NATO/US-Kriege im Nahen Osten
Der Westen tötet im Orient 329
Menschen. Jeden Tag. Seit 27 Jahren
von Jakob Reimann am 7.2.2018
Durch Krieg und genozidale Sanktionen tötete der Westen im Irak,
Afghanistan, Libyen, Somalia, Jemen und Pakistan in den letzten 27 Jahren
3.303.287 Menschen – im Schnitt 329 jeden Tag.
Das ist der deprimierendste Artikel, den ich je
geschrieben habe. Als Naturwissenschaftler ist es meine Aufgabe, Dinge
auszurechnen. An der Uni lernte ich, dies auf professionelle Weise zu tun. Doch
die Reaktionskinetik enzymatischer Prozesse zu berechnen, ist das Eine – tote
Menschen bis in den Himmel hochzuaddieren, das Andere. Dieser Text soll dazu
beitragen, die Blasen, in denen wir leben, zum Platzen zu bringen. Er soll die
fest zugekniffenen Augen für das Leid anderer Menschen öffnen.
Der Golfkrieg 1991
Im Iran-Irak-Krieg (Erster Golfkrieg) zwischen 1980
und 1988 war Saddam Hussein ein enger Verbündeter des Westens, auch noch nach
seinem Genozid an den Kurden im Nordirak mit Giftgas made in Germany. Als er im
Anschluss jedoch das ölreiche Kuwait überfiel, wurde er zur Persona non grata
und provozierte eine massive Bombenkampagne der USA, die in 43 Tagen insgesamt 110.000 Luftschläge gegen den Irak flog und im großen Stile zivile Infrastruktur vernichtete:
die Operation Desert Storm, der Zweite Golfkrieg. Im opferreichsten
Einzelangriff der modernen Luftkriegsführung warfen in der Nacht zum 13.
Februar 1991 US-Tarnkappenbomber zwei lasergelenkte ‘smart bombs‘ auf einen
Schutzbunker in Bagdad ab und töteten 408 Zivilisten, die im Flammeninferno verbrannten.
Die US-Regierung weigerte sich, die Opferstatistiken
des Golfkriegs zu recherchieren. „Wir haben keine Möglichkeit, die genauen
Opferzahlen zu ermitteln,“ erklärte der damalige Verteidigungsminister
Dick Cheney nach dem Krieg, „wir werden es vielleicht nie erfahren.“ Die junge
Bevölkerungswissenschaftlerin Beth Osborne Daponte von der University of
Chicago erarbeitete für die US-Zensusbehörde jedoch ebendiese Zahlen – und
wurde für ihre Ergebnisse schließlich aus dem Staatsdienst gefeuert. In ihrer
soliden wissenschaftlichen Studie wertete Daponte unter anderem Daten von UNICEF, dem US-Außenministeriums
und der Harvard University aus und kam zu dem Ergebnis, dass durch direkte und
indirekte Kriegsfolgen des US-Bombardements 205.500 Menschen getötet
wurden, 74.000 Kinder darunter. Der UK Medical Educational Trust errechnete
nahezu dieselbe Zahl.
„Sanktionen als Massenvernichtungswaffe“
Als Strafmaßnahme für Saddams Überfall auf Kuwait
wurde gegen den Irak ein nahezu absolutes Finanz- und Handelsembargo erlassen,
welches in seiner Brutalität ungekannt in der modernen Geschichtsschreibung war
und von August 1990 bis zum Sturze Saddams im Mai 2003 das Land buchstäblich
ausbluten ließ und Hunderttausende Menschen tötete.
Der fast zwei Drittel vom BIP ausmachende Ölsektor
wurde massiv gedrosselt, das pro-Kopf-Einkommen brach in wenigen Jahren um 87
Prozent ein, die Mehrheit der Bevölkerung wurde abhängig von
Nahrungsmittelhilfen, der Import von nahezu Allem wurde eingestampft.
Insbesondere das in der arabischen Welt beispielhafte Gesundheitssystem im Irak
brach zusammen, simpelste medizinische Güter wie Pflaster und Binden wurden zur
Mangelware. Die Kindersterblichkeit stieg in zehn Jahren um 127 Prozent an.
Laut einer UNICEF-Studie erkrankte fast die
Hälfte der irakischen Kinder unter fünf Jahren an Diarrhö, mehr als ein Drittel
litt unter akuten Atemwegserkrankungen.
