Leningrad-Jahrestag – Drei Millionen Zivilisten von deutschen Truppen
eingeschlossen
Klawdija Kuschelowa erinnert sich am
Jahrestag des Endes der Blockade von Leningrad, wie sie das Brot für die
Familie teilte und vor Dieben flüchtete.
Am 27.
Januar 1944 wurde der von der deutschen Wehrmacht errichtete Blockadering um
die Stadt Leningrad von der Roten Armee durchbrochen. Es ist der wichtigste
Gedenktag in St. Petersburg. Auch dieses Jahr kamen Tausende mit roten Nelken
und Kränzen zum Piskarjowskoje-Friedhof im Nordosten
der Stadt, wo in großen viereckigen Massengräbern eine halbe Million Opfer der
Blockade begraben liegen (Reportage
vom Gedenken).
von Ulrich Heyden, St. Petersburg.
Insgesamt
starben während der 872 Tage dauernden Blockade eine Million Bürger der Stadt
an der Newa an Hunger, Krankheiten und Kälte. Einen
Tag nach der Gedenkfeier traf ich eine der Überlebenden der Blockade, Klawdija Kuleschowa. Sie ist 103
Jahre alt und noch rüstig. 77.000 „Blokadniki“, so
nennen die St. Petersburger die Überlebenden der Blockade liebevoll, leben
heute noch in der Stadt.
Das Gespräch fand im Wohnzimmer von Klawdija statt.
Ihre Wohnung, in der sie mit Kindern und Enkeln lebt, liegt in einem über 100
Jahre alten Haus, in der Innenstadt von St. Petersburg, in der Kolomenskaja-Straße, südlich vom Newski-Prospekt.
Klawdija hatte sich zum Treffen schön
gemacht. Sie hatte schlohweiße Locken und ein elegantes schwarzes Kleid
mit Spitze.
Nachricht
vom Krieg am Badestrand
Klawdija wurde noch vor der
Oktoberrevolution geboren, am 4. Juni 1917. In einem Dorf nicht weit von
Leningrad, was damals noch Petrograd hieß, erblickte
sie das Licht der Welt. Der Vater von Klawdija war
Lokomotivführer. Wie sie von dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion am
22. Juni 1941 erfahren hat, will ich wissen. Die alte Dame erzählt, sie habe
das in einem Park auf der Krestowski-Insel, nördlich
des Stadtzentrums von Leningrad, aus einem Lautsprecher gehört. „Ich hatte
gerade meine Kleidung abgelegt und wollte schwimmen. Da wurde die Rede von
Molotow (sowjetischer Außenminister) übertragen. Er sagte, der Krieg hat
angefangen.“
Die Nachricht vom Kriegsbeginn habe die Menschen nicht sehr überrascht, sagt Klawdija, die damals in der Leitzentrale des
Seeschiffverkehrs arbeitete. „Wir waren alle vorbereitet. Wir hatten keine
Angst vor dem Krieg. Wir hatten die Losung, dass wir niemanden angreifen, aber
unsere Erde niemandem geben werden. Wir sind starke Leute.“
160
Kilometer vor Leningrad Panzergräben ausgehoben
Im Juli
1941, wenige Tage nach Kriegsbeginn, wurde die damals 24-jährige Klawdija zusammen mit anderen Arbeiterinnen und Arbeitern
zum Bau von Gräben gegen deutsche Panzer in das Frontgebiet südwestlich von
Leningrad abkommandiert. Mit dem Zug brachte man sie in die Nähe der Hafenstadt
Ust-Luga, 160 Kilometer südwestlich von Leningrad.
Dort gruben die Arbeiter und Arbeiterinnen mit Spaten mehrere Tage Gräben zur
Abwehr der deutschen Panzer. Es sei moorig dort gewesen, erzählt sie. Mücken
hätten sie gestochen und sie habe irgendwann Malaria bekommen.
Schon bei
diesem Arbeitseinsatz war alles spontan organisiert. Die Ernährung spärlich.
„Es gab Linsensuppe mit Brot und Tee. Wir schliefen, so gut wir konnten. In
unserer Kleidung arbeiteten, aßen und schliefen wir. Stellen Sie sich vor, wie
hübsch wir aussahen!“ Plötzlich kam die Meldung, die Deutschen hätten die
südlich von Leningrad gelegene Stadt Gatschina
eingenommen. An eine Rückkehr der Arbeiter und Arbeiterinnen nach Leningrad war
nicht zu denken, denn der Zug in die Newa-Stadt fuhr
über Gatschina.
