Reaktion auf einen begrenzten russischen Angriff auf die NATO
während des Ukraine-Krieges
Bryan Frederick,Samuel Charap, Karl P. Mueller RAND Corporation, Dezember 2022
( https://www.rand.org/pubs/perspectives/PEA2081-1.html
)
Übersetzt von Fee Strieffler
und Wolfgang Jung, 26.01.2023
Die
beispiellosen Maßnahmen der USA und ihrer NATO-Verbündeten zur Unterstützung
der Ukraine und zur Bestrafung Russlands, seit Moskau
seine umfassende Invasion gestartet hat, haben Besorgnisse über mögliche
russische Vergeltungsschläge gegen das Bündnis ausgelöst. Obwohl sich die Planer
der USA und der NATO seit langem darauf konzentrieren, sich auf den Fall
eines offenen Konflikts mit Russland vorzubereiten, hat der Krieg in der
Ukraine eine
einzigartige
Reihe von Umständen geschaffen, die einen begrenzten russischen Angriff (auf
die NATO) plausibel machen.
Sollte es zu
einem solchen russischen Angriff kommen, müsste das US-
Verteidigungsministerium
den politischen Entscheidungsträgern der USA Reaktionsmöglichkeiten vorlegen.
Diese Analyse bietet einen Rahmen für die Entwicklung von Reaktionsoptionen und
die Auswahl zwischen denselben.
Wir haben
versucht, die folgenden Fragen zu beantworten: Welches sind
die
Prinzipien, auf die sich Entscheidungen stützen sollten? Welche Art von
Reaktion ist am ehesten geeignet, die Interessen der USA zu
fördern sowie gleichzeitig das Risiko einer Eskalation zu begrenzen,
und von welchen Umständen könnte die Antwort auf diese Frage abhängen?
In dieser
Analyse untersuchen wir die Faktoren, die US-Politiker in Betracht ziehen
sollten, wenn sie mit einem begrenzten russischen Angriff konfrontiert
werden, der von einem einmaligen Schlag gegen ein isoliertes militärisches Ziel bis zu
einem breiteren Überfall auf mehrere zivile und militärische Ziele reichen und
gegen die US-Streitkräfte in Europa, einen europäischen Verbündeten oder Ziele
im
Weltraum
gerichtet sein könnte.
In dieser
Analyse werden die Merkmale eines möglichen russischen Angriffs skizziert, die
für eine Reaktion von Bedeutung sind, einschließlich der
möglichen
Motive Moskaus für den Angriff, und der Fragen, was die USA und ihre
Verbündeten mit einer Reaktion erreichen könnten, und wie
unterschiedliche Reaktionen der USA oder der NATO dazu beitragen könnten, die
Ziele der USA im Ukraine-Konflikt zu erreichen.
Ermittlung
der Kategorien eines möglichen russischen Angriffs und der möglichen Motive
Die
spezifischen Merkmale eines russischen Angriffs [auch als "Schritt 1"
bezeichnet, s. Tabelle1] spielen eine wichtige Rolle bei der
Festlegung der ratsamsten Reaktion der USA oder der NATO [auch als "Schritt
2" bezeichnet]. Die Merkmale von Schritt 1 schaffen unterschiedliche
strategische und politische
Anreize für
Schritt 2 und könnten unterschiedliche russische Absichten und die Bereitschaft
Russlands zur Androhung einer weiteren Eskalation signalisieren
(als Schritt 3 bezeichnet).
Tabelle 1
Abfolge möglicher
russischer und US- oder NATO-Aktionen
Schritt 1:
Russischer Angriff auf NATO-Ziel
Schritt 2:
U.S./NATO-Reaktion auf den russischen Angriff
Schritt 3:
Mögliche russische Reaktion auf die US/NATO-Antwort
Für die
Zwecke dieser Analyse gehen wir davon aus, dass Schritt 1 ein kinetischer
Schlag (US-Umschreibung für einen Raketenangriff mit konventionellen
Sprengköpfen) gegen ein Ziel im Hoheitsgebiet eines NATO-Verbündeten
in Europa ist, auch wenn es sich bei dem Ziel um eine militärische
Einrichtung der USA (oder der NATO) handelt.
Das Ziel
könnte aber auch eine militärische Einrichtung der USA oder der NATO im
Weltraum sein.
Einen
Angriff auf die USA selbst haben wir nicht in Betracht
gezogen, weil ein solcher Angriff zu einem ganz anderen Entscheidungskalkül führen
würde. Wir gehen auch davon aus, dass der Angriff nicht den Einsatz
chemischer, biologischer oder nuklearer Waffen beinhaltet – wiederum, weil der Einsatz
solcher Waffen eine dramatisch andere Reihe von Reaktionsmöglichkeiten mit sich
bringen
würde.
