"Russland - Kein Weg aus dem postkommunistischen Übergang ?", Buchvorstellung und Diskussionsabend der Heinrich-Böllstiftung, Berlin, 15.11.2011

aufgezeichnet von Brigitte Queck

 

Am 15. November 2011 lud die Bündnis-90/ Die-Grünen- nahe Heinrich-Böll-Stiftung zu einem Diskussionsabend unter dem Titel "Russland: Kein Weg aus dem postkommunistischen Übergang?" in ihr Hauptquartier in Berlin-Mitte ein. Bei dem Anlaß sollte das gleichnamige, jüngst beim Verlag Wagenbach erschienene Buch Dr. Lev Gudkovs vorgestellt werden.

Der russische Soziologe Lev Gudkov war speziell zu diesem Diskussionsabend aus Moskau angereist. Wie man erfuhr,  ist er Direktor des unabhängigen Meinungsforschungsinstitutes „Levada Center“, sowie Herausgeber der Zeitschrift „The Russian Public Opinion Herald“.  Ihm zur Seite saßen im Podium Marieluise Beck, die dienstälteste Bundestagsabgeordnete der Grünen seit 1983, und der an der Universität Hannover lehrende Soziologe Prof. Detlev Claussen, der sich an der dortigen Universität speziell u. a. mit den Themen Antisemitismus, Nationalismus, Rassismus und Transformationsgesellschaften auseinandersetzt.

Moderiert wurde die Gesprächsrunde von Walter Kaufmann, dem Leiter des Regionalbüros Südkaukasus der Heinrich-Böll-Stiftung in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Wie bei einer solchen Konstellation nicht anders zu erwarten, wurde an Kritik an Wladimir Putins Rußland nicht gespart.

In seiner Einleitungsrede sprach sich Kaufmann im Namen der Heinrich-Böll-Stiftung für ein "neues politisches System" in Rußland aus, "das auch kleinste Gruppen einbezieht" und "Freiheit und Gerechtigkeit jedem zugänglich macht". Laut Kaufmann hätte der amtierende russische Präsident Dmitri Medwedew sein Land seit 2008 in die gewünschte Richtung geführt und sich dadurch besonderes Lob verdient, was jedoch seine Entscheidung, bei der Wahl im kommenden Jahr nicht wieder anzutreten, sondern den amtierenden Premierminister und Parteikollegen Wladimir Putin eine dritte Amtszeit als Staatsoberhaupt zu ermöglichen, um so bedauerlicher mache.

Um das System Putin verstehen zu können, sei die Analyse von Gudkov unerläßlich, weshalb man diesen auch an die Spree eingeladen habe, um sein neues Buch vorzustellen. Ergänzend beteuerte Prof. Claussen, der bereits im August im Webmagazin Cultura21 empfohlen hatte, dass jeder, der wissen wolle, "was in Rußland wirklich los" sei, das Buch Gudkovs "gelesen haben" müsse, da man prinzipiell an „guten partnerschaftlichen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zur Russischen Föderation interessiert“ sei.

Eingangs erinnerte Gudkov an seinen inzwischen verstorbenen Mitautor Victor Zaslavsky, distanzierte sich aber gleichzeitig von dessen Einschätzung, wonach Rußland nach dem "Zusammenbruch des sozialistischen Weltsystems" dieselbe Entwicklung wie die übrigen ehemals sozialistischen Länder Osteuropas nehmen würde. Dafür wäre die herrschende Staatsideologie Rußlands noch zu "totalitär". Dazu ist anzumerken, dass der Gudkovsche Vergleich mit den anderen Ländern Osteuropas für Rußland natürlich weniger negativ ausfällt, vor allem wenn man das von Deutschland mit verursachte Chaos auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawiens und die laufende faschistische Restauration im EU-Mitgliedsstaat Ungarn mit in Rechnung stellt.