Doch später kam der Zug dann doch noch. „Man hatte die Deutschen aus Gatschina verjagt“, erzählt Klawdija
mit einem so strahlenden Gesicht, als ob es gestern gewesen wäre.
„Russen, die
überall Verbrechen begehen“
Leningrad
befand sich damals von drei Seiten in der Zange feindlicher Truppen. Vom Norden
stieß die finnische Armee vor. Vom Südwesten kam die 18. deutsche Armee und vom
Süden kam die deutsche Panzergruppe 4 und die 16. deutsche Armee. Die beiden
letztgenannten Kampfverbände kappten am 8. September 1941 östlich von
Leningrad, bei Schlisselburg, die Verbindung von
Leningrad zum sowjetischen Territorium.
Die Befehle der deutschen Militärs an die deutschen Truppen waren eindeutig. Am
13. Dezember 1941 schrieb der Kommandeur der 1. Infanterie-Division Phillip Kleffel in einem Befehl, „dieser Kampf fordert, dass wir
nicht das kleinste Mitleid mit der hungernden Bevölkerung haben, auch nicht mit
Frauen und Kindern.“ Man werde sie nicht durch die Front lassen. Die Frauen und
Kinder seien Russen, die „überall wo es möglich war, Verbrechen begangen
haben.“
Die
Bombardierung der Stadt
Klawdija kam schließlich zurück vom
Arbeitseinsatz nach Leningrad, wo sie von ihren Eltern, ihrem elfjährigen
Bruder Jurij und ihrer 16 Jahre alten Schwester Irina erwartet wurde. An den
ersten Beschuss der Stadt kann sich die alte Dame noch gut erinnern. Nicht weit
von ihrem Wohnhaus fiel eine Bombe in ein hohes Haus. Als das Gebäude
zusammenbrach, entstand eine riesige Staubwolke. „Vor unserem Haus hatten wir
einen halben Meter tiefen Graben gegraben. So konnten wir uns vor dem Luftdruck
der Bombardierungen schützen“, erinnert sie sich.
Klawdija arbeitete eigentlich in der Leitzentrale der
Seeschifffahrt. Weil sie aber durch den Hunger schon sehr geschwächt war und
kranke Beine hatte, wechselte sie den Arbeitsplatz und ging von nun an in die
Fabrik „Junger Seemann“, die sich nicht weit von ihrer Wohnung befand. In der
Fabrik wurden Barkassen und Schiffe repariert. Der Weg von der Arbeit nach
Hause war während der Luftangriffe wie ein Spießrutenlaufen. „Um 17 oder 18 Uhr
verließ ich die Arbeitsstelle. Ich ging zusammen mit meinem elf Jahre alten
Bruder nach Hause. Er half in der Fabrik den Elektromonteuren. Aber zuhause
kamen wir erst um sieben Uhr morgens an, obwohl es von der Arbeit zu uns nach
Hause nur zwei Haltestellen weit war. Kaum bist du ein kleines Stück gegangen,
heulten schon wieder die Sirenen und du musstest wieder Schutz suchen. Heute
denke ich, was für ein Glück, du legst dich schlafen und weißt, dass du am
nächsten Morgen aufwachst. Und was ist es für ein Glück, dass du über den
nächsten Tagen nachdenken kannst. Damals lebten wir nur für eine Minute.“
Der Hunger
und die ständige Anspannung blieben nicht ohne Folgen. „Einmal hatte ich schon
Probleme mit dem Kopf. Ich konnte mich an meinen Familiennamen nicht erinnern.
Ich bekam Angst. Es dauerte zehn Minuten. Zum Glück wiederholte sich das
nicht.“ Klawdija erzählt, dass sie an Dystrophie
litt, einer Mangelkrankheit mit psychischen Auswirkungen. Nach der Blockade
machte ihr auch noch Erythema, eine sehr schmerzhafte Erkrankung im
Unterhautfettgewebe der Unterschenkel zu schaffen.
„Als
Komsomolzin wollte ich mich nicht evakuieren lassen“
Leningrad
hatte vor dem Zweiten Weltkrieg 1941 3,2 Millionen Einwohner. Bis zum Februar
1943 wurden 1,7 Millionen Menschen evakuiert.
Ob sie auf eine Evakuierung gehofft habe? „Wie kann ich mich als junge
Komsomolzin evakuieren lassen? Wir hatten einen Koffer. Granaten waren da nicht
drin, aber eine Flasche mit brennbarer Flüssigkeit. Wir konnten uns schützen.