Ein
potenzieller Schritt 1 könnte im aktuellen Kontext mindestens die folgenden
sieben
Merkmale
aufweisen:
• Angriff auf ein ziviles oder ein
militärisches Ziel
• durch den Angriff verursachte
militärische Verluste oder Schäden
• durch den Angriff verursachte zivile
Opfer oder Schäden
• Vorsätzlich verursachte Verluste
[oder Vermeidung von Verlusten]
• Anzahl der getroffenen Ziele
• Bedeutung der (getroffenen)
militärischen Fähigkeiten der USA oder der NATO
• Beeinträchtigung durch den Angriff
• politische Symbolik des Ziels/der
Ziele
Obwohl ein
bestimmter Schritt 1 jede Kombination dieser Merkmale aufweisen kann, können
wir die
möglichen
Kombinationen grob in drei Intensitätskategorien zusammenfassen:
• Demonstrativer Angriff: Diese
Kategorie bezieht sich auf Angriffe, die eine Botschaft
übermitteln
oder eine Entschlossenheit zum Ausdruck bringen sollen, aber keine erheblichen materiellen
Schäden verursachen oder Auswirkungen auf die militärischen Fähigkeiten der NATO haben.
Ein solcher Angriff würde, wenn überhaupt, nur minimale militärische oder
zivile Opfer fordern. Es würde sich um einen einmaligen
Angriff handeln, der darauf abzielt, die
Verantwortlichen
der anderen Seite entweder zur Eskalation oder zum Rückzug zu
bewegen.
So könnte Moskau
beispielsweise einen leeren Flugplatz, einen
Eisenbahnknotenpunkt
oder eine militärische Einrichtung im NATO-Gebiet mit einer kleinen Anzahl von
Marschflugkörpern angreifen.
• Gezielter Angriff: Diese Kategorie
bezieht sich auf Angriffe, bei denen ein einziges Ziel oder eine kleine
Anzahl zusammenhängender Ziele angegriffen wird. Ein solcher Angriff könnte einige
begrenzte Opfer fordern und würde sich wahrscheinlich – zumindest zeitweise – auf bestimmte
militärische Operationen der NATO oder auf die Bereitstellung von Hilfe für die
Ukraine auswirken. Diese Beeinträchtigung der NATO-Operationen wäre wahrscheinlich
sogar Teil des russischen Ziels. Die angegriffenen Standorte wären jedoch nicht von
zentraler Bedeutung für die militärischen Fähigkeiten der NATO insgesamt.
So könnte Russland
beispielsweise innerhalb des NATO-Gebiets mehrere Ziele gleichzeitig angreifen.
Die an den Hilfsmaßnahmen für die Ukraine beteiligt sind.
• Größere Schäden verursachender
Angriff: Diese Kategorie bezieht sich auf Angriffe auf militärische
und zivile Ziele, die erhebliche Verluste, möglicherweise sowohl bei zivilem
als auch militärischem Personal, oder Schäden großen Ausmaßes
verursachen.
Die angegriffenen Ziele könnten sowohl für militärische Operationen als
auch für die
Zivilbevölkerung von großer Bedeutung sein. Ein solcher Schritt 1 läge
zwischen dem
gezielten Angriff und einem uneingeschränkten Angriff auf ein breites Spektrum von Zielen.
Russland könnte beispielsweise mehrere wichtige NATO-Luftwaffenstützpunkte und Hafenanlagen
in ganz Europa in einer Weise angreifen, die zumindest vorübergehend die Fähigkeiten
der NATO, ihr Verstärkungspotenzial oder beides beeinträchtigen würde.
Je höher auf
dieser Skala ein russischer Angriff angesiedelt ist, desto schwieriger dürfte
es sein, eine Reaktion der USA oder der NATO zu strukturieren,
die eine Eskalation zu einem allgemeinen Krieg vermeidet.
Ein
zerstörerischer, nachhaltigerer russischer Angriff, der sich gegen sensible
politisch
oder militärisch Ziele richtet, wird Druck für eine substanzielle, kinetische
Reaktion (einen größeren Raketen-Vergeltungsangriff der USA oder der
NATO) erzeugen, wie weiter unten erläutert wird.
In
Anbetracht der Umstände des laufenden Krieges in der Ukraine ist es
wahrscheinlich, dass der russische Schritt 1 umso stärkere
Schäden anrichtet, je größer die Verzweiflung Russlands in diesem
Konflikt
wird. Die Reaktionen der USA oder der NATO müssen daher möglicherweise mehrere miteinander
konkurrierende Ziele miteinander in Einklang bringen, einschließlich der Verhinderung
einer weiteren Eskalation und der Vermeidung der Belohnung russischer Nötigungsversuche.