Als Gründe für die Langsamkeit des "Demokratisierungsprozesses" ( westlichen Musters versteht sich !) in Rußland seit dem Untergang der Sowjetunion nannte Gudkov das "Auseinanderfallen" des größten Flächenstaats der Erde und das starke Sinken sowohl der Arbeitsproduktivität als auch des Lebensstandards. Um den Reformkurs in den neunziger Jahren durchzusetzen, habe sich der damalige Präsident Boris Jelzin gezwungen gesehen, auf Armee, Geheimdienst und Polizei zurückzugreifen. Die Rückkehr zum Zentralismus habe unter der Ägide eines autoritären Staatschefs in der Person des ehemaligen KGB-Offiziers Putin zu einer Stärkung der Sicherheitsstruktur, zum Abbau der Meinungsfreiheit in den staatlichen Medien und zur Abschaffung der Direktwahl der Distriktgouverneure geführt, so Gudkov.

Moderator Kaufmann warf ein, dass der alte und künftige Kremlchef auch in Deutschland seine Anhänger hätte und verwies in diesem Zusammenhang auf einen vor kurzem bei der Welt erschienenen Beitrag über die Modernisierung Rußlands, einschließlich der Entstehung einer neuen Nachwuchselite, und stellte die Frage nach der Anpassungsfähigkeit des Putinschen Systems.

Darauf eingehend, tat Prof. Claussen die Befürchtungen von einer Rückkehr in die alten Verhältnisse der Sowjetzeit als unbegründet ab und unterstrich, dass man "russische Besonderheiten zur Kenntnis nehmen" müsse. Dennoch warnte er vor "demokratischen Erosionsprozessen" und machte geltend, dass Rußland heute mehr denn je in den Weltmarkt integriert und in internationale Organisationen eingebunden sei, wofür der bevorstehende Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) der beste Beweis wäre.

Nach Ansicht Claussens hat Putin während seiner Zeit als Präsident und Premierminister von den verhältnismäßig hohen Preisen für Öl und Gas profitiert. Ihm zufolge hätten niedrige Preise auf den Weltmärkten für die beiden einträglichsten Ausfuhrwaren Rußlands eine nicht unwesentliche Rolle beim Scheitern des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbauprozesses unter Michail Gorbatschow und Boris Jelzin gespielt.

Marieluise Beck verwies auf die Notwendigkeit einer Modernisierungspartnerschaft Deutschlands mit Rußland, brachte jedoch gleichzeitig ihre Verärgerung zum Ausdruck, dass Putin stets die Ära Gorbatschows und Jelzins zu diskreditieren versuche.

Inwieweit der St. Petersburger Putin diesen Seitenhieb verdient hat, ist unklar. Schließlich gibt es nicht wenige Historiker und Zeitzeugen, die inzwischen zu der Erkenntnis gelangt sind, dass Gorbatschow und Jelzin in der großen Umbruchphase vor und nach dem Fall des so genannten Eisernen Vorhangs 1989 vor allem wegen Selbstüberschätzung, was bei Letzterem zudem durch chronische Trunksucht verstärkt wurde,  sowie zu große Anlehnung an den Westen, gescheitert sind.

Doch auch Gudkov lobte die Jelzin-Zeit überschwenglich.

Dies verwundert, bedenkt man die Tatsache, dass während der Regentschaft des ehemaligen Kombinatschefs aus Jekaterinenburg die einfachen Russen einen ungeheuren wirtschaftlichen Niedergang bei gleichzeitiger Verscherbelung staatlichen Vermögens an die nunmehr in Russland herrschenden Oligarchen erleben mussten.

Die Ausplünderung Rußlands durch die Jelzin-Familie und deren Kumpane führte 1998 schließlich in den Staatsbankrott, zu gewaltigen Kurseinbrüchen an der Moskauer Börse und zur drastischen Abwertung des Rubels bei entsprechendem Anstieg der Arbeitslosigkeit in ganz Russland.

Da stellt sich die Frage, ob die Objektivität des Herausgebers des Russian Public Opinion Herald nicht dadurch beeinträchtigt wird, dass sich das von ihm geleitete Meinungsforschungsinstitut Levada Center in Moskau unter anderem durch Aufträge der CIA-nahen National Endowment for Democracy (NED) finanziert.

