Putins Botschafter im Interview "Wir sind keine
Verlierer"
01.02.2022,
08:55 Uhr
Sergej Netschajew ist seit 2018 Botschafter der Russischen
Föderation in Deutschland.
(Foto: picture alliance/dpa)
Der
russische Botschafter in Deutschland, Sergej Netschajew,
macht den Westen für die Eskalation des Ukraine-Konflikts verantwortlich.
"Die NATO bemüht sich sehr energisch, die Ukraine militärisch und
technisch zu erschließen", sagt Netschajew im
Interview mit ntv.de. "Die Flugzeit der Raketen, falls entsprechende
Anlagen in der Ukraine installiert werden sollten, bis zu den lebenswichtigen
Zentren Russlands beträgt fünf bis sieben Minuten. Dadurch entsteht eine neue
Situation für unsere Sicherheit."
Russland ist
Netschajew zufolge keine Bedrohung für die Ukraine.
"Wir haben dem ukrainischen Volk nie gedroht. Nie." Mit Blick auf die
NATO-Osterweiterungen nach dem Ende des Kalten Kriegs sagt der Botschafter:
"Wir spüren Risiken für unsere Sicherheit." Für die Beitrittsländer
in Osteuropa, die vor dem Zusammenbruch des Kommunismus dem Warschauer Pakt
oder gar der Sowjetunion angehört hatten, habe Russland hingegen "keine
reale Gefahr" dargestellt.
ntv.de: Herr
Botschafter, Sie haben beruflich mit Unterbrechungen seit mehr als 40 Jahren in
Deutschland zu tun. Sie waren für den diplomatischen Dienst der Sowjetunion in
der DDR und sind seit 2018 russischer Botschafter in Deutschland. Mit Blick auf
diese lange Zeit: Wie ist es derzeit um die deutsch-russischen Beziehungen
bestellt?
Sergej Netschajew: Es sind unterschiedliche Zeiten, ich würde
sogar sagen, unterschiedliche Epochen. Heute gibt es, nicht zuletzt dank
unserer Unterstützung, ein vereintes Deutschland. Das ist ein völlig anderes
Land, eingebunden in Allianzen und Unionen. Trotzdem haben wir das Positive aus
beiden deutschen Staaten in die Gegenwart geholt. Die historische Aussöhnung
nach dem Krieg war nicht selbstverständlich. Die Sowjetunion hat den Sieg mit
27 Millionen Toten bezahlt. Dass wir dennoch Schritt für Schritt den Weg zur
Aussöhnung geebnet haben, betrachte ich als eine der größten Errungenschaften
in unserem Verhältnis. Mehr als 4000 russische Kriegsgräber werden heute in
Deutschland gepflegt.
Beide
deutschen Staaten waren für uns - die Sowjetunion oder Russland - immer der
wichtigste Handelspartner. Deutschland ist immer noch weit oben auf der
Prioritätenliste unserer Zusammenarbeit mit dem Westen, auch wenn es in den
letzten Jahren einige Unebenheiten in unserem Verhältnis gab. Wir sind alle
Europäer. Uns verbindet sehr viel.
Politik 26.01.22
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"Merkels Abtritt war für Putin ein Schlüsselmoment"
Trotz dieser
der langen Verbindungen gibt es - wie Sie sagen - Unebenheiten, die in den
vergangenen Monaten noch zugenommen haben. Wie sollte sich das
deutsch-russische Verhältnis aus Ihrer Sicht entwickeln?
Deutschland,
der Westen insgesamt, muss die Epoche der Beendigung des Kalten Krieges
psychologisch überwinden. Nach der Wende hieß es im Westen, der Kalte Krieg sei
zu Ende und es gebe einen Verlierer: die Sowjetunion. Und die Gewinner könnten
dem Verlierer nun Vorschriften machen. War Russland nicht einverstanden, weil
dieses Vorgehen seinen nationalen Interessen nicht entsprach, dann folgten
Skepsis, Verärgerung, Drohungen, Sanktionen und Ultimaten.
Ich bin sehr
dafür, dass unsere Interessen gehört und verstanden werden. Wir sind keine
Verlierer, wir sind ein gleichberechtigtes Land und ein gleichberechtigter
Partner in Europa. Wir sind offen für eine gleichberechtigte, pragmatische,
respektvolle Zusammenarbeit mit allen Staaten in Europa. Wir bitten nur darum,
unsere Belange zu verstehen und darauf zu verzichten, uns die Leviten zu lesen
und uns einen Weg zu weisen, den wir nicht akzeptieren können, aus
historischen, mentalen, psychologischen Gründen, aber auch aus
Sicherheitsgründen.