Zusätzlich
zu den militärischen Merkmalen des russischen Angriffs sind bei der
Ausarbeitung einer Reaktion der USA oder der NATO auch die Motive
Russlands für seinen Schritt 1 zu berücksichtigen. Ein russischer
Angriff könnte mit einer ausdrücklichen Erklärung der russischen Beweggründe
einhergehen, vielleicht aber auch nicht, oder die angegebenen Beweggründe
spiegeln
nicht die
tatsächlichen Absichten Russlands wider.
Unter den
gegebenen Umständen sind drei
mögliche
russische Beweggründe für Schritt 1 am plausibelsten.
• Um die Beendigung oder Einschränkung
der Unterstützung der USA und der NATO für
die Ukraine
oder die Bestrafung Russlands zu erzwingen:
Die
Bemühungen der USA und der NATO, der Ukraine militärische und andere Hilfe
zukommen zu lassen und gleichzeitig Russland mit wirtschaftlichen und
diplomatischen Mitteln direkt für seine Aggression zu bestrafen,
haben offenbar große Wirkung gezeigt.
Die Ukraine
hat die erhaltene Hilfe mit großem operativem Erfolg genutzt, während
die westlichen Sanktionen gegen Russland eine der konsequentesten wirtschaftlichen
Bestrafungsaktionen gegen eine große Volkswirtschaft seit
Jahrzehnten
darstellten. Russland hat daher ein starkes Motiv, die USA und ihre Verbündeten und Partner zu
zwingen, diese Bemühungen zu beenden oder einzuschränken, von denen Moskau
glauben könnte, dass sie seine Fähigkeit untergraben, den Krieg in der Ukraine
zu gewinnen oder aufrechtzuerhalten, oder die
Gewährleistung seiner inneren Stabilität.
Russische
Angriffe auf Ziele, die für die Unterstützung der Ukraine genutzt
werden,
wären der deutlichste Hinweis darauf, dass dies das Motiv des Kremls ist.
• Um die USA und ihrer Verbündeten zu
zwingen, Druck auf die Ukraine auszuüben, damit diese den laufenden Krieg zu für
Russland günstigen Bedingungen beendet:
Moskau könnte ein
NATO-Ziel angreifen, um die USA und ihre Verbündeten durch die Androhung einer Eskalation
davon zu überzeugen, dass die Risiken einer Fortsetzung des Krieges zwischen Russland und
der Ukraine zu groß sind, damit sie die Ukraine zwingen, einer Beilegung zuzustimmen.
Das heißt, Russland würde versuchen, die Abhängigkeit der Ukraine vom Westen und die
Besorgnis des Westens über eine Eskalation auszunutzen, um die USA und ihre
Verbündeten dazu
zu bringen, Kiew unter Druck zu setzen, seine Kriegsziele
zurückzuschrauben
oder die Kämpfe ganz einzustellen. Russische Angriffe aus dieser Motivation
heraus würden sich eher auf die Verursachung größerer Schäden oder die Androhung
größerer Schäden für die NATO konzentrieren, indem sie z.B. auf wichtige Wirtschaftsgüter
oder empfindlichere militärische Fähigkeiten abzielen.
• Als Vergeltungsreaktion für eine
bestimmte Maßnahme der USA oder der NATO, die einen ukrainischen
Angriff ermöglicht hat:
Russland
könnte auch motiviert sein, NATO-Einrichtungen anzugreifen, wenn es der Meinung
ist, dass die Verbündeten an einem ukrainischen Angriff auf Russland
beteiligt waren.
Sollten die
USA der Ukraine beispielsweise nachrichtendienstliche Erkenntnisse
zur Verfügung stellen, die einen Angriff auf ein wichtigesrussisches
Ziel ermöglichen, könnte Moskau davon ausgehen, dass Washington an dem Angriff
beteiligt
war, und mit einem Angriff auf die US-Plattform reagieren, von der nach Ansicht Moskaus die
nachrichtendienstlichen Erkenntnisse geliefert wurden [z.B. einem US-Militärsatelliten].
Das
russische Motiv wäre also die Abschreckung vor ähnlichen künftigen
Aktionen der
USA oder der NATO. Russische Angriffe mit dieser Motivation dürften
leicht zu
identifizieren sein, da sie wahrscheinlich als Reaktion auf eine bestimmte
US-amerikanische oder von Verbündeten geleistete Unterstützung für einen
bestimmten ukrainischen Angriff erfolgen würden, die diesem
vorausgegangen ist.
Identifizierung
möglicher US-Ziele bei einer Reaktion auf einen begrenzten russischen Angriff.
Bei der
Entscheidung darüber, wie auf einen (russischen) Schritt 1 im gegenwärtigen
Kontext zu reagieren ist, werden die politischen
Entscheidungsträger der USA wahrscheinlich fünf Hauptziele vor Augen haben,
deren Verfolgung die Entscheidungen über die Art des US-Schrittes 2 zu
ergreifenden
Maßnahmen
beeinflussen wird.
