Mehr noch: Einzelne
Normen, eigentlich schon beinahe das gesamte Rechtssystem eines einzelnen
Staates, in erster Linie natürlich der Vereinigten Staaten, haben die
nationalen Grenzen in allen Bereichen überschritten und werden sowohl in der
Wirtschaft als auch in der Politik und in der humanitären Sphäre anderen
Staaten aufgedrängt. Wem könnte das denn gefallen? Wem könnte das gefallen?
In den internationalen Angelegenheiten ist immer
häufiger das Streben zu sehen, diese oder jene Fragen ausgehend von der
sogenannten politischen Zweckmäßigkeit zu lösen, der die aktuelle politische
Konjunktur zu Grunde liegt.
Das ist natürlich äußerst gefährlich. Und das führt
dazu, dass sich niemand mehr in Sicherheit fühlt. Ich möchte das betonen:
Niemand fühlt sich mehr in Sicherheit! Weil sich niemand hinter der schützenden
Mauer des Völkerrechts verbergen kann. Eine solche Politik katalysiert
natürlich das Wettrüsten.
Die Dominanz des Gewaltfaktors nährt zwangsläufig
das Streben einiger Länder nach dem Besitz von Massenvernichtungswaffen. Mehr noch:
Es sind prinzipiell neue Bedrohungen entstanden, die zwar auch früher bekannt
waren, heute aber einen globalen Charakter annehmen, wie zum Beispiel der
Terrorismus.
Ich bin davon überzeugt, dass wir an einem
Grenz-Zeitpunkt angelangt sind, an dem wir uns ernsthafte Gedanken über die
gesamte Architektur der globalen Sicherheit machen müssen.
Hier muss man von der Suche nach einer vernünftigen
Balance zwischen den Interessen aller Subjekte der internationalen Kontakte
ausgehen. Um so mehr, als sich die „internationale Landschaft“ so spürbar und
so schnell verändert, und zwar durch die dynamische Entwicklung einer ganzen
Reihe von Staaten und Regionen.
Frau Bundeskanzlerin hat das bereits erwähnt. So
ist das Gesamt-BIP Indiens und Chinas an der paritätischen Kaufkraft gemessen
bereits größer als das der Vereinigten Staaten von Amerika. Das nach demselben
Prinzip berechnete BIP der BRIC-Staaten - Brasilien, Russland, Indien und China
- ist größer als das Gesamt-BIP der Europäischen Union. Laut
Expertenschätzungen wird dieser Abstand in der absehbaren historischen
Perspektive nur weiter wachsen.
Es besteht kein Zweifel daran, dass das
Wirtschaftspotential der neuen globalen Wachstumszentren zwangsläufig in
politischen Einfluss umgemünzt und die Multipolarität festigen wird.
In diesem Zusammenhang wächst die Rolle der
multilateralen Diplomatie ernsthaft. Offenheit, Transparenz und Berechenbarkeit
haben in der Politik keine Alternative, während die Gewaltanwendung eine
wirklich ausschließliche Maßnahme sein muss wie auch die Anwendung der
Todesstrafe in den Rechtssystemen einiger Staaten.
Heute aber beobachten wir, im Gegenteil, eine
Situation, wo Länder, in denen die Anwendung der Todesstrafe selbst in Bezug
auf Mörder und andere gefährliche Verbrecher verboten ist, sich dennoch leicht
zur Teilnahme an Militäroperationen entschließen, die sich kaum als legitim
bezeichnen lassen. Dabei sterben in diesen Konflikten Menschen -
hunderte und tausende friedliche Menschen!
Zugleich entsteht aber die Frage: Sollen wir denn
teilnahms- und willenlos diversen inneren Konflikten in einzelnen Ländern bzw.
dem Handeln autoritärer Regimes und Tyrannen oder einer Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen zuschauen? Denn gerade das war das Wesen der Frage,
die unser geehrter Kollege Herr Lieberman an Frau Bundeskanzlerin gestellt hat.
(An Lieberman gewendet:) Habe ich Ihre Frage richtig verstanden? Und das ist
natürlich eine ernsthafte Frage! Können wir denn dem teilnahmslos zuschauen,
was sich dort abspielt? Ich versuche ebenfalls, Ihre Frage zu beantworten.
