Offener Brief der Deutsch-Israelischen Parlamentariergemeinschaft zu Händen von

Herrn Volker Beck, MdB

Sehr geehrter Herr Beck, sehr geehrte  Damen und Herren,

Sie haben sich gegen antisemitische Äußerungen im Zusammenhang mit den Protesten gegen den aktuellen Angriff auf den Gazastreifen geäußert. In dieser Hinsicht bin ich Ihrer Meinung, sofern es sich tatsächlich um eine generelle Verunglimpfung aller Juden handelt. Die Aussage „Israel Kindermörder“ basiert aber auf konkreten Tatsachen, die Ihnen bekannt sein dürften, und beschuldigt nicht alle Juden. Deshalb ist sie nicht antisemitisch. 

Zu den konkreten Tatsachen gehört zum Beispiel die Tötung eines fußballspielenden Jungen im Gazastreifen, die Tötung von vier bolzenden Jungen durch einen israelischen Kampffliegerpiloten. Die Ermordung eines angeblichen Hamasmitglieds einschließlich des ihn begleiteten Kindes durch eine israelische Rakete (Quelle: UN-Ocha-Bericht vom 10. 7. 2014, 15 Uhr) – möglicherweise abgeschossen aus einem Lenkflugkörper der in Überlingen ansässigen Firma Diehl - provozierte erwartungsgemäß die ersten Raketenabschüsse aus dem Gazastreifen und waren der offensichtlich erwünschte Anlaß für das weitere Vorgehen der israelischen Regierung.

Es gibt aber nicht nur Antisemitismus, sondern auch einen weit aggressiveren Antiarabismus mit Aufrufen zum Völkermord an den Palästinensern, insbesondere von israelischen Politikern einschließlich von Knesset-Abgeordneten und von Rabbinern.  Der britische Dichter und Dramatiker Heathcote Williams hat einige in seinem beigefügten Gedicht „Palästina“ aufgelistet, z. B. diesen von dem Knessetmitglied Ben-Ari„There are no innocents in Gaza. Mow them down ... Kill the Gazans without thought or mercy“  und den des israelischen Rabbiners Yaakov Yosef: „Israeli soldiers must „learn from the Syrians how to slaughter the enemy“. Warum protestieren Sie nicht öffentlich gegen derartige Hetzreden, die zu pogromartigen Angriffen auf Palästinenser führen, wie auch zu dem bestialischen Mord an dem 16-jährigen Muhammad Abu-Kheir?

Haben Sie jemals gegen die völkerrechtswidrige Enteignung und Entrechtung der Palästinenser im Westjordanland und das Leid der Bevölkerung durch die unmenschliche Blockade des Gazastreifens protestiert? Die vollständige Blockade des Gazastreifens ist ja sofort nach dem Abzug der Israelis aus dem Gazastreifen erfolgt, wie der israelische Wissenschaftler Baruch Kimmerling schon im Jahre 2002 in seinem Buch „Politizid - Ariel Sharons Krieg gegen das israelische Volk“ beschrieben hat (siehe Anlage). Und der Ihnen sicherlich bekannte Ralph Giordano schrieb in seinem im Jahre 1989 veröffentlichten Buch unter dem Eindruck des dort Gesehenen: "Gaza und seine Lage sind der unterste Kreis der Lebenshölle. ... Welcher  übermenschlichen Geduld und Leidensfähigkeit ist es zu verdanken, daß der Aufschrei unterblieb, der den Himmel zum Einsturz gebracht hätte? Und soll diese Hölle noch einmal vierzig Jahre weiterbestehen? Auf die Aussicht hin will mir plötzlich die Intifada wie eine schwache Reaktion auf ein Universum an Hoffnungslosigkeit erscheinen. Ich war in vielen Slums der Welt, aber Jabalya bringt mich um."  Aber all dies hat Sie offensichtlich nie berührt und zu öffentlichen Protesten veranlaßt, genauso wenig wie die Aufrufe zur Tötung palästinensischer Kinder im Bauch ihrer Mütter auf  den T-Shirts israelischer Soldaten vor dem Angriff auf den Gazastreifen im Dezember 2008 (siehe Anlage). Waren Sie schon einmal in Hebron und haben sich von dem israelischen Reservisten Jehuda Schaul von Breaking the Silence (wie Sigmar Gabriel) zeigen lassen, wie eine kleine Gruppe radikaler Siedler mit der Unterstützung der israelischen Armee eine große palästinensische Stadt terrorisiert? Kennen Sie den Text auf dem Denkmal für den radikal-judaistischen Massenmörder Dr. Baruch Goldstein, der als Heiliger und Märtyrer verehrt wird? Waren Sie schon einmal im Gazastreifen und haben Sie gesehen, unter welchen Bedingungen die Bevölkerung dort leben muß? Haben Sie die Aussagen israelischer  Soldaten und Soldatinnen bei Breaking the Silence gelesen? (Siehe anliegende Beispiele und unter

http://www.spiegel.de/politik/ausland/israels-soldaten-in-der-west-bank ... ) 