Bekanntlich trauern die Kalten Krieger und die Neokonservativen in Washington bis heute den Tagen Jelzins nach, als der Kreml sich außenpolitisch passiv verhielt und die "Schock-Therapie"-Vorschläge neoliberaler Marktfundamentalisten aus den USA rücksichtslos in die Tat umsetzte.

Demgegenüber stellte Gudkov der Wirtschaftspolitik der Ära Putin ein schlechtes Zeugnis aus und bemängelte, dass 60% der Industrie noch in Staatshand läge, kein Business-Klima herrsche, es keine Unabhängigkeit der Gerichte und keine wirklich freie Presse gäbe. Statt dessen würden die Staatsgelder für die Streitkräfte und die Rüstungsindustrie ausgegeben, während man eine Reform des Bildungssystems vernachlässige. ( Gemeint ist natürlich das westliche Bildungssystem, das in Russland noch keinen Einzug gehalten hat .Zum Glück möchte man meinen, denn bei Einschätzung von Abschlüssen , vor allem im naturwissenschaftlichen Bereich, hat Russland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern noch immer „die Nase vorn“ !!)

Mit Blick auf die Sowjetzeiten kritisierte Gudkov, dass es in Rußland keine einzige große Partei gäbe, die für Demokratie nach westlichem Vorbild eintrete. Seinerseits plädierte Gudkov für eine verstärkte Förderung mittelständischer Unternehmen und eine Abkehr von der einseitigen Unterstützung weniger Großkonzerne in den Sektoren Energie und Rüstung.

Dass die rechtlich –institutionellen Rahmenbedingungen in Russland aber gar nicht so schlecht , sind, wie Gudkov es schildert, kommt auch in dem Artikel "Putin and his Russia don't deserve the bad rap", der am 15. November bei der angesehenen US-Tageszeitung Christian Science Monitor erschienen ist, zum Ausdruck. Dort erklärte zum Beispiel Donald Kendall, der ehemalige Vorstandsvorsitzende des Getränkeherstellers Pepsi, dass sein Konzern seit 1959 in der Sowjetunion bzw. Rußland tätig sei und Putin dem Land "die beste Führung, die sie jemals gehabt" habe, beschert hätte. Vor den unübersehbaren Mängeln auf der zivilgesellschaftlichen und politisch-institutionellen Ebene verschließe die Führung im Kreml keineswegs die Augen. Wie die britische Tageszeitung Guardian am 12. November berichtete, hatte Putin am Tag davor im Rahmen einer Diskussionsrunde des Valdai Clubs vor geladenen Akademikern und Journalisten aus dem Ausland offen eingeräumt, dass die Zentralregierung in Rußland zuviel Macht habe, die Regionalverwaltungen daher gestärkt und die politische Beteiligung der Bürger erhöht werden müssten. Putin kündigte an, nach seinem zu erwartenden Sieg bei der Präsidentenwahl 2012 entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.

Auf die Frage Kaufmanns nach der Quelle von Putins Rückhalt in der russischen Bevölkerung führte Gudkov die Lage in den kleinen Städten und Dörfern ins Feld. Die Menschen dort, immerhin Zweidrittel der Bevölkerung, hätten laut Gudkov zu Sowjetzeiten besseren Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung gehabt, litten heute jedoch unter einem weit schlechteren Lebensstandard als die Bewohner von Großstädten wie Moskau und St. Petersburg und trauerten daher der Vergangenheit nach. Sie stellten den Großteil der Anhängerschaft der Partei Einiges Rußland, als dessen Kandidat Putin im nächsten Jahr in die Präsidentenwahl gehen und sie vermutlich auch gewinnen wird. Lediglich einige kleinere Gruppen in Rußland würden sich für Rechtsstaat und Demokratie samt Meinungs- und Pressefreiheit wie in der EU stark machen.

Walter Kaufmann führte die Schwäche solcher Gruppierungen auch auf ein fehlendes Kommunikationspotential zurück. Marieluise Beck meinte, die russischen Behörden sollten die häufig vom Westen unterstützten Gruppen nicht so misstrauisch behandeln, denn "Feinde" ließen sich "immer leicht finden", indem sie auch die NATO nannte.