Natürlich können wird das nicht. Natürlich nicht.
Haben wir aber die Mittel zur Verfügung, um diese
Bedrohungen abzuwehren?
Natürlich haben wir. Es genügt, die jüngste
Geschichte in Erinnerung zu rufen. Immerhin ist in unserem Land ein
friedlicher Übergang zur Demokratie erfolgt. Immerhin hat eine friedliche
Transformation des Sowjetregimes stattgefunden - eine friedliche Transformation!
Und was für eines Regimes! Mit was für Mengen an Waffen, einschließlich
Kernwaffen! Warum muss man dann heute bei jeder Gelegenheit bomben und
schießen? Reicht uns denn unter den
Bedingungen, wo die Gefahr einer gegenseitigen Vernichtung nicht existiert, die
politische Kultur und der Respekt gegenüber den demokratischen Werten und dem
Recht nicht aus?
Ich bin davon überzeugt, dass nur die UNO-Charta
der einzige Mechanismus zur Beschlussfassung über die Anwendung militärischer
Gewalt als letztes Argument sein kann. In diesem Zusammenhang habe ich entweder
nicht verstanden, was erst vor kurzem von unserem Kollegen, dem italienischen
Verteidigungsminister, gesagt wurde, oder er hat sich nicht exakt ausgedrückt. Ich
jedenfalls habe gehört, dass eine Gewaltanwendung nur dann als legitim gelten
kann, wenn der Beschluss in der NATO oder in der Europäischen Union oder in der
UNO getroffen wurde. Wenn er wirklich so denken sollte, so haben wir
unterschiedliche Standpunkte dazu. Oder ich habe etwas falsch gehört.
Als legitim kann eine Gewaltanwendung nur gelten,
wenn der Beschluss auf der Grundlage und im Rahmen der UNO gefasst wurde. Die
Organisation der Vereinten Nationen sollte nicht durch die NATO oder die
Europäische Union ersetzt werden. Wenn die UNO die Kräfte der
internationalen Völkergemeinschaft, die wirklich auf Ereignisse in einzelnen
Ländern reagieren können, real vereinigt, wenn wir die Vernachlässigung des
Völkerrechts überwinden, dann kann sich die Situation ändern. Anderenfalls wird
die Situation nur in eine Sachgasse geraten und die Zahl der schweren Fehler
vergrößern. Dabei muss man natürlich darauf hinarbeiten, dass das Völkerrecht
hinsichtlich der Auffassung und der Anwendung der Normen einen universellen
Charakter hat.
Und man darf nicht vergessen, dass eine
demokratische Handlungsweise in der Politik unbedingt eine Diskussion und eine
beharrliche Arbeit an den Entscheidungen voraussetzt.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Die potentielle Gefahr einer Destabilisierung der
internationalen Beziehungen ist auch mit der offensichtlichen Stagnation im
Abrüstungsbereich verbunden.
Russland setzt sich für eine Wiederaufnahme des
Dialogs zu dieser überaus wichtigen Frage ein.
Es ist wichtig, die Stabilität der
völkerrechtlichen Abrüstungsbasis zu bewahren und zugleich die Kontinuität des
Prozesses der Reduzierung der nuklearen Rüstungen zu gewährleisten.
Mit den Vereinigten Staaten von Amerika haben wir
die Reduzierung unserer Kernwaffenpotentiale auf den strategischen
Trägermitteln auf 1 700 bis 2 200 nukleare Gefechtsköpfe bis zum 31. Dezember
2012 vereinbart. Russland ist entschlossen, die übernommenen
Verpflichtungen strikt einzuhalten. Wir hoffen, dass auch unsere Partner
genauso transparent handeln und nicht etwa ein Paar hundert nukleare
Gefechtsköpfe „auf alle Fälle“ zurücklegen werden. Wenn uns der neue
Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten heute erklären wird, dass die
Vereinigten Staaten diese übermäßigen Gefechtsköpfe nicht in Waffendepots,
„unter dem Kopfkissen“ oder „unter der Decke“ verstecken werden, so fordere ich
alle auf, das stehend zu begrüßen. Dies wäre eine überaus wichtige Erklärung.