Insbesondere
bei der Reaktion auf russische Angriffe höherer Intensität könnte es zu erheblichen
Abwägungszwängen zwischen diesen US-Zielen kommen,
und die
politischen Entscheidungsträger müssen möglicherweise schwierige Entscheidungen darüber
treffen, welche Ziele sie vorrangig verfolgen wollen:
• Abschreckung weiterer russischer
Angriffe:
Ein
grundlegendes Ziel von Schritt 2 dürfte darin bestehen, sicherzustellen, dass
Russland die NATO nicht erneut angreift – weder während der
durch
Schritt 1 ausgelösten Krise noch nach deren Überwindung.
• Vermeidung einer weiteren
Eskalation:
Ein damit zusammenhängendes
Ziel von US-Schritt 2 ist die Vermeidung einer Eskalation zu umfassenderen
Feindseligkeiten oder eines totalen
Krieges als
Folge der durch Schritt 1 ausgelösten aktuellen Krise.
Wie bereits
erwähnt, würden die USA und ihre Verbündeten versuchen, so zu
reagieren, dass es nicht zu (einem russischen) Schritt 3 kommt, indem sie jeden
weiteren russischen Angriff auf die NATO verhindern.
Sollte sich dies
jedoch als nicht möglich erweisen, hätten die USA nach wie vor ein starkes
Interesse daran, die Schwere eines möglichen dritten
(russischen) Schrittes zu begrenzen.
Die Politik der USA in
diesem Krieg wurde bisher von dem klaren Gebot geleitet, einen Krieg zwischen der
NATO und Russland zu vermeiden.
Ein
begrenzter russischer Angriff auf die NATO setzt dieses Ziel nicht
außer Kraft.
Die Folgen
einer Eskalation zu einem totalen Konflikt, der möglicherweise auch
den Einsatz von Atomwaffen einschließen könnte, wären katastrophal.
Daher würden
die politischen Entscheidungsträger der USA wahrscheinlich Schritt 2 anwenden,
um sicherzustellen, dass Schritt 3 nicht zu einer
weiteren
Eskalation in Richtung eines totalen Konflikts führen würde.
Für die
Verfolgung dieses Ziels ist es besonders wichtig, die russischen
Beweggründe für Schritt 1 zu
verstehen.
• Untergrabung der Fähigkeit
Russlands, weitere Angriffe durchzuführen:
Insbesondere wenn der
(russische) Schritt 1 die Fähigkeiten der USA oder der NATO beeinträchtigt hat,
könnte Schritt 2 darauf abzielen, die Gefahr weiterer solcher
Angriffe zu verringern, indem Vergeltungsmaßnahmen gegen die
russische Einheit oder Fähigkeit ergriffen werden, die Schritt 1
durchgeführt hat.
• Aufrechterhaltung der
Glaubwürdigkeit der US-Sicherheitsgarantien:
Ein
begrenzter russischer Angriff auf ein NATO - Ziel wird unter den
derzeitigen Umständen wahrscheinlich nicht nur US-Einrichtungen in Europa,
sondern auch einen US-Verbündeten treffen, dem gegenüber die USA durch Artikel
5 des NATO-
Vertrages (s.https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_17120.htm?selectedLocale=de)
eine
ausdrückliche Sicherheitsverpflichtung eingegangen sind.
Es ist ein
wesentliches nationales Interesse der USA, dafür zu sorgen, dass
solche Verpflichtungen von Gegnern der USA weiterhin als glaubwürdig
angesehen werden, da sie das Netz der US-Bündnisse in der ganzen Welt
untermauern.
Die USA
haben daher starke Gründe, dafür zu sorgen, dass Russland oder andere US-Gegner nicht
zu der Überzeugung gelangen, im Falle eines Angriffs auf einen US-Verbündeten
Vergeltungsmaßnahmen oder Strafen seitens
der USA
vermeiden zu können.
• Aufrechterhaltung des Zusammenhalts
des NATO-Bündnisses:
Die NATO
trifft wichtige Entscheidungen auf der Grundlage eines Konsenses.
Daher ist
die Aufrechterhaltung des Zusammenhalts unter ihren
Mitgliedstaaten – insbesondere in Bezug auf zentrale Ziele wie die Bekämpfung
Russlands – von wesentlicher Bedeutung.
Sollte es
dem Bündnis nicht gelingen, auf einen russischen Angriff auf einen
NATO-Verbündeten in einer Weise zu reagieren, die als ausreichend zur
Abschreckung künftiger Angriffe angesehen wird, könnte dies die Bereitschaft der
NATO-Verbündeten gefährden, weiterhin gemeinsam auf potenzielle
Bedrohungen zu reagieren, was sich möglicherweise destabilisierend auswirken
könnte.