Lassen Sie
uns über die Sicherheitsgründe sprechen. Versteht Russland, dass sich ein Land
wie die Ukraine bedroht fühlt, wenn mehr als 100.000 russische Soldaten an der
Grenze aufmarschieren?
Nicht
"an" der Grenze, sondern 300 bis 400 Kilometer davon entfernt. Wie
viele ukrainische Soldaten stehen direkt an der russischen Grenze? Es ist eine
hohe Zahl. Wir haben dem ukrainischen Volk nie gedroht. Nie. Das ukrainische
Volk ist für uns ein Brudervolk, es ist praktisch dasselbe Volk.
In
ukrainischen Ohren könnte es bedrohlich klingen, wenn ein Vertreter Russlands
sagt, es sei praktisch dasselbe Volk.
Es ist aber
die Tatsache und ich sehe da überhaupt keine Bedrohung.
Kommentare 24.01.22
In Kiew wächst das Unbehagen
Deutschland darf die Ukraine nicht im Stich lassen
Die Ukraine
möchte nicht nur als Volk existieren, sondern als souveräner Staat.
Bei den
Verhandlungen im Februar 2015 mit Bundeskanzlerin Merkel, dem französischen
Präsidenten Hollande, dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko und dem russischen Präsidenten Putin stand die
Frage im Raum, was mit den sogenannten nicht anerkannten Republiken geschieht.
Wir haben uns damals dafür eingesetzt, dass die Ostukraine in der Ukraine
verbleibt. Die Ostukrainer wollten das nicht, weil sie nicht verstanden, warum
nach dem Staatsstreich in der Ukraine im Februar 2014 ihre Meinung nicht
respektiert wurde. Kiew schickte Truppen in die Ostukraine und es begann die
sogenannte Anti-Terror-Operation gegen eigene Leute, die keine Terroristen
waren und einfach die antirussische Rhetorik vom Maidan
nicht mittragen wollten.
Das war der
Anfang. Kennen Sie die Verhandlungen im Zuge der deutschen Einheit?
Die
Zwei-plus-Vier-Verhandlungen.
Das waren
Verhandlungen über die Regelung der äußeren Aspekte der Deutschen Einheit. Es
gab klare Äußerungen von Deutschlands heutigen Verbündeten, dass die Einheit
fehl am Platze sei. Aber unser Land war dafür. Bei diesen Verhandlungen gab es
feste Zusagen, die inzwischen öffentlich sind. In den Gesprächsprotokollen ist
schwarz auf weiß nachzulesen, dass die NATO nicht nach Osten ausgedehnt werden
sollte. 14 Länder Europas sind seither Mitglied der NATO geworden. Aber nicht
nur das: Die militärische Infrastruktur der NATO-Staaten nähert sich unseren
Grenzen. Wir spüren Risiken für unsere Sicherheit.
Glauben Sie,
die NATO könne Russland angreifen?
Es geht
nicht um Glauben oder Vertrauen. Es geht um das Potenzial. Wir sehen, dass
Waffen gegen uns gerichtet sind. Dass in Polen stationierte
Anti-Ballistik-Missiles den Westen vor dem Iran schützen sollen - sorry, das
sind Märchen der Gebrüder Grimm. Wir sehen die Gefahr eines Angriffs nicht
unbedingt heute. Aber morgen kommt vielleicht eine andere Führung und sagt: Mit
diesen Raketen können wir Russland drohen, es zu etwas zwingen oder sogar
angreifen. Darauf müssen wir vorbereitet sein.
Politik 18.01.22
Baerbock in Moskau Worum geht es im Streit
mit Russland?
Diese
Länder, die der NATO beigetreten sind, hatten offensichtlich auch
Sicherheitsbedenken. Muss Russland das nicht auch zur Kenntnis nehmen?
Das können
wir natürlich zur Kenntnis nehmen. Aber man muss bedenken, wie die reale Situation
war. Haben wir jemandem gedroht? Wir haben uns damit befasst, unsere Truppen
aus Deutschland und osteuropäischen Staaten zurückzuziehen.
Diese Länder
haben es so empfunden.
Das war
Fantasie. Es gab keine reale Gefahr.
Die
jeweiligen Länder haben das offenbar anders eingeschätzt.
Sie geben
diesen Ländern das Recht auf irgendwelche Garantien. Und jetzt, wo die
Situation sich geändert hat, brauchen auch wir Garantien. Das ist absolut
legitim.
