NATO Russland
Eskalation mit Nuklearpotenzial
German Foreign
Policy am 5.10.2016
Berliner Regierungsberater und Außenpolitik-Experten
warnen vor einer weiteren Zuspitzung der NATO-Eskalationspolitik gegenüber
Russland. Im Hinblick auf die gefährlichen Zwischenfälle bei militärischen
Flugmanövern beispielsweise über der Ostsee führe "früher oder
später" an "einem Umgang miteinander kein Weg vorbei", erklärt
ein hochrangiger NATO-Funktionär in der führenden Zeitschrift des deutschen
Außenpolitik-Establishments. Man müsse Sorge dafür tragen, dass der Machtkampf
zwischen der NATO und Russland "sich nicht zu einem Großkonflikt
auswächst", warnt ein renommierter russischer Experte eines
US-Think-Tanks: Der Machtkampf sei zwar "keineswegs trivial", doch
sei er "einen europäischen Krieg ... zweifellos nicht wert". Auch die
vom Kanzleramt finanzierte Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) dringt
darauf, in Abkehr vom bisherigen langfristigen Kurs insbesondere der USA nicht
nur Russland, sondern auch China "Einflusssphären" in ihrem
jeweiligen regionalen Umfeld einzuräumen - "zur Vermeidung von Kriegsrisiken".
Die SWP weist auf die nukleare Komponente des Konflikts hin - und warnt, auf
lange Sicht sei die Stationierung landgestützter nuklearer
Mittelstreckenraketen in Europa nicht mehr auszuschließen.
Die unipolare Welt
Ihre Warnung vor einer weiteren Zuspitzung der
Eskalationspolitik gegenüber Russland entwickelt die Berliner Stiftung
Wissenschaft und Politik (SWP) aus einer Analyse der US-amerikanischen
Russlandpolitik. Die unlängst publizierte Studie des vom Bundeskanzleramt
finanzierten Think-Tanks nimmt unter anderem strategische Grundentscheidungen
Washingtons zu Beginn der 1990er Jahre in den Blick. Wie die SWP konstatiert, ist damals in der US-Hauptstadt durchaus
diskutiert worden, "ob man den beiden Großmächten Russland und China
Einflusssphären zugestehen" solle - Gebiete in ihrem regionalen
Umfeld, in denen man ihre Interessen nicht grundlegend in Frage stelle.[1] Der Gedanke sei jedoch verworfen worden;
man habe entschieden, eine "unipolare Welt unter Führung der USA"
auszubauen. Dazu wurde unter anderem - entgegen mündlichen Zusicherungen
gegenüber Moskau aus dem Jahr 1990 - die NATO nach Ost- und Südosteuropa
erweitert, obwohl klar gewesen sei, dass das russische Establishment dies
"als Fortsetzung des alten Spiels der Gleichgewichts- und
Eindämmungspolitik" begreifen würde. "Der geopolitische
Machtkonflikt", der sich aus der stetigen Einflussausdehnung der
westlichen Mächte in Richtung Osteuropa bei gleichzeitiger Verweigerung einer
russischen Einflusssphäre ergab, sei schließlich "in der Ukraine-Frage
kulminiert".
Konfliktdominanz
Hatten sich die
USA nach den Umbrüchen um 1990 bei der Durchsetzung ihrer globalen Dominanz
zunächst "vor allem auf sogenannte Schurkenstaaten wie Iran, Irak und
Nordkorea", nach dem 11. September 2001 dann "auch auf den
transnationalen islamistischen Terrorismus fixiert", so ist, wie die SWP
es formuliert, inzwischen "die machtpolitische Rivalität zwischen den USA
auf der einen und einem aufstrebenden China sowie einem wiedererstarkenden
Russland auf der anderen Seite in den Fokus gerückt".[2] Damit sei auch "das alte, nie
verschwundene, aber selten offen artikulierte machtpolitische Kerninteresse der
USA" wieder in den Vordergrund geraten: "nämlich zu verhindern, dass
eine oder mehrere feindliche Großmächte die Ressourcen Eurasiens kontrollieren"
und sich "ein Machtpotential aneignen", das "die amerikanische
Überlegenheit gefährden könnte". Exemplarisch beschrieben hat das
Interesse an der Verhinderung eines geeinten "Eurasiens" der frühere
Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, Zbigniew
Brzezinski, in seinem Geostrategie-Klassiker "The Grand Chessboard"
(deutsch: "Die einzige Weltmacht").[3] In der aktuellen Washingtoner
Strategie seien Russland und China in der Tat "die potentiellen Gegner,
die es mit überlegener militärischer Macht abzuschrecken gilt", bestätigt
die SWP - "und zwar durch die Fähigkeit zur Konfliktdominanz".
Neuer Dialog
Zu größerer Zurückhaltung in dem Konflikt hat vor
kurzem die von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP)
publizierte Fachzeitschrift "Internationale Politik" gemahnt. Mit
Verweis auf kontinuierlich wiederkehrende gefährliche Zwischenfälle etwa beim
Zusammentreffen russischer sowie westlicher Kampfflieger über der Ostsee
urteilte der Leiter des NATO-Referats Energiesicherheit, Michael Rühle, in der
Online-Version des Blatts, "früher oder später" führe "an einem
Umgang miteinander kein Weg vorbei".[4] "Sollte sich ein neuer Dialog mit Moskau entwickeln -
beispielsweise über Gespräche zur Vermeidung militärischer Zwischenfälle
-", dann solle man durchaus auch wieder über weiter reichende
"praktische Zusammenarbeit nachdenken". Diese habe in den
vergangenen zwei Jahrzehnten immerhin "von gemeinsamem Peacekeeping auf
dem Balkan bis zu maritimen Such- und Rettungseinsätzen" sowie "von
der Ausbildung afghanischer Militärspezialisten bis zur Drogen- und
Terrorismusbekämpfung" gereicht. Zwar werde "der Umgang mit
Russland" wohl "schwierig bleiben", vermutet Rühle; dennoch
zwinge der aktuelle Konflikt "die NATO nicht nur zu einer militärischen
Neujustierung gegenüber Russland, sondern auch zum Ausloten neuer Wege des
Dialogs und der Zusammenarbeit".