Gleichzeitig
könnten sich einige Bündnismitglieder einer Reaktion widersetzen,
die sie als zu aggressiv oder eskalierend ansehen, was die Kalibrierung der
geeigneten
Maßnahme 2 noch schwieriger machen würde.
Die Politik
der Vereinigten Staaten in diesem Krieg wurde bisher von dem
klaren Gebot
geleitet, einen Krieg zwischen der NATO und Russland zu
vermeiden.
Ein begrenzter russischer Angriff auf die NATO macht dieses
Ziel nicht
ungültig
Identifizierung
von Optionen für Schritt 2
Bei der
Ermittlung möglicher Optionen der USA oder der NATO für Schritt 2 ziehen wir
sowohl kinetische Schritte (Raketenangriffe) als auch
nicht-kinetische Schritte in Betracht, die von den politischen Entscheidungsträgern
beschlossen werden könnten.
Der
kinetische Teil eines zweiten Schrittes (der USA oder der NATO) kann schwächer
oder stärker als der (russische) Schritt 1 sein.
Zu den
nicht-kinetischen Komponenten von Schritt 2 könnten eine Reihe von
Zwangsmaßnahmen oder diplomatische Bemühungen gehören, beispielsweise
Cyberangriffe [auf militärische Einrichtungen oder zivile
Infrastrukturen], Wirtschaftssanktionen oder die Lieferung zusätzlicher Waffen
an die Ukraine.
Diplomatisches
Engagement würde Gespräche über relevante Fragen anstreben.
Grundsätzlich
könnten auch nur von einem Verhandlungspartner angebotene
Schritte in Betracht gezogen werden, um den russischen Bedenken Rechnung zu
tragen [z.B. Zusagen, die Hilfe für die Ukraine zu reduzieren].
Es ist natürlich möglich,
sowohl Zwangsmaßnahmen zu ergreifen als auch die Diplomatie als Teil desselben Gesamtkonzepts
für Schritt 2 einzubeziehen.
Als Nächstes
untersuchen wir, wie Variationen in diesen beiden Dimensionen von Schritt 2 –
die Verhältnismäßigkeit einer möglichen kinetischen
Reaktion und die Art der nicht-kinetischen Reaktionen
– zu
Kompromissen bei der Verfolgung verschiedener US-Ziele führen könnten.
Zu diesem
Zweck entwickeln wir vier hypothetische Szenarien für (einen
russischen) Schritt 1, die in Tabelle 2
zusammengefasst
sind, und verschiedene Kombinationen der drei möglichen russischen Motive für einen
Angriff sowie der drei oben beschriebenen Kategorien zu Schritt 1, die sich auf
dessen Intensität
auswirken.
Anschließend
veranschaulichen wir, wie verschiedene Szenarien, die sich in diesen
Dimensionen
unterscheiden, zu unterschiedlichen Ergebnissen führen könnten.
Tabelle 2
Mögliche
russische Szenarien für begrenzte Angriffe
Szenario A
- Russische
Marschflugkörper treffen ein Depot in Ostpolen
- Keine
Todesopfer, begrenzte Auswirkungen auf NATO-Operationen
- Russland
bringt die Angriffe öffentlich mit der NATO-Hilfe für die Ukraine in Verbindung
Szenario B
- Russland
zerstört einen US-Geheimdienstsatelliten
- Keine
Opfer, begrenzte kurzfristige Auswirkungen auf die Satellitenaufklärung der
USA,
aber
langfristige Risiken aufgrund von Trümmern
- Russland
erklärt, der Angriff sei als Vergeltung für die geheimdienstliche Unterstützung der USA für
ukrainische Angriffe auf russische Streitkräfte erfolgt
Szenario C
- Russische
Raketenangriffe auf drei Luftwaffenstützpunkte in Polen und Rumänien, die an der
Unterstützung der Ukraine beteiligt sind
- Rund zwei
Dutzend militärische und zivile Opfer, einige Auswirkungen auf die
Hilfsbemühungen
- Russland kündigt
weitere derartige Angriffe an , wenn die NATO-Hilfe für die Ukraine nicht
eingestellt wird
Szenario D
-
Koordinierte russische Angriffe gegen sechs wichtige Luft- und Seehäfen,
darunter
(die U.S.
Air Base) Ramstein und Rotterdam
- Ungefähr
200 militärische und zivile Opfer, aber keine dauerhaften Auswirkungen auf die
Operationen
- Russland
erklärt, die Angriffe seien eine Reaktion auf die Unterstützung der NATO für ukrainische
Angriffe auf russisches Hoheitsgebiet, und es behalte sich das Recht vor, alle
Mittel zu seiner Verteidigung einzusetzen.
