Putschversuch
in Bolivien – Mit Heiligem Kreuz, Schlägertrupps und Straßensperren nötigen
Konservative Evo Morales zum Rücktritt
von Frederico Füllgraf 8.11.2019
Die
gewaltsamen Proteste, mit mindestens drei Toten und hunderten von Verletzten,
begannen nach Bekanntgabe der offiziellen Ergebnisse der jüngsten Präsidentschaftswahlen
vom 20. Oktober, aus denen der amtierende und zur Wiederwahl angetretene
Präsident Evo Morales mit ca. 46 Prozent gegen 36
Prozent der Stimmen seines zweitplatzierten, konservativen Herausforderers,
Carlos Mesa, hervorging. Mit dem nur knapp erreichten, zehnprozentigen
Vorsprung vermied Morales die gesetzlich vorgeschriebene Stichwahl, was Mesa im
Handumdrehen dazu veranlasste, das Oberste Wahlgericht und Morales des
„Wahlbetrugs“ zu beschuldigen und die Öffentlichkeit zu Protesten aufzurufen.
Als Geste
des Entgegenkommens rief die bolivianische Regierung die in Washington
ansässige, konservative Organisation der Amerikanischen Staaten (OEA) ins Land,
die seit Ende Oktober mit der akribischen Prüfung der landesweiten
Stimmenabgabe beschäftigt ist und Mitte November ihr Gutachten vorlegen will.
Indes stößt
Carlos Mesas Zick-Zack-Kurs auf Empörung. Zunächst versuchte der konservative
Vorgänger von Evo Morales dessen Anrecht auf
Wiederwahl zu behindern. Nachdem ihm die Verhinderung nicht gelang, forderte er
nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses eine Stimmen-Neuauszählung, lehnt jedoch
jetzt – wegen angeblichem „Vertrauensmangel“ – selbst den Wahlaudit der OEA ab
und fordert Neuwahlen; eine Forderung, der sich auch die rechtsextreme
Opposition im Regierungsbezirk Santa Cruz anschloss.
Die
Opposition ist jedoch gespalten zwischen Mesa und Luis Fernando Camacho. Der
Anwalt und Unternehmer aus dem bolivianischen Nordosten befahl seinen
rechtsradikalen Comités Cívicos
(Bürgerkomitees) die vollständige Abriegelung nicht nur der Stadt Santa Cruz,
sondern auch der Staatsgrenzen zu Brasilien und Paraguay, womit Camacho die
Hochburg des ultrarechten Agrobusiness hinter Barrikaden vom übrigen Bolivien
isolierte und notfalls auch vom restlichen Land als „selbstständige Republik“
abzuspalten droht.
Allerdings
gingen den anhaltenden Auseinandersetzungen bereits im Dezember 2018 brutale Angriffe rechtsradikaler
Schlägertrupps auf Polizeikräfte voraus, die nun – anders als im Nachbarland Chile –
von der Regierung zur disziplinierten Mäßigung im Umgang mit oppositionellen
Demonstranten aufgerufen wurde. Zur Vermeidung von Konfrontationen und blutigen
Straßenschlachten hielt sich die Administration Evo
Morales auch mit der Mobilisierung ihrer eigenen, breiten sozialen und
politischen Basis zunächst zurück.
Der
gewerkschaftliche Dachverband COB, Massenorganisationen der indigenen Völker, Frauenbewegungen und progressive Parteien – allen
voran die amtierende Bewegung für den Sozialismus (MAS) – brachen erst am
Dienstag, dem 5. November, zu einem beeindruckenden Aufmarsch in der Innenstadt von La Paz auf,
nachdem Camacho die Hauptstadt angeflogen hatte, um Morales zur Unterschrift
seiner „Rücktrittserklärung“ zu zwingen und der Präsident vor dem eskalierenden
Putsch gewarnt hatte. Der Rechtsradikale wurde jedoch von Morales-Anhängern am Verlassen des Flughafens gehindert und musste unerledigter Dinge nach
Santa Cruz zurückfliegen.
Lithium-Projekt
mit deutschem Unternehmen annulliert
Als dritter
widerständiger Richtung stieß die Regierung Morales auf den Widerstand
indianischer Gemeinden gegen das bolivianisch-deutsche Projekt der
Lithium-Gewinnung und Aufbereitung am Uyuni, dem
größten Salzsee der Erde. Der Uyuni erfreut sich seit
Jahren eines internationalen Touristen-Booms, wurde 2019 mit dem World Travel
Awards als „beste natürliche Touristenattraktion in Südamerika“ ausgezeichnet,
gilt aber auch als prähistorischer Salzsee mit den weltgrößten Lithium-Vorkommen.
