Russischer Journalist über journalistische
Arbeit
»Das ist hier kein moderner Gulag«
Über die russische Medienlandschaft, den Fall Assange und Drohgebärden des Westens gegenüber Moskau. Ein
Gespräch mit Timur Schafir
Interview: Stefan Huth, Sotschi
Timur Schafir Jahrgang 1977, ist Mitglied des
Sekretariats des Russischen Journalistenverbandes (RJV) und leitet dort die
internationale Abteilung. Mit rund 70.000 Mitgliedern in 82
Regionalverbänden ist der RJV der größte Journalistenverband in Europa. Seit
2019 ist Schafir zudem Vizepräsident der
Internationalen Journalistenföderation (IFJ)
Als Sekretär des Russischen Journalistenverbandes, RJV, waren Sie
maßgeblich an der Organisation des »25. Forums für modernen Journalismus«
beteiligt, das vom 10. bis 16. September in Sotschi
stattfand. Die Veranstaltung richtete sich an ein »allrussisches« Publikum. Was
heißt das?
Es waren etwa 1.100 Vertreterinnen und Vertreter aus den verschiedensten
Gegenden der Föderation zu Gast, von Kamtschatka über Kasan bis Kaliningrad.
Das Treffen hat eine große Bedeutung für die Regionen und ihre Medien.
Regionaler Journalismus ist die Basis unseres Verbandes, nicht die landesweit
ausgestrahlten TV-Sender mit ihren prominenten Gesichtern. Es gibt in diesem
riesigen Land eine unüberschaubare Zahl von lokalen Tages- und Wochenzeitungen,
Radio- und TV-Sendern sowie Onlinemedien – sie sind das Kernelement, das Salz
unserer Erde. In Zeiten der Pandemie hat sich gezeigt, wie wichtig sie sind. Es
ist ja generell schwierig, über diese großen Distanzen hinweg in Kontakt zu
bleiben, besonders unter Coronabedingungen. So
gesehen ist unser Forum ein guter Sammlungspunkt, und die verschiedenen Panels
boten Gelegenheit, sich auszutauschen, neue Branchentrends kennenzulernen und
Anregungen zu empfangen.
Aber ganz ohne Prominenz kommt auch ein solches Treffen nicht aus ...
Jeden Tag gab es eine Veranstaltung mit einem bekannten Gast. Zur Eröffnung
fand ein Treffen mit Sergej Lawrow statt. Lokaljournalisten haben nicht so oft
Gelegenheit, den Außenminister zu befragen. Nach jeder Jahresversammlung führen
wir eine Umfrage durch, um zu erfahren, wie die Kollegen das Forum fanden und
welchen Gast sie sich fürs kommende Jahr wünschen. Wladimir Putin steht dabei
seit langem stets an erster Stelle, gefolgt von Lawrow. Er ist populär und ein
großartiger Redner. Leider spielen zwischenstaatliche Probleme und Widersprüche
in der täglichen journalistischen Arbeit eine immer größere Rolle. Die Leute
wollten von ihm wissen, wie die Zukunft unserer internationalen Beziehungen
aussieht. Das Interesse daran ist sehr groß.
Ihr Verband hat eine lange Tradition, er wurde 1926 in der Sowjetunion
gegründet. Was bedeuten diese historischen Wurzeln?
Im Unterschied zum Westen gab es in den sozialistischen Staaten keine reinen
Journalistengewerkschaften. Tarifauseinandersetzungen spielten in der UdSSR
keine Rolle, entsprechend der sozialistischen Ordnung waren die Kollegen sozial
wesentlich besser geschützt. Sie schlossen sich in einem Berufsverband
zusammen, der Bildungs- und Fortbildungsangebote machte, Konferenzen mit
internationalen Gästen, Studienreisen und Ausstellungen organisierte, auch
eigene Periodika herausgab. Seinerzeit gab es nur staatliche Medien, keine
privaten. Das hat sich natürlich geändert, aber in Russland und anderen
postsowjetischen Staaten lebt die Tradition fort, dass sich Berufsverbände wie
der RJV nicht ausschließlich mit rein gewerkschaftlichen Aufgaben befassen.
Worin besteht heute die Hauptaufgabe Ihrer Organisation?