Durch den totalen Importstopp von Anlagen und
Chemikalien zur Wasseraufbereitung wurden die Trink- und Abwassersysteme des
Irak systematisch zerstört – was geplant und somit vorsätzlich geschah, wie
Thomas Nagy von der University of Minnesota in seinem Paper unter Berufung auf ein jahrelang als geheim
eingestuftes Dokument der Defense Intelligence Agency (
Artikel 2 der Völkermordkonvention definiert Genozid unter anderem als den Akt, eine nationale Gruppe „unter
Lebensbedingungen zu stellen, die geeignet sind, deren körperliche Zerstörung
ganz oder teilweise herbeizuführen.“ Kann ernsthaft argumentiert werden, das
Sanktionsregime des Westens falle nicht unter die UN-Definition von Völkermord?
Denis Halliday, in den 1990ern für die UN Humanitärer
Koordinator im Irak, bezeichnete die Sanktionen als
„Genozid als Dauerzustand“, um nach 34 UN-Jahren aus Protest seinen Job zu
kündigen. Der ehemalige US-Justizminister Ramsey Clark richtete ein
internationales Tribunal ein, welches die US- und die britische Regierung der
„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezichtigte, wie sie in der Nürnberger Charta von 1945 und den
Genfer Konventionen definiert sind: Beide Regierungen „begingen an der
Bevölkerung des Irak Genozid im Sinne der Völkermordkonvention, einschließlich
Genozid mittels Hunger und Krankheit, durch den Einsatz von Sanktionen als
Massenvernichtungswaffe.“
Der Westen begeht „Genozid“ durch den Einsatz von
„Massenvernichtungswaffen“ – Vokabeln, die in der post-Hitler-Welt für
afrikanische Warlords und arabische Schlächter reserviert bleiben sollten.
Ramsey Clark, der US-Justizminister, gab die Zahlen der durch die Sanktionen getöteten Iraker bereits
1996 mit mehr als 1.500.000 an, davon 750.00 Kinder unter fünf Jahren. Der
renommierte Nahost-Experte Nafeez Ahmed nennt in seinem Buch „Behind the War on
Terror“ von 2003 unter Berufung auf die UN-Abteilung für Bevölkerungsfragen die
Zahl von 1,7 Millionen durch die Sanktionen getöteter Menschen, 500-600
Tausend getötete Kinder darunter. Die New York Times berichtete bereits 1995 von der
Studie der Welternährungsorganisation, laut der in den ersten Jahren 576.000
Kinder durch die Sanktionen starben. Diese Zahlen sind der Ursprung des
berühmtberüchtigten Zitats des Emmy-preisgekrönten 60 Minutes-Interviews
mit Madeleine Albright, der Ikone der US-Demokraten.
Ein Lehrstück in Menschenhass:
„War on Terror“ – Der Irak
wird ausradiert
Mit den Anschlägen vom 11. September trat die Welt in
eine neue Ära der Geschichtsschreibung ein: die des endlosen „War on Terror“.
Ein Wortungetüm, das durch seine mediale Omnipräsenz unser analytisches Denken
verkümmern und uns so die Absurdität dieses Oxymorons vergessen ließ: Gewalt
zur Bekämpfung der Gewalt. Fleischfressen für das Wohl der Tiere.
2015 veröffentlichte die mit dem Friedensnobelpreis
ausgezeichnete Ärztevereinigung Physicians for Social Responsibility
(PSR) eine bahnbrechende Studie zur Ermittlung
der Opfer des „War on Terror“: den Body Count, ein wissenschaftlich
fundierter Report, der umfassendste seiner Art. Der Body Count ist ein
Gemeinschaftsprojekt der PSR mit seinen deutschen, kanadischen und
US-amerikanischen Schwestergesellschaften, die sich unter dem Schirm der International
Physicians for the Prevention of Nuclear War (ebenfalls
Friedensnobelpreisträger) an die Arbeit machten und enorme Datenbestände
unterschiedlichster Quellen analysierten.