Das erst im
Oktober 2018 zwischen dem bolivianischen Staat und der baden-württembergischen
Firma ACISA mit je 51:49 Prozent Anteilen feierlich
unterschriebene Projekt, mit einer Startinvestition von 300 Millionen, wurde in
den vergangenen Tagen kommentarlos von der Regierung
storniert, bevor die
Anlage Mitte 2020 überhaupt in Betrieb genommen werden sollte.
Juan Carlos Cejas – Landesgouverneur des historischen Regierungsbezirks
Potosí und Mitglied der linken Regierungspartei MAS – beklagte die Entscheidung
und machte „lokale und fremde Agitatoren“ für die Stimmung und Geschäftsannullierung verantwortlich, die tausende Arbeitsplätze
vernichte und die Zukunft der Region bedrohen würde.
Indigene
Bürgerinitiativen unterstellten dem Projekt Umweltschädigungen, mangelnde
Transparenz und die Missbilligung ihrer Rechte; ein Vorwurf, den die von ACISA
zu Hilfe gerufenen kirchlichen Hilfsorganisationen Brot für die Welt und
Misereor weitgehend teilten. Von Anbeginn war das Projekt jedoch auch von der
umstrittenen Kompetenz von ACISA überschattet, da der Hersteller von
Solarzellen keinerlei Erfahrung in der Lithium-Verarbeitung besitzt und auf die
Beratung und Mitarbeit fremder Unternehmen angewiesen war.
Nach der
Förderung des Agrobusiness und den damit zusammenhängenden Amazonas-Bränden geriet der „harte entwicklungspolitische Kurs“ Evo Morales‘ mit der Lithium-Gewinnung erneut in die Kritik
der indigenen Völker, er machte deshalb auch hier einen Rückzieher. Vielfache
Stimmen – darunter namhafter Intellektueller indigenen Ursprungs wie Rafael Bautista S. – empfehlen daher Regierung und
Opposition den zur Zeit schwierigsten Schritt in Richtung Entspannung: den
Dialog.
Der Vorwurf
des „Wahlbetrugs“ und die Prüfung durch die OEA
Den Anlass
für die Anschuldigung des Wahlbetrugs bildete zwischen dem 20. und dem 21.
Oktober eine 20-stündige technische Unterbrechung der Stimmenauszählung durch
das Oberste Wahlgericht (TSE). Es habe keinen Betrug gegeben, kontert Justizminister Héctor Arce in einem
Interview. Carlos
Mesa wisse dies und lehne deshalb die internationale Wahlprüfung durch die OEA
ab.
Dass nach
der Zählung von 83 Prozent der Stimmen die Weiterführung ausgesetzt und erst am
nächsten Tag reaktiviert wurde, war ein offensichtlicher Fehler des TSE und es
sei Sache des Gerichts, das zu erklären, kritisiert der Minister, doch dieser
Umstand dürfe nicht einfach umgedeutet und damit behauptet werden, dass es
einen Betrug gegeben habe. „Was hier passiert, ist eine inakzeptable
Ungerechtigkeit, eine unnötige Mobilisierung der Bevölkerung, Lähmung ganzer
Städte und Regierungsbezirke, eine Erschütterung der Nation. Um eine Lüge
aufrechtzuerhalten, wird gegen das Leben der Bolivianer getrachtet. Wo ist der
Betrug? Wo ein einziger Hinweis?“, empört sich Arce.
Zwei
zentrale Elemente entkräften von vornherein den Vorwurf der Opposition. Erstens
haben Mesa und seine Partei bisher keine Beweise für Betrug, kein Ersuchen vor
einer Gerichts- oder Verwaltungsinstanz eingereicht, beklagt der
Justizminister. Zweitens hat die sogenannte Comunidad
Ciudadana – die parteipolitisch unabhängige
Bürgergemeinschaft, die den gesamten Wahlvorgang, also Abstimmung, Auszählung
und Protokolle überwacht – die Redlichkeit der Präsidentschaftswahlen
bestätigt.