Seit dem Ende der Sowjetunion geht es vor allem um den sozialen Schutz der
Kollegen, daher stehen Lohn- und Gehaltsforderungen sowie arbeitsrechtliche
Fragen im Mittelpunkt. Aber auch die persönliche Sicherheit spielt eine große
Rolle. Immer wieder werden Journalisten an der Ausübung ihres Berufs gehindert
oder gar körperlich angegriffen. Ihnen stehen wir zur Seite, auch gegenüber der
Staatsmacht. Einen Journalisten an der Arbeit zu hindern ist in Russland
illegal. Wer einen Presseausweis mit sich führt, der ist für die Behörden
unberührbar.
Eine große Herausforderung sind für uns die Protestveranstaltungen der Anhänger
von Alexej Nawalny, bei denen ja immer auch
Journalisten anwesend sind, darunter viele junge Kollegen. Wir haben öffentlich
erklärt, dass wir jedem einzelnen Übergriff nachgehen werden. Es gibt auf der
Website protectmedia.org eine täglich aktualisierte Liste von Fällen, in denen Pressearbeit
behindert wurde: Inhaftierungen, Zensur – die laut Verfassung verboten ist –
und körperliche Gewalt. Der Vorsitzende und andere Mitglieder des RJV-Vorstands
setzen sich für die Kollegen ein, auch gegenüber Ministern, Vizeministern und
Angehörigen der Polizeikräfte. Wir haben eine Erklärung abgegeben, dass jeder
Fall von Behinderung oder illegalem Arrest sehr ernstgenommen und bis zur
höchsten Instanz verfolgt wird.
Wie steht es denn mit Nawalny selbst? Sehen Sie in
ihm einen Kollegen oder eher einen politischen Aktivisten?
Wir ziehen einen klaren Trennungsstrich zwischen Bloggen und Journalismus. Das
entscheidende Kriterium ist die Verantwortlichkeit, die Blogger eben nicht haben.
Im Unterschied zu Tageszeitungen oder elektronischen Medien sind sie nicht zur
Überprüfung der von ihnen verbreiteten Fakten oder Tatsachenbehauptungen
verpflichtet. Bei journalistischen Erzeugnissen gibt es einen verantwortlichen
Chefredakteur; Quellen und politische Ausrichtung sind geschützt und können vor
Gericht verteidigt werden. Nawalny mag ein
politischer Aktivist und beliebter Blogger sein, ein professioneller Journalist
ist er nicht.
Moskau hat 2017 die Pressegesetze verschärft. Bestimmte Medien gelten
seither als »ausländische Agenten« und müssen sich als solche registrieren
lassen. Wie stehen Sie dazu?
Es gab da harte Debatten, einige Kollegen lehnen die Regelung rundweg ab,
finden sie absolut repressiv. Ich sehe das anders. Diese presserechtlichen
Zusätze sind eine Reaktion darauf, wie US-Gesetze geändert wurden, um russische
Kollegen in den Vereinigten Staaten, aber auch in der EU zu behindern. Das
betrifft vor allem RT, wie wir gerade wieder gesehen
haben. Die Sperrung von RT DE und »Der fehlende Part« durch Youtube ist nichts anderes als ein offener Akt politischer
Zensur.
Allerdings sind wir der Auffassung, dass das Gesetz überarbeitet werden muss.
Es ist z. B. nicht präzise geregelt, wie der Nachweis erbracht wird, dass man
»ausländischer Agent« sei. Oder wie man diesen Status wieder los
wird. Das ist verrückt und muss geändert werden. Wir hatten den Fall
einer Zeitung, die sich politisch gar nicht besonders exponiert hat. Sie wurde
zum »ausländischen Agenten« erklärt, weil einer ihrer Leser aus der Ukraine dem
Blatt 5.000 Rubel (etwa 59 Euro, jW)
gespendet hat, eine lächerliche Summe. Oder: Wenn ich als Journalist nach
Deutschland fahre und dort ein Auto miete, könnte das problematisch werden.
Erhalte ich die gezahlte Kaution auf dem Bankweg
zurück, gelte ich als Agent, weil ich eine Überweisung aus dem Ausland erhalten
habe. Irrsinn! Der RJV hat gemeinsam mit einigen Partnern Vorschläge für
Änderungen erarbeitet, die wir der Duma bald vorstellen werden.
Wie ist es denn derzeit um die Pressefreiheit in Russland bestellt?