Russland hält sich am Vertrag über die
Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen und am Regime der Kontrolle über die
Raketentechnologien fest und hat vor, das auch weiter zu tun. Die in diesen
Dokumenten verankerten Prinzipien haben einen universellen Charakter.
In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern,
dass die UdSSR und die Vereinigten Staaten in den 1980er Jahren einen Vertrag
über die Beseitigung einer ganzen Klasse von Kurz- und Mittelstreckenraketen
unterzeichnet haben. Diesem Dokument wurde aber kein universeller Charakter
verliehen.
Heute haben bereits mehrere Länder solche Raketen:
Nord- und Südkorea, Indien, Iran, Pakistan und Israel. Viele Staaten der Welt
entwickeln solche Systeme und wollen sie in den Dienst stellen. Nur die
Vereinigten Staaten von Amerika und Russland tragen die Verpflichtung, keine
solchen Rüstungssysteme zu entwickeln.
Natürlich müssen wir uns unter diesen Bedingungen
Gedanken über die Gewährleistung unserer Sicherheit machen.
Zugleich darf die Entstehung neuer
destabilisierender hochtechnologischer Waffenarten nicht zugelassen werden.
Ganz zu schweigen von Maßnahmen zur Vorbeugung neuer Bereiche der
Konfrontation, insbesondere im Weltraum. Die „Sternenkriege“ sind
bekanntlich keine Fantasie mehr, sondern Realität. Noch Mitte der 1980er
Jahre haben unsere amerikanischen Partner einen eigenen Satelliten in der
Praxis abgefangen.
Eine Militarisierung des Weltraums könnte
nach Russlands Meinung unberechenbare Folgen für die internationale
Völkergemeinschaft provozieren, die nicht geringer wären als der Beginn der
nuklearen Ära. Wir haben mehrmals Initiativen unterbreitet, um den Waffen
den Weg ins All zu versperren.
Heute möchte ich Sie darüber informieren, dass wir
den Entwurf eines Vertrages über die Verhinderung einer Waffenstationierung im
Weltraum vorbereitet haben. Demnächst wird er unseren Partnern als ein
offizielles Angebot zugestellt. Wollen wir gemeinsam daran arbeiten.
Uns beunruhigen auch die Pläne zur Stationierung
von Teilen eines Raketenabwehrsystems in Europa. Wer braucht diese neue
Runde des Wettrüstens, die in diesem Fall unvermeidlich wäre? Ich zweifle stark
daran, dass die Europäer selbst das brauchen.
Raketenwaffen mit einer Reichweite von 5000 bis
8000 Kilometern, die Europa real bedrohen würden, hat keines der sogenannten
„Problemländer“. Solche wird es in
absehbarer Zukunft auch nicht geben, damit ist sogar nicht zu rechnen.
Selbst ein hypothetischer Abschuss beispielsweise
einer nordkoreanischen Rakete gegen das US-Territorium über Westeuropa - das
widerspricht eindeutig den Gesetzen der Ballistik - wie wenn man mit der
rechten Hand ans linke Ohr fassen würde, wie man bei uns in Russland sagt.
Hier in Deutschland muss ich auch den Krisenzustand
des Vertrages über die konventionellen Streitkräfte in Europa erwähnen.
Der angepasste Vertrag über die konventionellen
Streitkräfte in Europa wurde 1999 unterzeichnet. Er berücksichtigte die
neue geopolitische Realität - die Auflösung des Warschauer Blocks. Sieben Jahre
sind inzwischen vergangen, und nur vier Staaten, einschließlich der
Russischen Föderation, haben dieses Dokument ratifiziert.
Die NATO-Länder haben offen erklärt, dass sie den
Vertrag, einschließlich der Bestimmungen über die Flankeneinschränkungen (über
die Stationierung einer bestimmten Zahl von Streitkräften an den Flanken),
nicht ratifizieren werden, solange Russland seine Stützpunkte aus Georgien und
Moldawien nicht abgezogen hat. Aus Georgien werden unsere Truppen abgezogen,
sogar in einem beschleunigten Verfahren. Diese Probleme haben wir mit unseren
georgischen Kollegen geregelt und das ist allen bekannt. In Moldawien bleibt
eine Gruppierung von 1500 Armeeangehörigen, die Friedensfunktionen wahrnehmen
und Munitionsdepots aus der Sowjetzeit bewachen. Wir besprechen mit Herrn
Solana diese Frage ständig, er kennt unsere Position. Wir sind bereit, auch
weiter in diesem Bereich zu arbeiten.