Über 30.000
freiwillige Delegierte der Comunidad Ciudadana haben fast 100 Prozent der Protokolle der 34.555
Wahllokale unterzeichnet. Während der gesetzlichen Einspruchsfrist wurden von
ihnen keine Beschwerden oder Einsprüche registriert, sämtliche amtliche
Wahlunterlagen wurden von ihnen als gültig bezeichnet. Sobald diese Protokolle
genehmigt sind, werden davon 12 Kopien angefertigt, von denen wiederum die
Delegierten über eine Kopie verfügen. Das Hauptprotokoll wird sodann mit einem
Sicherheitsschlüssel zum Sitz des Obersten Wahlgerichts geschickt, wo es in
Anwesenheit der konkurrierenden Parteien geöffnet wird. Sämtliche Protokolle
werden in Minutenabständen validiert, bis die Gesamtsumme der Stimmen an das
nationale Rechenzentrum gesendet wird. Wie kann es da sein, dass Carlos Mesa
Betrug meldet? Das sei eine Lüge und aus diesem Grund lehnt Mesa den OEA-Audit
durch 30 internationale Gesandte ab, kritisiert Boliviens Justizminister.
Mit Heiligem
Kreuz, Militärs, der extremen Rechten der USA und Bolsonaro
Zwei Wochen
vor den Parlamentswahlen erwachte Bolivien mit der Ankündigung einer
„Farbrevolution“. Luis Fernando Camacho, ehemaliger Vorsitzender des
Pro-Santa-Cruz-Komitees, predigte die Notwendigkeit, den Traum der weißen
Großgrundbesitzer, Sojapflanzer und Viehzüchter von ihrer ersehnten Sezession –
einer Abspaltung von Bolivien – zu verwirklichen. Mit einer an den Haaren
herbeigezogenen Prophezeiung eines „Wahlbetrugs“ rief Camacho zum Ungehorsam
auf und schürte eindeutig einen Aufstand.
Camacho und
seine Anhänger tragen als Emblem ihrer Bewegung das Heilige Kreuz, entweder an
einer Halskette oder auf ihre Hemden gestickt. Ikone, Sprache und
Gewaltbereitschaft stellen spontane Assoziationen zum Ku-Klux-Klan her; es
fehlt nur die weiße Kapuze.
Der
Separatismus im Regierungsbezirk Santa Cruz besitzt indes eine nahezu
60-jährige Geschichte. Doch wie der aus Santa Cruz stammende Publizist Juan
Carlos Zambrana Marchetti
in seinem 2010 herausgegebenen Buch „Secretos
de Estado: Una guerra interna de la CIA, por sus archivos
sobre el antiimperialismo Boliviano“ dokumentierte, hatten die USA von
Anbeginn die Finger im Spiel. In einem vor wenigen Tagen veröffentlichten Essay zu den gegen Evo
Morales geschürten Unruhen griff Marchetti das Thema
wieder auf und erinnerte:
„Im Jahr
1961 starteten die USA in der Region eine mächtige antikommunistische Kampagne,
eine Art Mix aus Propaganda, Unterdrückung und Ausübung des christlichen
Glaubens. Obwohl der Kommunismus in Santa Cruz politisch niemals existierte,
hatte diese Kampagne die Kontrolle und Unterdrückung der (armen) Bauern zum
Ziel; indigene Bauern, die Schwierigkeiten hatten, sich in eine Gesellschaft
von Weißen zu integrieren, die sie ablehnten. Dies löste eine lange
Auseinandersetzung zwischen zivilen Milizen der nationalistischen
revolutionären Bewegung (MNR), den Verteidigern der Revolution von 1952 und
Milizen der extremen Rechten (Juvenile Cruceñista
Union) aus, die keine politische Macht besaßen und sich als ´bürgerlich´ neu
erfunden hatten“.
Während
dieser Auseinandersetzungen traf als internationale Berühmtheit in Santa Cruz
Kardinal Richard James Cushing, Erzbischof von Boston, ein. Cushing stand in
enger Verbindung mit der Bostoner Elite und war ein enger Freund der Familie
Kennedy. Als notorischer Antikommunist bekannt, traf der Kardinal am 9. August
1961 zu einem Eucharistischen Kongress und der Einweihung des Denkmals für
Christus, den Erlöser, ein, das genau an einer Kreuzung mit einer Straße in
Richtung Norden errichtet wurde, wo die Siedlungen der indigenen Colla-Bauern
liegen, die als Arbeitskräfte auf den Latifundien angeheuert wurden.