Ich, meine Mutter, meine Schwester und mein Bruder dachten nicht daran, die
Stadt zu verlassen. Wir haben aber meinen Vater zur Evakuierung überredet. Er
arbeitete als Jurist. Er war damals 60 Jahre alt. Nach einer Lungenentzündung
war er als Schwerbehinderter eingestuft worden. Er kam in das Gebiet Swerdlowsk
im Ural. Nach der Evakuierung starb er.“
Die Familie
von Klawdija lebte in der zweiten Etage eines
Mehrfamilienhauses. Während der nächtlichen Bombardierungen flüchtete die
Familie in den Keller. „Dort standen Betten aus Stahlgestellen. Mein Vater
schaffte es nicht bis in den Keller. Er stand bei den Bombenangriffen in der
Küche. Er versuchte, nicht vor einem Fenster zu stehen.“
Wenn die Mitglieder der Familie von der Arbeit kamen, gab es immer die gleiche
Zeremonie. „Das heiße Wasser mit Graupen kochte schon. Ich teilte immer das
Brot auf. Natürlich bekamen alle die gleiche Menge. Für jeden gab es 125 Gramm.
Eine Waage gab es nicht. Doch wie Du auch schneidest. Für mich blieb immer das
kleinste Stück über. Ich war eigentlich die Kräftigste, aber es kam so, dass
ich die am meisten Ausgezehrteste war und als erste
krank wurde.“
Die Menschen
fielen auf der Straße um
Klawdija erzählt, dass die Menschen vor
Hunger und Kälte auf den Straßen umfielen und starben. Der erste
Blockade-Winter im Jahre 1941 mit Temperaturen von Minus
30 Grad sei der schlimmste gewesen.
Der Weg zur Arbeit verlangte fast Unmögliches von Klawdija
und ihrem Bruder. „Wir mussten über einen Platz gehen, um zu unserer Fabrik zu
kommen. Der Schnee lag dort so hoch wie das Dach einer Straßenbahn. Und durch
diesen hochaufgetürmten Schnee gab es nur einen kleinen Pfad.“
Mitten auf diesem Pfad lag der Länge nach ein gefrorener Leichnam. „Wir wussten
nicht, was wir machen sollten. Wir mussten über den Leichnam gehen. Ein Fuß auf
dem Leichnam, ein Fuß daneben. Große Schritte konnten wir nicht machen. Das war
schmerzhaft. Mein Brüderchen weinte.“ In dem Moment, in dem Klawdija
erzählt, kommen auch der alten Dame die Tränen.
Frikadellen
auf dem Markt
Die Frage
fällt mir schwer, aber ich ringe mich durch und frage die alte Dame, ob es
Menschen gab, die das Fleisch von Toten aßen. „Ich habe das nicht gesehen. Aber
wir hörten, dass auf den Markt Sülze und Frikadellen verkauft wurden. Man
bezahlte dort mit Kleidungsstücken, später mit Gold. Ich weiß nicht, ob das
Banditen waren. Man sagte, die Sülze sei aus Menschenfleisch gemacht.“
Die Stadt
war nicht sicher. Es gab Überfälle. Klawdija erzählt.
„Um Mitternacht hatte ich eine Lebensmittelkarte bekommen. Das Geschäft hatte
noch auf. Am Eingang stand ein junger Mann. Ich ging mit den Karten für mich
und meinen Bruder zu der Verkäuferin. Die Frau fragte mich, siehst Du, wer da steht? Ich sagte, ja. Die Verkäuferin ließ mich dann
durch einen anderen Ausgang nach draußen. Ein Glück! Dieser Mann war
gefährlich. Er wollte wohl Brot von den Leuten klauen.“
Eine
Nachbarin, die ein staatliches Lebensmittelgeschäft leitete, habe ihr dann das
Leben gerettet, erinnert sich die alte Dame. Die Nachbarin habe sie mit nach Pargolowo genommen, einem Dorf nördlich von Leningrad.
„Ich war kurz davor zu sterben. Auf dem Dorf heizte sie ein. Ich erinnere mich,
dass ich die ganze Zeit Wasser trinken wollte. Aber sie gab mir nicht genug zu
trinken. Aus einer Militäreinheit lud sie nachts einen Arzt ein. Ich erinnere
mich nur, dass er sagte, ´Gebt ihr so viel zu trinken, wie sie will.´ So kehrte ich zurück ins Leben.“
Als ich aufstehe und mich zum Abmarsch fertig mache,
sagt Klawdija – wie zur Versöhnung – dass sie keinen
Groll auf die Deutschen habe. Ich umarme und küsse sie, wünsche ihr Glück und
Gesundheit und gehe hinaus in die feuchtkalte Nacht. Von Ferne ist Verkehrslärm
zu hören. Die Stadt an der Newa lebt und will keinen
Krieg. Nie wieder!
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10.2.2020