War es denn
aus russischer Sicht ein Fehler, dass beispielsweise die drei baltischen
Staaten der NATO beigetreten sind?
Die
Osterweiterung der NATO war grundsätzlich kein großer Erfolg der westlichen
Politik. Wir haben 1999 bei einem Treffen der OSZE in Istanbul vereinbart und
in Astana im Dezember 2010 bekräftigt, dass die Sicherheit eines Staates nicht
auf Kosten der Sicherheit eines anderen Staates gefestigt werden darf. Unsere
westlichen Gesprächspartner betonen das Recht eines Staates auf die Wahl seiner
Sicherheitsarchitektur. Dabei wird aber vergessen, dass diese Wahl die
Sicherheit der anderen Staaten nicht verschlechtern darf.
Politik 30.01.22
Im Falle einer Invasion Moskaus
Stoltenberg schließt NATO-Einsatz in Ukraine aus
Diese
russischen Bedenken sind nicht neu. Warum ist es ausgerechnet in den
vergangenen Monaten zu dieser Eskalation gekommen?
Die NATO
bemüht sich sehr energisch, die Ukraine militärisch und technisch zu
erschließen. Die Flugzeit der Raketen, falls entsprechende Anlagen in der
Ukraine installiert werden sollten, bis zu den lebenswichtigen Zentren
Russlands beträgt fünf bis sieben Minuten. Dadurch entsteht eine neue Situation
für unsere Sicherheit. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Bürger Russlands und
sehen, dass in Charkow amerikanische Raketen stehen.
Man könnte
dann als Bürger Russlands auf die Idee kommen, dass die Ukraine
Sicherheitsgarantien braucht, die sie dazu bewegen, die NATO nicht um solche
Raketen zu bitten.
Dann müsste
die Regierung in Kiew erst mal den innenpolitischen Konflikt mit dem Donbass regeln. Dafür gibt es eine absolut klare Grundlage.
Aus
ukrainischer Sicht ist das kein innerukrainischer Konflikt, sondern ein
Konflikt mit Russland, der von Russland angefacht wird.
Das ist
Demagogie. Nicht Russland hat den Donbass
angegriffen. Die Grundlage für die Regelung des Konflikts sind die Minsker
Abkommen. Das ist kein einfaches Übereinkommen, das ist eine völkerrechtlich
verankerte Vereinbarung, abgesegnet durch eine Resolution des UNO-Sicherheitsrats.
Und in diesen Minsker Vereinbarungen gibt es keinen Paragraphen, in dem steht,
Russland müsse etwas tun.
Es ist aber
auch nicht so, dass Russland keinen Einfluss auf die momentan tonangebenden
Kräfte in der Region hat.
Dank diesem
Einfluss ist die Region weiterhin Teil der Ukraine. Das war von Anfang an
keineswegs klar. Dies sind hauptsächlich russischsprachige Regionen, mit einer
sehr starken geistigen und wirtschaftlichen Verbindung nach Russland. Wenn Sie
mal in die Geschichte schauen, werden Sie verstehen, wie stark Bande mit
Russland sind.
Auch ein
solcher Satz könnte in ukrainischen Ohren beunruhigend klingen.
Wir sprechen
über zwei nicht anerkannte Republiken, die Teile der Ukraine sind, aber einen
Sonderstatus in der ukrainischen Verfassung verankern möchten. Dafür braucht es
einen Dialog zwischen Kiew auf der einen und Donezk und Luhansk
auf der anderen Seite. Wie das jüngste Berater-Treffen im Normandie-Format
gezeigt hat, verstehen unsere westlichen Freunde das ein bisschen anders. Da
wird Russland als Konfliktpartei dargestellt. Das werden wir nicht akzeptieren.
Können Sie
denn zusichern, dass die beiden nicht anerkannten Republiken Teil der Ukraine
bleiben?
Das hängt
davon ab, wie es weitergeht mit der Realisierung der Minsker Abkommen. Ich kann
nichts garantieren. Bis jetzt stellen die Regionen nicht die Frage nach dem
Austritt.
Wie würde
sich Russland entscheiden, wenn diese Frage wieder aufkäme?
Würde es erneut Anstrengungen unternehmen, dass diese Gebiete in der Ukraine
bleiben?
Ich möchte
nicht spekulieren. Realpolitik findet nicht im Konjunktiv statt.
Würden Sie
der Analyse zustimmen, dass ein Beitritt der Ukraine zur NATO so lange
unwahrscheinlich ist, wie der Ostukraine-Konflikt nicht gelöst ist?