Prof. Claussen behauptete, die Menschen in Rußland wären unzureichend über das Wesen der westlichen Demokratie informiert. Er räumte ein, dass es unter Putin Fortschritte gegeben habe und zum Beispiel die Bücher des großen Stalin-Kritikers Alexander Solschenizyn als Lesestoff von den Schulen übernommen wurden, monierte jedoch, dass die staatlichen Behörden immer noch eine enge gesellschaftliche Kontrolle ausübten.

In der anschließenden Diskussion zeigten die Zuhörer breites Interesse an der zukünftigen Entwicklung Rußlands und an guten nachbarschaftlichen Beziehungen des Landes zur Bundesrepublik.

Auf den Einwurf aus dem Publikum, das Misstrauen der Russen der westlichen Demokratie gegenüber sei eventuell durch die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise des kapitalistischen Systems und die häufigen Militärinterventionen der westlichen Industriestaaten in den Ländern der einstigen Dritten Welt zu erklären, wenn nicht gar nachvollziehbar, wollte kein Podiumsteilnehmer eingehen.

Sichtlich irritiert entgegnete Marieluise Beck auf die an sie gerichtete Frage, ob die Angst Rußlands angesichts der Absichten der NATO und deren Kriegseinsätze in Jugoslawien, Afghanistan, im Irak und neuerdings in Libyen, nicht unbegründet sei,

sie sei "froh, dass die NATO in Bosnien, speziell in Srebrenica, eingegriffen" habe. Auf den Einwand, dass UN-Blauhelmsoldaten und Zeitzeugen die Ereignisse im Buch "Srebrenica" von Alexander Dorin ganz anders als in der offiziellen Version des Westens darstellten, ging die Mitbegründerin der Grünen nicht ein.

 Statt dessen griff sie mit der Behauptung, die Russen wären "nicht für die Demokratie gemacht" und "in der russischen Geschichte" hätte es "Gewalt schon immer gegeben", selbst in die fremdenfeindliche Trickkiste zurück.

Müsste sie doch wissen, dass:

1.nach der Oktoberrevolution 1917 – der Ausrufung einer Regierung der Arbeiter und Bauern in Russland - die WESTMÄCHTE Russland überfielen und dem russischen Volk nicht erlauben wollten, seinen eigenen Entwicklungsweg zu gehen.

2. nach dem zwischen Russland und Deutschland geschlossenen Nichtangriffspakt, DIE SOWJETUNION VON DEUTSCHLAND WORTBRÜCHIG ÜBERFALLEN WORDEN IST UND NICHT UMGEKEHRT !!

Prof. Claussen wurde aus dem Publikum auf seine Äußerung bezüglich der angeblich fehlenden Unabhängigkeit der russischen Gerichte unter Verweis auf die Cause célèbre des Energieunternehmers Michail Chodorkowski angesprochen und darauf aufmerksam gemacht, dass Geldwäscherei überall auf der Welt unter Strafe steht. Auf die Argumentation ging Claussen nicht ein !

Vielleicht deshalb, weil der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Strasbourg bereits Ende September entschieden hatte, dass die Enteignung und Verurteilung des einstigen Yukos-Chefs nicht politisch motiviert war?

Zum Schluss beklagte Marieluise Beck den Kleinmut westlicher Politiker und Konzernchefs, weil sie bei Gesprächen und Verhandlungen mit ihren Partnern in Rußland angeblich nicht genug auf die Rechtssicherheit gedrängt hätten. In diesem Zusammenhang kritisierte sie den Bau der Nordstream-Pipeline, weil Berlin dabei größere Zugeständnisse seitens Moskaus hätte aushandeln müssen. Um der "Zivilgesellschaft" in Rußland zum Durchbruch zu verhelfen, schlug Beck eine Lockerung der Visabestimmungen für Reisende zwischen der EU und Russischen Föderation vor, damit sich zwischen St. Petersburg und Wladiwostok "das süße Gift der Demokratie" entfalte.