Die PSR-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass als direkte
oder indirekte Folge des US-geführten Kriegs im Irak etwa 1 Million
Menschen getötet wurden, wobei explizit betont wird, dass es sich um
konservative Schätzungen handelt und die tatsächliche Zahl deutlich darüber
liegen könnte. Auch Reuters, die zweitgrößte Nachrichtenagentur der Welt, berichtete im Januar 2008 von
einer britischen Studie, laut der bereits zu diesem Zeitpunkt mehr als eine
Millionen Menschen im Irak getötet wurden, was die Zahlen der PSR-Studie
untermauert.
Es wird gerne argumentiert, George Bush hätte mit seiner Invasion 2003 den
Irak ins Elend gestürzt, indem er das Land „in die Steinzeit zurückbombte“. Das
ist vollkommen richtig, doch erzählt es wie oben dargelegt nur die halbe
Wahrheit: Erst Bill Clintons Sanktionen haben den Irak von innen heraus
zugrunde gerichtet und seine Bevölkerung gefoltert. George Bushs Bombenteppich
hat das Kartenhaus danach schließlich zum Einsturz gebracht und den Irak
physisch vernichtet. Komplementär arbeiteten der Wirtschaftskrieg der
Demokraten und der Bombenkrieg der Republikaner Hand in Hand, um ein Land, in
dem vor 6.000 Jahren die Hochkulturen der Menschheit entstanden und das als Wiege
der Zivilisation gilt: auszuradieren.
Afghanistan, Pakistan, Jemen, Somalia
Für Afghanistan ermittelten die PSR-Wissenschaftler
die Zahl von 220.000 Menschen, die seit der US-Invasion 2001 getötet
wurden; und die der „War on Terror“- Toten in Pakistan auf 80.000. Eine
ebenfalls vielzitierte Studie der renommierten
Brown University schätzt gar, dass die Zahl der durch indirekte Kriegsfolgen in
Afghanistan und Pakistan Getöteten noch um etwa 560.000 Menschen höher sein
könnte. Da die Brown-Schätzungen jedoch nicht derart akribisch untermauert sind
wie die der PSR-Studie, wird diese Zahl hier nicht berücksichtigt.
In der Zeit, nachdem die Datensätze des PSR enden,
kamen durch Obamas illegalen Drohnenkrieg in Pakistan noch mindestens 311
Tote hinzu, sowie 3.334 in Afghanistan, so die konservativen
Datensätze des Bureau of Investigative Journalism, der Autorität auf dem
Forschungsfeld der Drohnentoten. Für Somalia gibt das Bureau die
Minimalzahl von 524 an und für den Jemen 988. Im Dezember
2013 attackierte eine von Friedensnobelpreisträger Obamas Drohnen eine Hochzeitsfeier im Jemen und tötete dabei 15 Menschen. Eine schreckliche
Tragödie, so könnte man meinen, doch bombardierten die USA in ihrem „War on
Terror“ insgesamt mindestens acht Hochzeiten (sic!), wobei nicht
weniger als 278 Menschen ermordet wurden. Doch nicht nur Hochzeiten werden
bombardiert, auch Pullerpartys, zynischerweise feuerte
eine Drohne Raketen auf die Beerdigung von Menschen ab, die
von Drohnen getötet wurden (zusätzlich zu den Angriffen auf ganz gewöhnliche
Beerdigungen).
Libyen wird zerstört
2011 war Gaddafi an der Reihe. Abgesehen von den
katastrophalen Folgen des illegalen NATO-Kriegs in Libyen 2011 – Schaffung eines failed state, Libyen wurde zum Sammelbecken des
Terrors in Afrika, aus Europa finanzierte Konzentrationslager für flüchtende
Menschen, Aufstieg des IS in Nordafrika – kam es auch
bei diesem Angriffskrieg des Westens zu Tausenden Toten. Während die
US-Regierung inoffiziell von „rund 8.000“ Toten ausgeht und die Führung
der libyschen Rebellen die Zahl von 50.000 nannte, kommt eine von
Elsevier herausgebrachte Studie der University of Tripoli zum Ergebnis, dass 21.490
Menschen in Folge des Krieges getötet wurden.