Was geschieht aber zum gleichen Zeitpunkt? Zum
gleichen Zeitpunkt werden in Bulgarien und Rumänien so genannte leichte
amerikanische vorgeschobene Basen mit jeweils 5000 Soldaten stationiert. Das
bedeutet also, dass die NATO ihre Vortrupps an unsere Staatsgrenzen heranrückt,
während wir den Vertrag strikt einhalten und auf dieses Vorgehen in keiner
Weise reagieren.
Ich denke, dass es offensichtlich ist: Der Prozess
der NATO-Erweiterung hat mit einer Modernisierung der Allianz selbst
oder mit der Gewährleistung der Sicherheit in Europa nichts zu tun. Im
Gegenteil: Dies ist ein ernsthafter provokativer Faktor, der das Niveau des
gegenseitigen Vertrauens herabsetzt. Wir haben ein gutes Recht, offen zu
fragen: Gegen wen ist diese Erweiterung gerichtet? Und was ist mit den
Versicherungen geworden, die von westlichen Partnern nach der Auflösung des Warschauer
Vertrages gegeben wurden? Wo sind diese Erklärungen heute? An diese erinnert
sich niemand mehr. Ich gestatte mir aber, in diesem Raum daran zu erinnern, was
gesagt wurde. Ich möchte ein Zitat aus der Rede des NATO-Generalsekretärs
Wörner am 17. Mai 1990 in Brüssel anführen. Er sagte damals: „Die
Tatsache, dass wir bereit sind, keine NATO-Truppen außerhalb des Territoriums
der Bundesrepublik Deutschland zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste
Sicherheitsgarantien.“ Wo sind diese Garantien?
Die Steine und Betonblöcke aus der Berliner Mauer
sind längst als Souvenirs verscherbelt worden. Man darf aber nicht vergessen,
dass der Mauerfall auch dank der historischen Wahl auch unseres Volkes möglich
geworden ist, einer Wahl für Demokratie und Freiheit, Offenheit und aufrichtige
Partnerschaft mit allen Mitgliedern der großen europäischen Familie.
Jetzt will man uns aber bereits neue Trennlinien
und Mauern aufzwingen, die zwar virtuell sind, aber unseren gemeinsamen
Kontinent dennoch trennen und zerschneiden. Werden denn wieder viele Jahre und
Jahrzehnte sowie der Wechsel von mehreren Politikergenerationen erforderlich
sein, um diese neuen Mauern abzutragen und zu demontieren?
Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir treten eindeutig für die Festigung des Non-Proliferations-Regimes
ein. Der bestehende Völkerrechtsrahmen erlaubt es, Technologien zu entwickeln,
mit denen Kernbrennstoff hergestellt und zu friedlichen Zwecken genutzt werden
kann. Viele Staaten möchten eine eigene Atomenergiewirtschaft aufbauen, um so ihre
Unabhängigkeit von Energielieferungen zu garantieren. Wir verstehen jedoch,
dass diese Technologien auch für die Herstellung von waffenfähigem Material
genutzt werden können.
Das löst weltweit tiefe Besorgnis aus. Ein
bezeichnendes Beispiel dafür ist die Situation um das iranische Atomprogramm.
Wenn die Weltgemeinschaft in diesem Interessenkonflikt keine vernünftige Lösung
findet, wird die Welt auch weiterhin von destabilisierenden Krisen nicht
verschont bleiben, denn die Liste der Schwellenländer ist nicht auf den Iran
beschränkt. Wir würden immer wieder auf die Gefahr der Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen stoßen.