Wenn man parteiisch ist und zu den von Heathcote William im letzten Absatz seines Gedichtes genannten „Guten Leuten“ gehört, verschließt man offensichtlich die Augen, die Ohren und den Mund vor den Tatsachen und wird zum Interessenvertreter einer radikal-zionistischen, rassistischen Regierung. Vor allem unsere  Politiker sagen öffentlich nur das, was nicht von H. M. Broder und vom Zentralrat beanstandet werden könnte, um nicht ihre Karriere zu gefährden. Da wird dann Artikel 5 des Grundgesetzes (Eine Zensur findet nicht statt) praktisch außer Kraft gesetzt.

Immer wieder wird von hochrangigen deutschen Politikern von Freiheit, Gerechtigkeit und universellen Menschenrechten gesprochen. Das soll für alle Menschen gelten, nur nicht für das palästinensische Volk. Da werden Israel vorrangige Rechte eingeräumt. Für jüdisches Eigentum gilt für alle Zeiten Rückgabe oder Entschädigung, für palästinensisches Eigentum gilt das nicht. Ist das mit Ihrem Rechtsempfinden zu vereinbaren? Mit meinem ist es das nicht.

Der Holocaustüberlebende und „jüdische Antisemit“ Erich Fried empörte sich in seinem Gedicht „Höre Israel“:

Ihr habt eure Henker

Beobachtet und von ihnen

Den Blitzkrieg gelernt

Und die wirksamen Grausamkeiten

Was ihr gelernt habt

Das wollt ihr jetzt weitergeben

Kinder der Zeit des Unrechts

Erzogen in seinem Bild 

Aber es gibt ebenfalls Deutsche, die nicht schweigen und wegsehen, wenn die Menschenrechte massiv verletzt werden, auch wenn dies durch Israel geschieht. Einer von ihnen ist Jürgen Todenhöfer. Seinen aktuellen Bericht aus dem Gazastreifen können Sie unter https://de-de.facebook.com/JuergenTodenhoefer/posts/10152331064895838 lesen. Ergänzend können Sie sich aktuelle Fotos unter https://www.flickr.com/photos/126226385@NO6 ansehen.

Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery schrieb in seinem im Jahre 2003 veröffentlichten  Buch „Ein Leben für den Frieden – Klartexte über Israel und Palästina“: „Der Staat Israel verursacht eine Renaissance des Antisemitismus auf der ganzen Welt und bedroht Juden überall. Die Sharon-Regierung ist wie ein riesiges Labor, in dem der Virus Antisemitismus gezüchtet und in die ganze Welt exportiert wird.“

Und genauso ist es in all den Jahren weitergegangen. Der deutsch-jüdische Professor Rolf Verleger hat das bei dem Interview am 22. 7. 2014 im Deutschlandfunk (siehe Anlage) mit eindeutigen Worten auf den Punkt gebracht und dabei auch Ihre Haltung angesprochen. Vor allem hat er aber dargelegt, weshalb die israelische Regierung ohne Rücksicht auf die Bevölkerung so gegen die Hamas vorgeht. Doch nun wird man über Rolf Verleger herfallen und ihn des jüdischen Selbsthasses etc. bezichtigen, aber nicht auf die genannten Tatsachen eingehen.

Wenn Sie etwas gegen den Antisemitismus tun wollen, dann müssen Sie etwas gegen dessen wesentliche Ursachen tun: die Aufrufe zum Völkermord an den Palästinensern und den tatsächlichen schleichenden Völkermord an der moslemischen und christlichen palästinensischen Bevölkerung durch die israelische Regierung und deren Siedler!

Ich füge noch einen Spendenaufruf bei, den ich für sinnvoll halte. Übrigens wird dieser Offene Brief nicht nur in Deutschland, sondern auch in Jerusalem, Ramallah, im Gazastreifen, in Österreich und in der Schweiz gelesen.

Mit freundlichen Grüßen

Siegfried Ullmann

Anlagen:

       -    Gedicht „Palästina“ von Heathcote William

-        „Ein Schuß – Zwei Tote“

-        Auszüge aus dem Buch des Baruch Kimmerling

-        Deutschlandfunk-Interview mit Rolf Verleger am 22. 7. 2014

-        Aussagen israelischer Soldatinnen bei „Breaking the Silence“

-        Spendenaufruf (PDF)