Doch die
Christus-Figur, so Marchetti, kehrte dem Norden den
Rücken zu und breitete seine schützenden Arme über die weißen Stadtbewohner
aus, die den Segen für sich allein beanspruchten, deren genuin weltlicher
Schutz (Marchetti) jedoch rechtzeitig von den
Streitkräften sichergestellt wurde, die zuvor die Stadt Santa Cruz besetzt und
zum militärischen Sperrgebiet erklärt hatten. General René Barrientos
Ortuño wurde zum provisorischen Abteilungsleiter der
Regierungspartei MNR ernannt und ersetzte Dr. Luis Sandóval
Morón, der nach La Paz „berufen“, sprich:
strafversetzt worden war.
Die
“Unerwünschten”, sprich: die Collas von Sandóval,
leisteten keinen Widerstand. Sie kauerten am Rande des Geschehens und unter
diesen Bedingungen der Ausgrenzung und Demütigung wurde der Eucharistische
Kongress eröffnet und das Denkmal der Oberschicht von Santa Cruz übergeben.
Eine Woche später hielt die Regierung immer noch Sandóval
in La Paz fest und den “unerwünschten” Teil von Santa Cruz fern des
Stadtzentrums.
So wurde
Camachos heutige „Bürgerwehr“ gegen den „Indio“ Evo
Morales und seine Anhänger geboren, die die Mehrheit im Jahrtausende alten
Andenland darstellen, doch wider Menschenwürde und republikanischem Recht von
der nordostbolivianischen weißen Minderheit als „unerwünschte“ Indigene
betrachtet werden – einfach so. „Im lichten 21. Jahrhundert wird das
Christentum ebenso wie im 16. Jahrhundert als Instrument sozialer Kontrolle
eingesetzt, um die Massen zu unterwerfen, um denkende
Individuen in entfremdete Schafherden zu verwandeln“, kommentiert Marchetti.
Der berühmte
Christus-Erlöser der Santa-Cruz-Elite und ihrer Mitläufer wird heute, wie in
den sechziger Jahren, als Kriegswaffe gegen Arme, Indianer, Bauern und Linke im
Allgemeinen militant eingesetzt. „Eine Waffe des moralischen und geistigen
Mordes, die im 21. Jahrhundert eine Schande ist und in der absoluten
Verantwortung des Vatikans und von Papst Franziskus liegt, der mit seinem
mitschuldigen Schweigen diese widerliche Prostitution des christlichen Glaubens
überlagert“, protestiert der bolivianische Autor.
Indes
konspirieren die Kreuzzügler nicht allein. Mitten im
Aufruhr wurden 16 brisante Tonaufnahmen bekannt. In den geheimen Aufzeichnungen
sind Gespräche zwischen „zivilen Führern“, Politikern und Militärs über eine
Verschwörung zu hören, die politische Umwälzungen für die Zeit vor und nach den
jüngsten Wahlen und die Verhinderung von Evo Morales
zum Ziel hatten.
In einem der
Audios ist der ehemalige Abgeordnete Manfred Reyes Villa in einem Gespräch mit
nicht identifizierbaren Personen zu erkennen, die ihn daran erinnern, dass die
US-Senatoren Marco Rubio, Bob Menéndez und Ted Cruz sich verpflichtet haben,
Wirtschaftssanktionen gegen Bolivien zu erlassen, falls Evo
Morales die Wahl gewinnt. Reyes Villa spricht offen von Putschplänen. Er
erwähnt die Unterstützung der evangelikalen Kirche und der brasilianischen
Regierung und gibt Hinweise auf einen mutmaßlichen Vertrauensmann Bolsonaros, der auch einen noch nicht identifizierten
bolivianischen Präsidentschaftskandidaten berät.
Audio Nummer
15 erklärt, wie sich die Verschwörer den Auftakt vorstellten. Privates Treffen
zwischen den Oppositionspolitikern Jaime Antonio Alarcón Daza,
Iván Arias und anderen Mitgliedern der Bürgerkomitees. Sie vereinbaren die
Anschaffung „schneller“ Abstimmungsausrüstungen (elektronische Urnen?) für die
Präsidentschaftswahlen, die zur Manipulation der öffentlichen Meinung und als
„Beweis“ für einen mutmaßlichen „Wahlbetrug“ verwendet werden sollten. Die
Gruppe gibt Hinweise auf die Zusammenarbeit mit einer gewissen
Jubiläumsstiftung, der Europäischen Union, der US-Botschaft und der
evangelikalen Kirche.
Der
Regierung waren diese Mitschnitte bekannt und sie begründeten Evo Morales‘ Warnung vor einem geplanten Putsch.
Quelle:
https://www.nachdenkseiten.de/?p=56232