Zu Szenario
A
Ein
nächtlicher Beschuss mit mehreren Marschflugkörpern trifft ein Depot in der
Nähe eines Flughafens in Ostpolen, der ein wichtiger Transit- und
Lagerknotenpunkt für die Lieferung von Waffen an die Ukraine ist. Der
Angriff zerstört einige militärische Ausrüstungsgegenstände, fordert aber keine Opfer,
und der Flugplatz selbst nimmt seinen Betrieb schnell wieder auf.
Russland
erklärt öffentlich, es handele aus Selbstverteidigung, um die ukrainische
"Aggression" zu bekämpfen, die durch die Waffenlieferungen
der NATO-Verbündeten ermöglicht worden sei. Russland erklärt, es habe nicht die Absicht,
weitere Angriffe auf die NATO durchzuführen, wenn die Waffenlieferungen an die
Ukraine
eingestellt werden.
Dieser
Angriff wäre von der Intensität her als demonstrativ einzustufen.
Wichtige
Überlegungen
• Ein bewusst zurückhaltender
(russischer) Schritt 1 stellt eine besondere Herausforderung dar.
Einerseits hat Moskau eine kritische Schwelle überschritten und einen
Verbündeten der USA direkt angegriffen – ein beispielloser
Schritt, der (eigentlich nach Artikel 5 des NATO-Vertrages) eine starke Reaktion
erfordert, um die Glaubwürdigkeit der USA zu wahren.
Andererseits
lässt der begrenzte Charakter des Angriffs die Möglichkeit offen, auf einen
kinetischen Gegenschlag zu verzichten und stattdessen andere Maßnahmen
zu
ergreifen, mit der andere Ziele der Vereinigten Staaten erreicht werden
könnten.
• Sollte sich die NATO weigern, sich
zu einer Einstellung der Unterstützung für die Ukraine zwingen zu
lassen, würden die Gründe, die Russland zu dem Angriff veranlasst haben, fortbestehen.
Wenn die
politischen Entscheidungsträger der USA weitere russische
Angriffe
verhindern wollen, wird es daher wahrscheinlich notwendig sein, andere Schritte zu
unternehmen, um das russische Kalkül zu ändern.
• Ein größerer Raketenangriff hätte
das Potenzial, die Entschlossenheit der USA und der NATO zu
signalisieren und Russland an einer weiteren Eskalation zu hindern, weil das
Bündnis bei den konventionellen Fähigkeiten im
Vorteil ist.
• Darüber hinaus könnten intensivere kinetische
Reaktionen der USA oder der NATO politischen Spielraum innerhalb des Bündnisses
eröffnen, um Russland auch diplomatisch einzubinden, sollten die USA und die NATO dies wünschen.
• Für sich genommen wäre eine
angemessene kinetische Reaktion – selbst auf russischem Hoheitsgebiet
– wahrscheinlich weniger eskalierend als hochgradig zwingende nicht- kinetische
Maßnahmen, wie z.B. extrem verheerende Cyberangriffe, da die Auswirkungen
einer
angemessenen kinetischen Reaktion viel begrenzter sind.
• Außerdem kann die US-Regierung
sowohl die physischen als auch die politischen Auswirkungen eines
Vergeltungsschlags mit Marschflugkörpern besser einschätzen als einen massiven Cyberangriff
oder extreme Wirtschaftssanktionen, die unkalkulierbare Auswirkungen sowohl auf Russland als
auch auf andere Staaten haben könnten.
• Sollten es die USA jedoch vorziehen,
völlig nicht-kinetisch zu reagieren, sei es, weil sie die
Eskalationsrisiken eines Angriffs auf russisches Territorium vermeiden wollen,
oder aus anderen Gründen, müssten diese nicht-kinetischen
Reaktionen wahrscheinlich einen erheblichen Umfang und eine
erhebliche Wirkung haben…
Wenn die Motivation
Russlands für seinen Angriff darin bestand, eine Änderung der
Politik der USA oder der NATO
gegenüber der Ukraine zu erzwingen, dann muss die
Entscheidung, ob diese Politik
geändert werden soll oder nicht, mit den anderen
Elementen eines Schrittes 2
(der USA oder der NATO) abgewogen werden.
Jeder Schritt, der
auf Zwang abzielt, ist eine absichtliche Erhöhung des Einsatzes und im Wesentlichen
ein Versuch, die NATO vor die Wahl zwischen einem Krieg mit Russland und
der Fortsetzung ihrer Politik gegenüber der Ukraine zu stellen.
Ein idealer Schritt 2
würde einen offenen Krieg mit
Russland vermeiden und gleichzeitig die Fortsetzung des bisherigen
Ukraine-Politik ermöglichen. Aber das könnte schwierig werden.