Im vergangenem Jahr hat Russland die Gründung
internationaler Zentren für Urananreicherung angeregt. Wir plädieren dafür,
dass solche Zentren nicht nur in Russland, sondern auch in anderen Staaten
gegründet werden, nämlich dort, wo die friedliche Atomenergiewirtschaft
legalisiert ist. Die Staaten, die ihre Atomenergiewirtschaft entwickeln
möchten, könnten an der Arbeit dieser Zentren teilnehmen und garantiert
Kernbrennstoff bekommen, natürlich unter der strengen Kontrolle durch die
Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO).
Mit diesem russischen Vorschlag stehen auch die
jüngsten Initiativen von US-Präsident George Bush im Einklang. Meines Erachtens
sind Russland und die USA in gleichem Maße an der Verstärkung der
Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und dessen Trägermitteln
interessiert. Unsere Staaten sind Spitzenreiter im Hinblick auf ihr Atom-
und Raketenwaffenpotential und müssen daher bei der Ausarbeitung neuer
schärferer Kontrollmaßnahmen auf dem Gebiet der Nichtweitergabe eine führende
Rolle spielen. Russland ist zu dieser Arbeit bereit. Wir beraten uns mit
unseren amerikanischen Freunden.
Es handelt sich um die Schaffung eines Systems von
politischen Hebeln und wirtschaftlichen Anreizen, die bei anderen Staaten das
Interesse daran wecken sollen, eine eigene Atomenergiewirtschaft zu entwickeln,
ohne einen eigenen Kernbrennstoffkreislauf zu schaffen, und das eigene
Energiepotenzial zu verstärken.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf die
internationale Energiekooperation eingehen. Auch Frau Bundeskanzlerin
hat dieses Thema erwähnt, wenn auch kurz. Auf dem Gebiet der Energie strebt Russland danach, marktgerechte Bedingungen
zu schaffen, die für alle gleich und transparent sind. Kein Zweifel, dass
der Preis für Energieträger auf dem freien Markt bestimmt werden muss,
jedoch weder Gegenstand politischer Spekulationen werden noch als
wirtschaftliches Druckmittel genutzt werden darf.
Wir sind für eine Zusammenarbeit offen.
Ausländische Unternehmen sind an den größten unserer Energieprojekte beteiligt.
Auf ausländisches Kapital entfallen bis zu 26 Prozent der gesamten russischen
Ölförderung - eine gewaltige Zahl. In westlichen Staaten gibt es keine
Beispiele einer vergleichbaren Beteiligung russischer Unternehmen an den
Schlüsselsparten der Wirtschaft.
Die Investitionen, die nach Russland fließen,
und die russischen Investitionen im Ausland, stehen
im Verhältnis von 15:1.
Das ist ein klares Zeugnis der Offenheit und
Stabilität der russischen Wirtschaft.
Die wirtschaftliche Sicherheit ist ein Bereich, wo
alle an einheitlichen Grundsätzen festhalten müssen. Wir sind zu einem fairen
Wettbewerb bereit.
Dafür hat die russische Wirtschaft immer mehr
Chancen. Diese Dynamik wird sowohl von Experten als auch von unseren
ausländischen Partnern objektiv bescheinigt. So korrigierte die Organisation
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Bewertung der
Russischen Föderation nach oben: aus der vierten Risikogruppe ging unser Land
in die dritte über. Bei der heutigen Angelegenheit möchte ich in München
unseren deutschen Kollegen für ihre Unterstützung dieser Entscheidung danken.
Wie Sie wissen, hat der Beitritt Russlands zur
Welthandelsorganisation (WTO) bereits die Zielgerade erreicht. Im Zuge der
langwierigen Verhandlungen haben wir viele Worte über Rede- und Handelsfreiheit
und über gleiche Chancen gehört, aber ausschließlich unter Bezugnahme auf den
russischen Markt.
Ein weiteres, für die globale Sicherheit relevantes
Thema ist die Armut. Gegenwärtig wird viel über den Kampf gegen die
Armut gesprochen. Was passiert aber in der Tat? Einerseits werden stattliche
Summen für die ärmsten Länder bewilligt. Doch diese
-Summen werden oft von einheimischen Unternehmen
der Geberstaaten in Anspruch genommen.
-Andererseits wollen die Industrieländer die
Subventionen für die Landwirtschaft nicht streichen, der Zugang Anderer zu
Hochtechnologien wird begrenzt.