Die NATO
kann gemäß ihren Statuten die Ukraine nicht als Mitglied akzeptieren, weil es
dort einen innenpolitischen Konflikt gibt. Ein Land muss aber nicht unbedingt
de facto Mitglied sein, um von der NATO militärisch so erschlossen zu werden,
dass es praktisch doch in der NATO ist. Auch das wollen wir nicht.
Kommentare 18.01.22
Moskaus Konflikt mit dem Westen Der Wiederaufbau von
Vertrauen wird schwierig
Diese
Analyse beinhaltet natürlich auch die Unterstellung, dass Russland ein
Interesse daran hat, den Konflikt bestehen zu lassen.
Wie gesagt,
wir wollen eine Beilegung des Konfliktes auf der Grundlage der Minsker
Vereinbarungen. Aber Kiew tut nichts und sabotiert praktisch alles. Die
Mitglieder des Normandie-Formats, Deutschland und Frankreich, müssen
tatkräftiger auf Kiew einwirken, damit es seinen Verpflichtungen nachkommt.
Russland
fordert von der NATO einen generellen Verzicht auf weitere Ost-Erweiterungen.
Wir fordern
eine Nicht-Erweiterung der NATO, keine militärisch-technische Erschließung der
Ukraine und Rückzug der militärisch-technischen Infrastruktur der NATO auf den
Stand von 1997.
Schließt die
Forderung nach einer Nicht-Erweiterung der NATO Finnland und Schweden ein?
Wenn wir
über die Nicht-Erweiterung der NATO sprechen, dann geht es vor allem darum,
dass die Allianz nicht noch mehr an unsere Grenzen vorrückt. Den neutralen
Status von Finnland und Schweden respektieren wir.
Lassen Sie
uns noch über Nord Stream 2 sprechen. Hat das Projekt für Russland neben der
wirtschaftlichen auch eine geopolitische Bedeutung?
Es wurde so
viel Geld in diese Rohrleitung gepumpt, dass wir auf keinen Fall den Hahn
zudrehen wollen. Es ist ein internationales Projekt, eine Win-Win-Story. Wir liefern Gas zu guten Preisen auf Grundlage
langfristiger Verträge. Deutschland wird Abnehmer Nummer eins in Europa und die
deutschen Verbraucher müssen nicht mehr so tief in die Geldbörse greifen. Seit
50 Jahren liefern wir Gas nach Deutschland. Nicht ein einziges Mal haben wir
Anlass zu der Annahme gegeben, wir seien unzuverlässige Lieferanten.
Wirtschaft 31.01.22
Alternative zu Russland-Gas Biden
verhandelt mit Katar über Flüssiggas für die EU
Bundesaußenministerin
Annalena Baerbock hat bei ihrem Besuch in Moskau das
Potenzial von grünem Wasserstoff aus Russland angesprochen. Hat die russische
Seite Interesse an einer Zusammenarbeit bei diesem Thema?
Es gibt eine
Arbeitsgruppe, an der auf deutscher Seite das Bundeswirtschaftsministerium und
von russischer Seite unser Energieministerium beteiligt ist. Diese
Arbeitsgruppe hätte längst zusammentreffen sollen, aber wegen der Pandemie
musste das verschoben werden. Ich warte ehrlich gesagt auf ein Signal aus dem
neuen Wirtschaftsministerium, wer diese Gruppe auf deutscher Seite künftig
leiten wird.
Apropos
Pandemie …
Sind Sie mit
Sputnik geimpft?
Dieser
Impfstoff hat keine Zulassung in Deutschland.
Was schade
ist. Wir sind dafür, dass auf bilateraler Grundlage die beiden Impfstoffe
Sputnik und Comirnaty anerkannt werden. Sie sind sehr
gut kompatibel. Das sage ich Ihnen nicht als Botschafter, sondern als Patient.
Von der
europäischen Zulassungsbehörde EMA hieß es wiederholt, es fehlten Unterlagen
für eine Genehmigung.
Die
kommerziellen Interessen sind riesig. Aber wir sind nicht böse. 72 Länder der
Welt nutzen Sputnik und sind damit glücklich.
Woran liegt
es, dass die Impfquote in Russland so niedrig ist?
Das hat
psychologische Gründe. Das ist Teil der russischen Mentalität. Ein russisches
Sprichwort sagt: Wir spannen langsam ein, aber wir reiten schnell. Wir sind
jetzt bei einer Quote von 65 Prozent Erstimpfungen und gut die Hälfte davon ist
geboostert. Sputnik hilft auch gut gegen Omikron. Das
ist keine Propaganda, das ist in wissenschaftlichen Studien bestätigt.