• Wenn die US-Politiker beschließen, ihre Politik
gegenüber der Ukraine nicht zu ändern, dann müssen die anderen
Aspekte von Schritt 2 die Entschlossenheit der USA vermitteln, um
sicherzustellen, dass Russland nicht glaubt, es könne ihm gelingen, die
US-Politik auf einer höheren Eskalationsstufe zu ändern….
Schlussfolgerungen
Viele der Erkenntnisse, die
wir für die Reaktionen der USA oder der NATO gewonnen haben, waren spezifisch
auf die Umstände der von uns untersuchten russischen Angriffsszenarien
zugeschnitten, was den begrenzten Charakter einer solchen Analyse
verdeutlicht.
Wir haben jedoch auch
Erkenntnisse gewonnen, die allgemeiner auf die
Verteidigungsplanung der USA anwendbar sind:
• Die Intensität von Schritt 1 bestimmt die
Bandbreite der Optionen, die den politischen Entscheidungsträgern
der USA zur Verfügung stehen.
Russische Angriffe mit
höherer Intensität lassen den USA weniger Optionen, um ihre Ziele
zu erreichen.
Ein demonstrativer
(russischer) Schritt 1 gibt den USA viel mehr
Handlungsspielraum für (ihren) Schritt 2, mit dem die Ziele der USA
erreicht werden können.
• Sollten sich die US-Entscheidungsträger
andererseits dazu entschließen, ihre Politik gegenüber der
Ukraine angesichts des russischen Angriffs zu ändern, dann wird es
wahrscheinlich unerlässlich sein, derartige Zugeständnisse
durch die Verursachung hoher Kosten für Russland auszugleichen,
um in Moskau, in Peking oder in den Hauptstädten der Verbündeten den Eindruck
zu vermeiden, dass künftige gewaltsame Versuche, die USA unter Druck zu setzen,
unter dem Strich von Vorteil
sein könnten.
Einen Schritt 2 zu
entwickeln, der diese Möglichkeit
ausschließt, ist eine große
Herausforderung
Die Möglichkeit, dass
Russland auch Atomwaffen einsetzen könnte,
verleiht dem Ziel der USA,
eine weitere Eskalation zu vermeiden,
zusätzliches Gewicht – ein
Ziel, das aber schon nach einem begrenzten
russischen Angriff mit
konventionellen Waffen kritisch überprüft werden
müsste.
• Russische Angriffe auf Ziele in der Ukraine
haben eine gemischte Erfolgsbilanz vorzuweisen.
Wenn diese Probleme mit der
Zielgenauigkeit fortbestehen, könnte es schwierig sein, von den getroffenen
Zielen auf die russischen Absichten und Motive zu schließen.
• Die richtige Bestimmung der Verhältnismäßigkeit
von Schritt 2 wird eine Herausforderung sein.
Möglicherweise gibt es
in Russland oder in der Ukraine keine eindeutigen Entsprechungen zu den mit
Schritt 1 angegriffenen Zielen, möglicherweise verbietet das Recht für
bewaffnete Konflikte ähnliche Angriffe, oder Russland und die NATO haben
möglicherweise nicht dieselben
Auffassungen von
Verhältnismäßigkeit [bezüglich des Ausmaßes des angerichteten Schadens,
die Art des Ziels oder den
Standort des Ziels] . Klare Aussagen über die Absicht von Schritt 2
im Hinblick auf die
Verhältnismäßigkeit könnten hilfreich sein, aber letztlich wird Moskaus eigene Wahrnehmung
der Verhältnismäßigkeit seine Entscheidungsfindung über mögliche Schritte
bestimmen
Diese Analyse
konzentriert sich auf konventionelle Angriffe und Reaktionen.
Angesichts der
Rolle, die Kernwaffen in der russischen Doktrin spielen, und angesichts des Ausmaßes
der Verzweiflung, die in Moskau herrschen muss, damit Russland überhaupt einen
Angriff auf die NATO unternimmt, dürfte jedoch die Möglichkeit des Einsatzes
von Atomwaffen (bei einem russischen) Schritt 3
oder weiteren Angriffen auf die NATO) eine entscheidende Rolle
spielen.
Die Möglichkeit, dass
Russland auch Atomwaffen einsetzen
könnte, verleiht dem Ziel der
USA, eine weitere Eskalation zu vermeiden, zusätzliches Gewicht
– ein Ziel, das aber schon nach einem begrenzten russischen Angriff
mitkonventionellen Waffen kritisch überprüft werden müsste
(Wir haben die Analyse der
RAND Corporation mit DeepL-Unterstützung komplett
übersetzt. Die Einfügungen in eckigen Klammern waren im
Originaltext enthalten die in runden Klammern wurden hinzugefügt.)