Es gibt wie gesagt eine große Medienvielfalt, nicht nur hinsichtlich der
Besitzverhältnisse, sondern auch mit Blick auf die politische Orientierung der
Besitzer. Das hat sich auch bei diesem Treffen in Sotschi
wieder gezeigt. Vor allem auf regionaler Ebene gibt es viele Medien, die noch
teilweise oder komplett in staatlichem Besitz sind. Und natürlich gibt es die
Privaten. Ich mag das Wort »unabhängige Medien« nicht. Unabhängig von wem, von
der Regierung? Dann eben abhängig von jemand anderem.
Es gibt prostaatliche wie oppositionelle Medien. Wenn wir über Repressionen
gegen regierungskritische Häuser sprechen, muss man wissen, dass der
Radiosender Echo Moskwy landesweit
ausgestrahlt wird, ebenso der TV-Kanal Doschd.
Die wichtigste Oppositionszeitung Nowaja
Gaseta ist praktisch überall erhältlich. Wenn
behauptet wird, die russische Medienlandschaft sei eine Einöde, es gebe nur
noch Einheitsbrei, dann muss ich energisch widersprechen.
Einige Preisträger äußerten hier in Sotschi
öffentlich harsche Kritik an der Regierung, als sie die angesehene
Medienauszeichnung »Tefi« entgegennahmen ...
Für westliche Ohren mag das ungewöhnlich klingen, für uns nicht. Es ist eines
dieser Stereotype, die Vorstellung, wir lebten hier in einem modernen Gulag,
jeder habe Angst, seine Stimme gegen Putin zu erheben. Als ich solche Artikel
das erste Mal las, musste ich lachen. Inzwischen langweilen mich westliche
Medien einfach. Die meisten Autoren sind noch nie hier gewesen und haben sich
die Dinge mit eigenen Augen angeschaut. Diese Kritiker, die Sie erwähnten:
Wurden sie ausgebuht, geschlagen oder von der Bühne weg verhaftet? Nein. Wir
haben hinterher mit ihnen gefeiert. Einer arbeitet für NTW, den
viertgrößten Sender in der Russischen Föderation – ein prominenter Journalist
mit sehr eigenen politischen Ansichten. Es steht ihm frei, sie zu äußern, auch
auf einer Bühne ...
In Deutschland jedenfalls sind der Pressefreiheit Grenzen gesetzt. Die
Tageszeitung junge Welt wird vom Inlandsgeheimdienst beobachtet und in
dessen jährlichen Berichten als »linksextremistisch« gebrandmarkt. Der
journalistische Status wird ihr damit amtlicherseits faktisch entzogen, das
Blatt als »verfassungsfeindlich« stigmatisiert.
Geheimdienstlich beobachtet? Das hat für Sie sicherlich wirtschaftliche Folgen
und beeinträchtigt das Anzeigengeschäft … Einen solchen Fall kann ich mir
in Russland nicht vorstellen. Bei besagtem Gesetz über »ausländische Agenten«
geht es vor allem um die detaillierte Offenlegung der finanziellen
Verhältnisse. Das erfordert einen gewissen bürokratischen Aufwand und nervt,
zwingt Zeitungen aber nicht dazu, zu schließen. Aber dass ein Geheimdienst
konstatiert: Diese Zeitung ist gegen den Staat, gegen die Verfassung … Das ist
sehr seltsam.
Im Unterschied zum Fall Nawalny ist in deutschen
Medien über Julian Assange vergleichsweise wenig zu
lesen. Der ist ja zweifellos ein Journalist und Aufklärer. Wie denken Sie
darüber?
Ich bin davon überzeugt, dass die Mehrheit der Menschen im Westen keine
Vorstellung von der realen politischen Situation in Russland hat.
Wahrscheinlich können sie auch keinen anderen Oppositionsvertreter nennen als Nawalny. Vielleicht Wladimir Schirinowski, den mögen einige
Ältere noch kennen. Immer wieder Nawalny, es ist wie
ein Slogan, ein Bekenntnis. Dabei bezweifle ich, dass die Leute sagen können,
worum es in seinem Fall genau geht – geschweige denn seine politischen
Ansichten kennen. Viele wären vermutlich sehr erstaunt, wenn sie die rechten
Statements zur Kenntnis nehmen könnten, die von ihm vor seiner Verwandlung zum
Menschenrechtler kamen: rassistische Bemerkungen über in Moskau lebende
Arbeiter aus Zentralasien, antisemitische Äußerungen und dergleichen.