Mit anderen Worten: Mit der einen Hand vergibt man Spenden,
während mit der anderen nicht nur die wirtschaftliche Rückständigkeit
konserviert wird, sondern auch Profite kassiert werden. Die entstehenden
sozialen Spannungen in den rückständigen Regionen führen unweigerlich zu einer
Zunahme an Radikalismus und Extremismus, sie nähren den Terrorismus und lokale
Konflikte. Wenn das aber im Nahen Osten geschieht, mit seiner zugespitzten
Vorstellung von der Außenwelt als einer ungerechten Welt, so entsteht das
Risiko einer globalen Destabilisierung.
Offensichtlich müssen die führenden Länder der Welt
diese Bedrohung sehen und dementsprechend ein demokratischeres und gerechteres
System der Wirtschaftsbeziehungen in der Welt aufbauen - ein System, das allen
eine Chance und Entwicklungsmöglichkeiten bietet.
Auf der Sicherheitskonferenz darf man das Thema der
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa nicht mit
Stillschweigen übergehen. Diese Organisation wurde bekanntlich mit dem Ziel
gegründet, sich mit ausnahmslos allen Sicherheitsaspekten zu befassen,
angefangen bei den militärisch-politischen über die wirtschaftlichen bis hin zu
den humanitären, auch in ihrer Wechselbeziehung zueinander.
Was passiert in der Tat? Das Gleichgewicht ist
gestört. Es wird versucht, die OSZE in ein vulgäres Instrument für die
Wahrnehmung der außenpolitischen Interessen eines Landes oder einer Gruppe von
Ländern gegenüber anderen Ländern zu verwandeln. Auf diese Aufgabe wurde
auch der bürokratische Apparat der OSZE gemünzt, der mit den Gründerstaaten in
keiner Beziehung steht. Für diese Aufgabe wurde auch das Verfahren der
Beschlussfassung und der Nutzung der so genannten Nichtregierungsorganisationen
zugeschnitten, die formell zwar unabhängig sind, dafür aber zielbewusst
finanziert werden und dementsprechend kontrollierbar sind.
Im humanitären Bereich ist die OSZE gemäß
den grundlegenden Dokumenten berufen, den Mitgliedsländern der Organisation auf
deren Bitte bei der Einhaltung der internationalen Normen auf dem Gebiet der
Menschenrechte beizustehen. Das ist eine wichtige Aufgabe. Wir unterstützen
sie. All das bedeutet aber nicht, dass man sich in die inneren
Angelegenheiten anderer Staaten einmischen soll, geschweige denn diesen
vorschreiben, wie sie zu leben und sich zu entwickeln haben.
Eine solche Einmischung trägt keinesfalls zur
Entstehung wahrhaft demokratischer Staaten bei, sondern sie treibt diese Länder
in Abhängigkeit und dann auch in eine politische und wirtschaftliche
Instabilität.
Wir rechnen damit, dass sich die OSZE von ihren unmittelbaren
Aufgaben leiten lassen wird und ihre Beziehungen mit den souveränen Staaten auf
der Grundlage der Achtung, des Vertrauens und der Transparenz gestalten wird.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Zum Schluss möchte ich Folgendes sagen. Unsere
europäischen Partner rufen Russland sehr oft auf, eine aktivere Rolle in den
internationalen Angelegenheiten zu spielen.
Ich gestatte mir eine kleine Bemerkung dazu.
Es ist kaum notwendig, uns dazu anzuregen.
Russland ist ein Land mit einer mehr als eintausend
Jahre langen Geschichte und hat fast immer eine unabhängige Außenpolitik
betrieben. Wir wollen auch heute diese Tradition nicht aufgeben. Gleichzeitig
sehen wir gut, wie sich die Welt geändert hat.
Wir schätzen unser Potenzial realistisch ein und
möchten es mit ebenfalls verantwortungsbewussten und selbständigen Partnern zu
tun haben und mit ihnen eine gerechte und demokratische Weltordnung aufbauen,
in der Sicherheit und Prosperität nicht nur Auserwählten, sondern allen
garantiert sind.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.