******
Anmerkungen der Übersetzer:
Die RAND Corporation (s.
https://de.wikipedia.org/wiki/RAND_Corporation und https://www.rand.org/ )
ist ein nach dem Zweiten
Weltkrieg gegründeter U.S. Think Tank, der Strategiekonzepte für das Pentagon
und die US-Streitkräfte erstellt.
Auch die Strategie für die Anzettelung
des Krieges in der Ukraine wurde von der RAND Corporation erarbeitet (s.https://www.rand.org/pubs/research_briefs/RB10014.html
und
https://www.voltairenet.org/article216066.html
).
In der übersetzten
RAND-Analyse werden Szenarien für die weitere Eskalation des in der Ukraine Konfliktes
der USA und der NATO mit Russland untersucht.
Dabei wird die Realität auf den
Kopf gestellt, weil so getan wird, als könnte nur Russland die Kampfhandlungen
ausweiten.
Bisher haben
aber ausschließlich die USA und die NATO durch die Unterbindung von Verhandlungen
und die Lieferung immer schwererer Waffen an die
Ukraine den Krieg verlängert und eskaliert.
Wenn Russland zu den in
den Szenarien A - D skizzierten Angriffen – mit Marschflugkörpern auf ein Waffendepot
in Polen, mit einer dazu geeigneten Rakete auf einen US-Spionagesatelliten im
Weltraum,
mit Raketen auf drei
Luftwaffenstützpunkte in Polen und Rumänien oder auf sechs wichtige Luft- und
Seehäfen wie die U.S. Air Base
Ramstein und Rotterdam - provoziert werden soll, wird
die Lieferung schwerer Kampfpanzer der Typen Challenger 2 aus
Großbritannien, M1 Abrams aus den USA und Leopard 2 aus der
Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen NATO-Staaten nicht ausreichen.
Was wird also danach kommen?
Werden auch noch
moderne Kampfhubschrauber, Kampfjets und
Mittelstrecken- oder gar
Langstrecken-Raketen folgen und statt einzelner "freiwilliger
Berater" komplettausgerüstete "Freiwilligen-Verbände" aus
diversen NATO-Staaten in die Ukraine entsandt werden?
Russophobe Politikerinnen und Politiker und kriegsgeile
Moderatorinnen und Kommentatoren öffentlich-rechtlicher und privater TV-Sender
werden sicher auch dafür unermüdlich die Kriegstrommel rühren
Die RAND-Analysten haben ein großes
Problem:
Sie fordern, dass der
Krieg gegen Russland unbedingt gewonnen werden muss,
auch wenn dafür die Ukraine völlig und das verbündete Europa in großen
Teilen zerstört werden muss.
Russische Angriffe auf
die USA selbst sollen aber unter allen Umständen
verhindert werden, weil solche Angriffe "zu einem ganz
anderen Entscheidungskalkül führen würden".
Sie gehen außerdem
davon aus, dass russische Angriffe "nicht den Einsatz chemischer,
biologischer oder nuklearer Waffen beinhalten – wiederum,
weil der Einsatz solcher Waffen eine dramatisch andere Reihe
von Reaktionsmöglichkeiten mit sich bringen würde".
Den Einsatz von
US-Atomwaffen schließen sie allerdings nicht aus. Ihre Analyse endet mit dem
Satz:
"Die
Möglichkeit, dass Russland auch Atomwaffen einsetzen könnte, verleiht dem Ziel
der USA, eine weitere Eskalation zu vermeiden,
zusätzliches Gewicht – ein Ziel, das aber schon nach einem begrenzten
russischen Angriff mit konventionellen Waffen kritisch überprüft werden
müsste."
Eine Überprüfung könnte durchaus ergeben, dass nur mit
einem präventiven atomaren Enthauptungsschlag der USA auf
Moskau weitere russische Angriffe jedweder Art ausgeschlossen werden
könnten.
Da auch die russische
Führung mit einer solchen Entwicklung rechnen und Vorkehrungen für automatisierte
nukleare Vergeltungsschläge gegen Kommandozentralen der USA und der NATO in Europa
(in Stuttgart, Wiesbaden, Ramstein) und in den USA
treffen würden, kann die mit der
Lieferung westlicher Kampfpanzer an die Ukraine eingeleitete Eskalation
eigentlich nur in einem atomaren Inferno enden.
Da
mit
der Einleitung diplomatischer Schritte nicht zu rechnen ist, kann dieses Inferno – wenn überhaupt
– nur noch mit sofort
beginnenden weltweiten Protesten und Friedensdemonstrationen verhindert werden
( https://www.rand.org/pubs/perspectives/PEA2081-1.html )
Übersetzt von Fee Strieffler
und Wolfgang Jung, 26.01.2023
Hier:
https://amirmortasawi.files.wordpress.com/2023/01/fs-wj-26.1.2023-1.pdf