"Einen Krieg nicht wert"
Bereits im Juli hat die Onlinepräsenz der
Wochenzeitung "Die Zeit" einen warnenden Beitrag des russischen
Außenpolitik-Experten Dmitri Trenin publiziert. Wie Trenin, ein ehemaliger Oberst der sowjetischen Streitkräfte, heute
Leiter der Moskauer Außenstelle der US-amerikanischen Carnegie Endowment,
erklärt, gehe es zur Zeit vor allem "darum sicherzustellen", dass
die Konfrontation zwischen der NATO und Russland "sich nicht zu einem
Großkonflikt auswächst".[5] Erste Schritte zur Verständigung seien auf
beiden Seiten unverzichtbar; dabei müsse "der Westen ... zur Kenntnis
nehmen", dass "die Konfrontation mit Russland" nicht allein der
russischen Politik anzulasten sei. Versäume man es, "nach einem
Großkonflikt", wie die Systemkonfrontation es gewesen sei, "eine
internationale Ordnung zu schaffen, die für die unterlegene Partei akzeptabel
ist", dann führe dies unweigerlich "zu einer neuen Runde des
Wettstreits". Tatsächlich seien die
Dominanz des Westens sowie sein Vordringen (per NATO-Osterweiterung) in die
russische Einflusssphäre für Moskau auf keinen Fall "akzeptabel"
gewesen. Der aktuelle Konflikt zwischen der NATO und Russland sei "keineswegs
trivial", doch "einen europäischen Krieg ist er zweifellos nicht
wert", schreibt Trenin; nun müssten "gemeinsame
Vorsichtsmaßnahmen sicherstellen", ihn "zu verhindern".
Mittelstreckenraketen
In diesem Kontext weist die SWP ausdrücklich auf die
nukleare Komponente des Konflikts hin. "Schon allein die Stärkung der
konventionellen Abschreckung", etwa "die Vornestationierung von
Streitkräften, die Planungen zur Heranführung von Verstärkungen und die
notwendige Sicherung der Seeverbindungen", könne "eine
Rüstungsdynamik in Gang setzen, die wechselseitig das Sicherheitsdilemma
verschärft", heißt es in der neuen SWP-Analyse zur US-Russlandpolitik.
Doch werde die neue Abschreckungspolitik "kaum ... auf die konventionelle
Ebene beschränkt bleiben".[6] In der Tat hat der jüngste NATO-Gipfel in
Warschau nach vorausgegangener Diskussion, in der sich auch deutsche
Think-Tanks für den Ausbau des westlichen Atomwaffenarsenals aussprachen (german-foreign-policy.com berichtete [7]), explizit auf den nuklearen Charakter
des Bündnisses verwiesen. Im Gegenzug hat Russland jetzt angekündigt, die
Vernichtung atomwaffenfähigen Plutoniums auszusetzen.[8] Die SWP warnt, bei einem weiteren Anheizen der Spannungen
sei es "womöglich nur eine Frage der Zeit, bis erste Stimmen nahelegen,
den
Kriegsrisiken
Washington stehe
"mehr und mehr vor der Herausforderung", warnt die SWP, einen
Kurswechsel vorzunehmen und in Zukunft Russland und China eben doch
"Einflusssphären" in ihrem regionalen Umfeld zuzugestehen - "im Interesse globaler Kooperation und zur
Vermeidung von Kriegsrisiken" - oder aber "Machtrivalitäten mit hohem
Eskalationspotential voranzutreiben".[9] Dabei ist das
Eskalationspotenzial nuklear.
Quelle: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59454
[1], [2] Peter Rudolf: Amerikanische
Russland-Politik und europäische Sicherheitsordnung. SWP-Studie
S 17. Berlin, September 2016.
[3] Zbigniew Brzezinski:
The Grand Chessboard. American Primacy
and Its Geostrategic Imperativs. New York 1997. Die deutsche Version ist
erschienen als: Zbigniew Brzezinski: Die einzige Weltmacht. Frankfurt am Main
1999.
[4] Michael Rühle: Jenseits der Abschreckung. zeitschrift-ip.dgap.org 15.09.2016.
[5] Dmitri Trenin: Redet miteinander! www.zeit.de 08.07.2016.
[6] Peter Rudolf: Amerikanische Russland-Politik und europäische
Sicherheitsordnung. SWP-Studie S 17. Berlin, September 2016.
[7] S. dazu Die Nukleardebatte der
NATO, Die Nukleardebatte der
NATO (II) und Grundlegende
Neujustierung.
[8] Russland stoppt Plutonium-Vernichtung. www.zeit.de 03.10.2016.
[9] Peter Rudolf: Amerikanische Russland-Politik und europäische
Sicherheitsordnung. SWP-Studie S 17. Berlin, September 2016.