„Zum Zeitpunkt, als die NATO intervenierte,“ schreibt Alan Kuperman in
Foreign Affairs, „stand die Gewalt in Libyen kurz vor ihrem Ende.“ Kuperman
berechnet, dass vor der NATO-Bombardierung nicht mehr als 1.000 Menschen
getötet wurden. Auch die zitierte Studie gibt an, dass die Todesopfer im
Wesentlich nach dem NATO-Eintritt zu verzeichnen waren, weshalb es
angebracht ist, die Gesamtzahl faktisch als Folge des westlichen Angriffskriegs
zu verstehen. Seumas Milne resümiert im Guardian: „Die NATO
hat die Zivilbevölkerung in Libyen nicht geschützt – sie hat die Zahl der Toten
vervielfacht.“
Der Kampf gegen den IS
Als direktkausale Folge der US-Invasion im Irak 2003
organisierte sich aus dem Widerstand gegen die US-Besatzung heraus eine
Mörderbande, die selbst die Schlächter der Al-Qaida wie Amateure aussehen
ließen und die ab 2014 kopfabhackend unter dem schwarz-weißen Banner des IS die
Titelseiten der Weltpresse füllen sollten. Eine Generation junger Männer, die –
nebenbei bemerkt – als hungernde, kranke, traumatisierte und perspektivlose
Kinder im lebensfeindlichen Umfeld von Bill Clintons Sanktionsregime heranwuchsen.
Mit derselben ignoranten Politik, die erst zum
Aufstieg des IS beigetragen hat, sollte dieser nun vernichtet werden, die
Politik des Massenmords an Zivilisten – oder im Orwellschen Kriegssprech:
„Kollateralschäden“. Nach Angaben der Monitoring-Organisation Airwars, die
akribisch Buch über die Anti-ISIS-Koalition führt, kommt zu dem Ergebnis, dass seit August 2014 zwischen 11.140 und
32.967 Zivilisten getötet wurden. Allein bei der „Befreiung“ der IS-Hauptstadt
Raqqa – in dessen Zuge sich die US-Koalition unvorstellbarer Kriegsverbrechen schuldig machte – wurden weit über 1.700 Zivilisten getötet, 200 allein
bei der Bombardierung einer Schule, in die sich zuvor flüchtende Menschen
gerettet hatten.
Nachdem Trump im Wahlkampf angekündigt hatte, die
Familien von Terroristen systematisch zu töten, machte er dieses Versprechen
wahr: Trump tötete im Kampf gegen den IS in einem Jahr doppelt so viele Zivilisten wie Obama in
zweieinhalb Jahren zusammen. Im Vergleich zu 2015 tötete Trump 2017 in Syrien
fast viermal so viele Kinder, und fast siebenmal so viele Frauen.
Nach Angaben des US Special Operations Command kommen
zwischen 60.000 und 70.000 im Irak und Syrien getöteter IS-Kämpfer
hinzu, wie dessen Kommandeur Gen. Raymond Thomas auf dem Sicherheitsforum des
Aspen Institute im Juli 2017 erklärte.
Ende 2017 begann Airwars, auch im Kampf gegen den IS
in Libyen getötete Zivilisten zu untersuchen, und erstellte bereits eine Datenbank mit 77 Angriffen der
USA mit mutmaßlich getöteten Zivilisten, die jedoch noch in der
Auswertungsphase steckt.
Warum hassen sie uns?
Werden alle fettgedruckten Angaben zusammenaddiert, kommen wir auf eine
Zahl von 3.303.287 Menschen, die seit 1990 vom Westen im Orient getötet wurden.
Das entspricht im Schnitt 329 toter Menschen. Jeden Tag. Seit 27 Jahren.
Der Westen tötet im Orient so viele Menschen wie bei
den Terroranschlägen vom 11. September in New York getötet wurden – alle acht
Tage.
Es sei an dieser Stelle erneut ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass es sich bei den hier verwendeten Zahlen meist um die unterste
Fehlergrenze konservativer Schätzungen handelt. Auch wurde eine Vielzahl grob
fahrlässiger Handlungen, Sekundärphänomene, Ereignisse ohne solide Datenlage
oder Kriege, in denen „unsere“ Verbündeten mit „unserer“ Unterstützung im
großen Stil töteten, nicht berücksichtigt.
Würde all dem Rechnung getragen, kämen wir auf ein
Vielfaches dieser Zahlen.
Zu den Toten kommen all die Verwundeten, die
Verstümmelten, die Waisen, die Vertriebenen, die Generationen über Generationen
zerstörter Kinder – und jetzt fragt Euch mit offenem Herzen:
Quelle:
http://justicenow.de/2018-02-07/der-westen-toetet-im-orient-329-menschen-jeden-tag-seit-27-jahren/