Die Leute, die seinen Namen in den Mund nehmen, sind in der Regel nicht an den
hiesigen Zuständen oder am Kampf der Leute für ihre Rechte interessiert.
Natürlich gibt es in Russland wie in jedem Land einen Haufen Probleme,
innenpolitisch, ökonomisch, sozial. Aber dieser Kampf für den Fortschritt, der
von Parteien, NGOs usw. geführt wird, der interessiert im Westen niemanden.
Im vergangenen Jahr wurde der »Internationale Solidaritätspreis« des RJV an
Julian Assange verliehen.
Unserer Ansicht nach ist Journalismus ein öffentliches Gut, und die Informationen,
die Assange verfügbar machte, nützen der
Öffentlichkeit sehr. Er ist ein leuchtendes Beispiel für einen Journalisten aus
Überzeugung, jemand, der nie großes Geld verdient hat oder irgendwie gefördert
wurde. Für seine Arbeit opfert er buchstäblich sein Leben. Er ist enormen
Drohungen ausgesetzt, hat viele Jahre seines Lebens in diesem Botschaftsexil
verbracht, jetzt sitzt er hinter Gittern. Bewegungsfreiheit, freie
Meinungsäußerung, freie Berichterstattung – das alles wurde im Fall Assange mit einem Handstreich beiseite gefegt. Sein Fall
sollte eingehend studiert werden, auch an Schulen. Es ist ein Präzedenzfall.
Wir kämpfen gegen eine Situation, in der jedem, der Recherchen anstellt wie Assange, ein ähnliches Schicksal blühen kann. Die Kollegen
aus den Mainstreammedien im Westen wollen das nicht erkennen und stecken den
Kopf in den Sand. Sie kennen sicher die Zeilen: »Als die Nazis die Kommunisten
holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist ...« Man hat
geschwiegen, als es um Assange ging, aber er wird
nicht der letzte sein.
Er ist der erste Träger unseres 2020 gestifteten Internationalen
Solidaritätspreises. Die Auszeichnung wird nun jährlich am 8. September
verliehen, der bei uns als »Tag der internationalen Solidarität mit verfolgten
Journalisten« begangen wird, eine Tradition aus der Sowjetzeit. Er ist dem
Gedenken an den Antifaschisten Julius Fucik gewidmet,
der an diesem Tag von den Nazis ermordet wurde.
In diesem Jahr erhielt der lettische Kollege Andrey Starikow
vom Onlineportal Baltnews den
Solidaritätspreis. Er und seine Kollegen werden von den örtlichen Behörden
wegen ihrer Zusammenarbeit mit Rossija Sewodnja verfolgt. Der Austausch von Materialien mit dem
russischen Medienunternehmen verstoße gegen EU-Gesetze. Man hat gegen Starikow Anklage erhoben, er kann nicht mehr nach Lettland
einreisen und arbeitet nun von Russland aus. Seine Kollegen sind als
»Staatsfeinde« von Strafverfolgung bedroht.
Als im Februar 2014 hier in Sotschi die
olympischen Winterspiele eröffnet wurden, fand in der Ukraine ein
faschistischer Putsch statt. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Ich war zuvor bereits in Kiew gewesen und habe am 21. November 2013 gesehen,
wie es auf dem Maidan losging. Es fand dort ein
Treffen der Internationalen Journalistenföderation statt, an dem auch
ukrainische Kollegen teilnahmen. Der Hauptsitz der Nationalen
Journalistengewerkschaft der Ukraine, NUJU, liegt direkt an der großen
Magistrale Kreschtschatik. Ich saß an jenem
Nachmittag mit Kollegen in einem Café. Im nachhinein
wurde mir klar, das war der letzte friedliche Tag. Mein Hotel war direkt am Maidan, nachts wurde ich von lauten Geräuschen geweckt. Ich
wollte wissen, was los war, ging auf die Straße wo eine Art Karneval stattfand.
Es gab Musik, die Leute lachten und wirkten entspannt. Einige Tage später, ich
war zurück in Moskau, erkannte die Welt den wahren Charakter dieses Karnevals:
Feuer, entfesselte Gewalt und den faktischen Zusammenbruch des Staates. Im
Februar 2014 war ich dann das letzte Mal in der Ukraine, sah die Barrikaden auf
dem Kreschtschatik, die Zeltlager, Leute mit SS-Runen
auf den Jacken, die ausgebrannten Gebäude. Es war eine andere Welt. Das war
mein letzter Besuch in Kiew, dieser wunderschönen Stadt, die ich sehr liebe.
