Putins Kommentar über US-Parallelen
zum Zerfall der UdSSR
Babelturm des Imperiums
Kommentar von Andrei Rudaljow* 12.6.21
Wladimir Putins Aussage, die USA folgen heute dem Weg der
UdSSR und vervielfachen Probleme nur, kam von China besonderer Aufmerksamkeit
zu. Die Reime auf die Zerfallszeit der UdSSR klingen schon lange – und am
deutlichsten heute, zum 30. Jahrestag ihres Zusammenbruchs.
"Das macht einen sehr nachdenklich."
So reagierte der Sprecher des chinesischen Außenministeriums Wang Wenbin auf Putins Parallelen zwischen dem Finale der UdSSR
und den heutigen Vereinigten Staaten. Auch er wies auf die dramatischen
Veränderungen in der heutigen Welt hin, in der sich die Frage nach der
Verantwortung der großen Staaten besonders akut stellt – denn:
"Wie sie andere Staaten behandeln, wird nicht nur über den Aufstieg und
Fall dieser Großmächte entscheiden, sondern auch über die Zukunft und das
Schicksal der Menschheit."
Das Problem liegt jedoch auch darin, dass das Denken vieler maßgeblicher
Weltakteure nicht nur nicht mit diesen Veränderungen Schritt hält, sondern zum
Haupthindernis für Entwicklung und globale Stabilität wird. Die besagten Vereinigten
Staaten zeigen nicht nur keine Spur von neuem Denken, sondern verharren in
dieser Hinsicht in einer langwierigen Stagnation. Sie schauen sich ständig im
Spiegel an und wiederholen endlos denselben Satz: "Spieglein, Spieglein
an der Wand ..."
Offenbar kommt hier die noch nachklingende Euphorie nach dem "Sieg"
im Kalten Krieg zum Zuge. Deswegen träumt man in den USA ja auch davon, dass
diese Freude ewig dauern und die Weltordnung, wie sie sich nach einer der
größten geopolitischen Katastrophen – dem Zusammenbruch der UdSSR und des
Ostblocks – entwickelt hat, unverändert bleiben möge. Damals zwangen die USA
allen die schöne neue Welt des unipolaren Formats auf: Diese ähnelt sehr einem
babylonischen Turm in Kasernenausführung, auf dessen Spitze sich die allseits
bekannte exzeptionelle "leuchtende Stadt auf dem Hügel" befindet –
mit dem Welt-Gendarmen in der Kemenate.
Der besagte Gendarm genießt seine Macht und seine Spitzenposition. Die Welt
nimmt er gewohnheitsmäßig lediglich als Arena zur Demonstration dieser Macht
und für allerlei Manipulationen wahr. Eigens dafür errichtet er eine "Krisenfabrik": Er spielt Dritte gegeneinander aus,
intrigiert, stiftet Unruhen, schüchtert ein und straft ab – alles im
Glauben, das Recht zum Teilen und Herrschen innezuhaben. Gleichzeitig bewegt er
sich gleichsam in einem gänzlich aparten Koordinaten-, Werte- und Ethiksystem,
das er als einzig und allein für (und von) sich selbst gepachtet sieht und
das den Rest der Welt ausschließt. Die USA assoziieren sich somit fest mit dem
vorchristlichen alten Rom. Vor ein paar Jahren erklärte der frühere amerikanische
Präsident Trump allen Ernstes, dass die Vereinigten Staaten seit der römischen
Antike ein Verbündeter Italiens gewesen seien. Was soll man da sagen – außer
"Stellung verpflichtet".
Ebenfalls Teil des Problems ist, dass die USA aufgrund eines derart rigiden dogmatischen
Weltbildes niemanden als einen gleichberechtigten Partner akzeptieren. Nicht
nur das: Sie werden alles tun, um eine derartige Situation zu verhindern. Daher
sieht man dort ja auch die Hauptgefahr in souveräner Politik der Anderen, wenn
diese keine Oberhoheit anerkennen, wer diese auch für sich beanspruchen möge.
Solche Politik wird als eklatante Flegelei, als feindseliger Übergriff und als
hingeworfener Handschuh empfunden. Daher rührt auch die Haltung der Marke
"Karthago muss zerstört werden" gegenüber jeglichen Trägern solcher
Politik.
Exzeptionalistischer Neokolonialismus der
USA und "Freundschaften" gegen Dritte
Der Imperialismus hat sich in den USA längst zum Amerikanismus entwickelt –
wenn man so will, zu einem Imperialismus hoch drei. Der russische Denker
Alexander Panarin (ein Vertreter des
Neo-Euroasianismus) interpretierte dieses Konzept als "unbändige
ideologisierte Lobpreisung [der Vereinigten Staaten von] Amerika als einer
unbestreitbaren Autorität und eines unübertroffenen Vorbildes für die ganze
Menschheit". Dabei soll idealerweise die ganze Welt zu einem
nationalen Interessengebiet Amerikas werden, denn sie ist ja dazu berufen, "mit
all ihrem Reichtum dem 'amerikanischen Traum' zu umdienen".
Es ist klar, dass sich in einer solchen Lage irreversible mentale
Auffälligkeiten einstellen – und zwar ziemlich gemeingefährliche.
In China versteht man sehr gut, wovon Präsident Putin gesprochen hat. Dieses
Land wird zunehmend einer extrem eifersüchtigen und voreingenommenen Haltung
seitens der Vereinigten Staaten ausgesetzt, die keine Konkurrenz dulden.