Leider ist mir der Weg dorthin jetzt versperrt, mein Name steht auf einer Liste
der »Feinde der Ukraine«, die Faschisten für die Organisation Mirotworez (Friedensstifter, jW)
zusammengestellt haben. Sie finden das offensichtlich lustig, sich so zu
nennen. »Willkommen im Klub!« meinten Kollegen, die meinen Namen auf der
Website entdeckt haben. Irgendwie bin ich auch stolz darauf. Wir haben hier in Sotschi eine große Delegation aus Belarus; der Vorsitzende
der Journalistengewerkschaft, Andrej Kriwoschejew,
ein prominenter TV-Reporter, wurde gestern erst in diese Feindesliste
aufgenommen. Wir haben ihm gratuliert.
Die Beziehungen des Westens zur Russischen Föderation waren schon
angespannt, bevor der Staatsstreich in der Ukraine sich ereignete. Seither
scheint es immer schneller bergab zu gehen.
Das sehe ich genau so, 2014 war der Wendepunkt. Der Krieg im Osten der Ukraine,
die Ermordung der Menschen im Donbass und die
Reaktion der westlichen Gesellschaften darauf – all das erinnert mich sehr an
die Bombardierung Jugoslawiens 1999, als ganz Europa teilnahmslos vor den
Fernsehgeräten saß. Und im Westen sprechen die Leute immer noch von einer
russischen Aggression ...
Unterdessen rückt die NATO näher an die russische Grenze heran und
veranstaltet dort regelmäßig militärische Manöver. Wie wird das in russischen
Medien reflektiert?
Es gab keine Paranoia. Von den allermeisten Medien wurde das klar als
Provokation gesehen. Klar war aber auch, dass die westeuropäischen Mächte nicht
bereit sein werden, die Lage weiter zu eskalieren. Wir haben in den letzten
Jahren so viele Provokationen erlebt, ökonomisch, politisch – nun eben auch
militärisch. Eine verbreitete Haltung ist eher: Jetzt versuchen sie es mit
einem neuen Trick, nun gut …
Liegt es vielleicht auch daran, dass Russland inzwischen über die besseren
Waffen verfügt, ein Angriff des Westens mit einem erheblichen Risiko verbunden
wäre?
Das ist sicher richtig. Die russische Armee unterscheidet sich heute auch in
ihrer Führungsstruktur vollkommen von jener Anfang der
90er Jahre, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Damals litten die Soldaten
Hunger, gab es krasseste Korruption. Waffen aller Art wurden rund um den Globus
verkauft. Ich bin wirklich kein Militarist, aber offensichtlich hat sich
seither einiges getan. Die Armee ist jetzt stärker als zu irgendeinem Zeitpunkt
in den letzten dreißig, vierzig Jahren. Das geht aus verschiedenen Dokumenten
hervor, die sicher auch den einschlägigen Stellen im Westen bekannt sind.
Gibt es angesichts dieser Zuspitzungen etwas, das Sie dennoch optimistisch
stimmt?
Vor allem glaube ich an den gesunden Menschenverstand. Es ist möglich, und es
kann sehr nützlich sein, Menschen zu belügen. Man kann das ein paar Jahre
hindurch tun. Aber man kann ihnen nicht zehn, zwanzig, dreißig Jahre lang Lügen
auftischen. Es ist unmöglich, den Menschen in Deutschland, Spanien oder
Frankreich tagein, tagaus etwas über russische Aggression, russischen
Imperialismus oder die Bedrohung der Welt durch unser Land zu erzählen, wenn
die Leute nichts davon in der Realität wahrnehmen. Man kann ihnen erzählen, die
Presselandschaft in Russland sei eine Wüste, ein einziger Gulag mit nichts als
Staatsmedien – aber wenn ausländische Gäste
sehen, wie Kritiker der Regierung hier ausgezeichnet werden, es Diskussionen,
Debatten und Meinungsverschiedenheiten gibt … Es ist unmöglich, mit Lügen auf
Dauer durchzukommen. Und das stimmt mich in gewisser Weise optimistisch.
Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/411622.medienpolitik-das-ist-hier-kein-moderner-gulag.html