Keineswegs zufällig betonte daher der Vertreter des chinesischen
Außenministeriums die Kriterien für Beziehungen zwischen den wichtigsten
Akteuren der Welt und allen anderen Ländern. Die Zeit des Diktats hat in der
Vergangenheit zu bleiben. Der chinesische Diplomat äußerte daneben auch die
Hoffnung, dass die Länder der Welt an dem internationalen System festhalten,
das "nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde – mit den Vereinten Nationen
in der führenden Rolle". Ebendieses System ist ein Impfstoff gegen die
Willkür seitens Einzelner.
Die Worte des russischen Präsidenten über die imperiale Illusion der Allmacht "Wir
werden [die oder] diese kaufen, jene einschüchtern, mit den dritten kungeln, den vierten Glasperlen schenken, die fünften mit Kriegsschiffen bedrohen" wurden von
fast allen chinesischen Medien zitiert. Die Schlussfolgerung war stets in etwa,
dass ein solches Verhaltensmodell den Aufbau einer Konfrontationsstrategie
bedingt. Der Stil ist "anti". So wird
beispielsweise angemerkt, dass die USA die G7 "in einen beschränkten
und veralteten anti-chinesischen und anti-russischen Club" verwandeln
wollen. Was soll man sich da schon über die Umformatierung etwa der Ukraine zu
einem Anti-Russland wundern?
Fügen wir hinzu: Auch die engsten Verbündeten der USA werden des lästigen
US-Imperialismus langsam überdrüssig. In der EU werden immer mehr Stimmen
über die Gefahr der Dominanz der USA laut, die eine Konfrontation mit Russland
erzwungen haben und nun versuchen, die Beziehungen zu China auf einfache Punkte
einer ähnlichen Tagesordnung herunterzubrechen.
Derlei Stimmen sind noch etwas zaghaft – schließlich wirkt die Gewohnheit der
US-Hörigkeit noch nach. Es ist äußerst schwierig und oft beängstigend, auf
einmal eigenständige Schritte unternehmen zu müssen – zumal in einer Lage, in
der die eigenen Eliten sich wie bei einer Flaggenparade zackig an den
Vereinigten Staaten ausrichten.
Ebenso wichtig: Der gegenwärtige hemmungslose US-amerikanische Imperialismus
trägt den Geist der Apokalyptik in der wörtlichen Auslegung Dostojewskis
in seinen "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch", frei nach
dem Motto "Ich aber will meinen Tee trinken". Und das ist kein
Zufall: Die Führungsrolle der USA in der westlichen Welt wurde im Laufe zweier
Weltkriege errungen, in denen die Vereinigten Staaten doch recht weit von den
Epizentren der Schlachten standen. Durch die Illusion einer unipolaren Welt
ließen sich die USA aber erst nach dem Kalten Krieg bezirzen – sie lösten
damals den "ihrigen" Block nicht auf, sondern zurrten den Zaum des
Vasallentums, den sie anderen umgelegt hatten, fester zu, nannten es Freiheit
und Demokratie und begannen alsbald, deutlich in Richtung Diktatur abzudriften.
Derartige Tendenzen, wenn Weltumwälzungen einem immer wieder zum Schmeißen der
privaten "Tea Party" gereichen und somit eine Gewohnheit entsteht,
von ihnen zu profitieren, sind immer sehr beunruhigend.
"Aber die Zahl der Probleme nimmt zu. Es kommt ein Zeitpunkt, an dem
man ihrer nicht mehr Herr wird. Und die Vereinigten Staaten gehen
selbstbewussten Ganges und festen Schrittes den Weg der Sowjetunion."
So wertete Wladimir Putin auf dem diesjährigen Internationalen Wirtschaftsforum
in Sankt Petersburg. Diese Parallelen sind alles andere als zufällig. Vor dem
Treffen mit US-Präsident Joe Biden erinnerte der russische Staatschef an das
Jahr 1985, als das erste Treffen zwischen dem sowjetischen Generalsekretär
Gorbatschow und dem damaligen US-Präsidenten Reagan stattfand –
bezeichnenderweise auch noch ebenfalls in Genf. Davor befanden sich die
Beziehungen UdSSR-USA an ihrem kalten Pol – doch was folgte, war die kollapsträchtige sowjetische Perestroika, ihre
Beschleunigung und schließlich der Zusammenbruch der Sowjetunion nur sechs
Jahre später. So beobachten wir auch jetzt den "festen Schritt" der
Vereinigten Staaten auf dem gleichen Pfade. Jegliche
Häme liegt hier fern: Russland warnt vor den Gefahren – Hauptsache ist doch, dass
das Beben dieser Schritte nicht die ganze Welt zum katastrophalen Einsturz
bringt.
Quelle: https://de.rt.com/meinung/118807-babelturm-imperiums-putins-kommentar-uber-us-parallelen-zerfall-udssr-chinas-reaktion/
12.6.2021
Übersetzt aus dem Russischen.
*Andrei Rudaljow ist ein russischer
Schriftsteller, Journalist, bedeutender Literaturkritiker (vor allem des
"neuen Realismus" in Russland) und Publizist. Chefredakteur der
russischen Nachrichtenagentur IA Belomorkanal. Führt
eine Kolumne bei der russischen Ausgabe von RT.