Kuba über die BRICS-Staaten
Fidel Castro: Eine neue
Wirklichkeit
Das Treffen der
BRICS-Gruppe in Fortaleza markiert eine Zäsur der globalen Entwicklung. Es ist
an der Zeit, etwas mehr über die Realität zu erfahren.
von Fidel
Castro Ruz in junge Welt vom 24.7.2014
Unsere Epoche stellt uns
vor immer kompliziertere Probleme. Nachrichten verbreiten sich mit Lichtgeschwindigkeit.
Heute geschieht auf unserer Welt nichts, was uns nicht etwas Neues lehren
könnte. Der Mensch ist eine merkwürdige Mischung aus blinden Instinkten und
Bewusstsein. Wir sind politische Tiere. Das sagte – nicht ohne Grund –
Aristoteles, der wie vielleicht kein anderer Philosoph des Altertums das Denken
der Menschheit beeinflusst hat. Sein Lehrer war Platon. Er hinterließ
der Nachwelt seine berühmte Utopie über den idealen Staat, die ihn in Syrakus,
wo er versuchte, sie umzusetzen, fast das Leben gekostet hatte.
Platons politische Theorie
blieb ein Appellativ, um Ideen als gut oder schlecht zu beurteilen. Die
Reaktionäre nutzten sie, um sowohl Marx als auch Lenin als Theoretiker zu
bezeichnen, ohne dabei zu berücksichtigen, dass deren Utopien Russland und
China inspiriert haben – jene zwei Länder, die aufgerufen sind, an der Spitze
einer neuen Welt zu stehen und die das Überleben der menschlichen Gattung
ermöglichen könnten, falls der Imperialismus nicht zuvor einen verbrecherischen
und verheerenden Krieg entfesselt.
Im Würgegriff der Blockade
Die Sowjetunion, das
sozialistische Lager, die Volksrepublik China und Nordkorea haben Kuba mit
Lieferungen für das Notwendigste geholfen. So konnten wir einer erbarmungslosen
Wirtschaftsblockade der Vereinigten Staaten, dem mächtigsten Imperium, das
jemals existiert hat, standhalten. Trotz ihrer riesigen Macht konnten sie das
kleine Land nicht niederwalzen, das wenige Meilen vor ihren Küsten mehr als ein
halbes Jahrhundert den Drohungen, Piratenüberfällen, Entführungen von
Fischerbooten und der Versenkung von Handelsschiffen, der Zerstörung eines
Flugzeugs der Cubana de Aviación über Barbados, der Brandschatzung von Schulen
und andere Übeltaten widerstanden hat. Als die USA versuchten, unser Land mit
Söldnertruppen zu überfallen, wurden diese in weniger als 72 Stunden besiegt.
Auch danach begingen die von ihnen organisierten und ausgerüsteten
konterrevolutionären Banden Handlungen des Vandalismus, die Tausenden
Landsleuten das Leben oder die physische Unversehrtheit kosteten.
Im (US-)Bundesstaat
Florida befand sich die größte Basis für Aktivitäten gegen ein anderes Land,
die es zu diesem Zeitpunkt gab. Im Verlauf der Zeit beteiligten sich die Länder
der NATO an der Wirtschaftsblockade. Und auch viele ihrer Verbündeten in
Lateinamerika, die in den ersten Jahren Komplizen jener verbrecherischen
Politik des Imperiums waren – was die Träume von Bolívar, Martí und Hunderten
großer Patrioten von unbeirrbar revolutionärer Haltung in Lateinamerika in
Fetzen riss.
Globale Perspektive
Bei dem vor kurzem
beendeten Treffen von Fortaleza wurde eine wichtige Erklärung der Länder
verabschiedet, die der BRICS-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China,
Südafrika) angehören. Ihr Vorschlag einer größeren makroökonomischen Koordination
zwischen den wichtigsten Ökonomien, speziell der G-20-Staaten, stellt einen
fundamentalen Faktor für die Stärkung der Perspektiven einer effektiven und
nachhaltigen Erholung der gesamten Welt dar.
Die BRICS kündigten die
Unterzeichnung eines Abkommens zur Konstituierung der »Neuen Entwicklungsbank«
an, um Ressourcen für Infrastruktur- und nachhaltige Entwicklungsprojekte der
Mitgliedsländer und anderer aufstrebender und sich entwickelnder Ökonomien
bereitzustellen.
Die Bank wird in Schanghai
sitzen und über ein autorisiertes Anfangskapital von 100 Milliarden US-Dollar
verfügen. Den ersten Präsidenten des Gouverneursrates wird Russland stellen.
Erster Chef des Verwaltungsrates wird ein Brasilianer, erster Bankpräsident ein
Vertreter Indiens sein.
Auch die Unterzeichnung
eines Vertrags zur Etablierung eines Gemeinsamen Devisenreservefonds für
Notsituationen ist durch die BRICS geplant. Das bekräftigt die Unterstützung
für ein multilaterales System offenen, transparenten, (alle) einschließenden
und nicht diskriminierenden Handels sowie für den erfolgreichen Abschluss der
Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO). Die BRICS erkennen die
wichtige Rolle an, die staatliche Unternehmen in der Wirtschaft spielen,
ebenso wie die der kleinen und mittleren Unternehmen als Schöpfer von
Beschäftigung und Reichtum.
In Fortaleza hoben die
Staaten die strategische Bedeutung der Bildung für die nachhaltige Entwicklung
und das inklusive Wirtschaftswachstum hervor, betonten die Verbindungen
zwischen der Kultur und der nachhaltigen Entwicklung. Das nächste Gipfeltreffen
findet im Juli 2015 in Russland statt.
Kein Alltagsereignis
Es könnte scheinen, als handele es sich um ein Abkommen mehr unter den vielen,
die ständig in den Depeschen der wichtigsten westlichen Presseagenturen
auftauchen. Aber die Bedeutung (des BRICS-Treffens) ist klar und umfassend:
Lateinamerika ist die geographische Region der Welt, der die Vereinigten
Staaten das weltweit ungerechteste System zur Nutzung der inneren Reichtümer,
der Lieferung billiger Rohstoffe, als Käufer ihrer Waren und als privilegierter
Anleger ihres Goldes und ihrer Fonds aufgezwungen haben. Diese Reichtümer verlassen
die jeweiligen Länder und werden von den nordamerikanischen Unternehmen zu
Hause oder an irgendeinem Ort der Welt investiert.
Niemand hat jemals eine
Antwort gefunden, die in der Lage gewesen wäre, die Bedürfnisse des realen
Marktes, den wir heute kennen, zu befriedigen.
Aber man kann auch nicht
daran zweifeln, dass die Menschheit zu einer Etappe in ihrer Entwicklung voranschreitet,
die gerechter sein wird als jene, die die Gesellschaft bislang erlebt hat.
Heute ist von Bedeutung,
was aus unserem globalisierten Planeten in naher Zukunft werden wird. Wie
können die Menschen der Unwissenheit, dem Mangelzustand an grundlegenden
Ressourcen zu Ernährung, Gesundheit, Bildung, Wohnraum, anständiger Arbeit,
Sicherheit und gerechter Entlohnung entkommen? Das ist am wichtigsten, egal ob
es in diesem kleinen Winkel des Universums nun möglich ist oder nicht. Wenn das
Nachdenken darüber irgend etwas bringt, wird dies dazu dienen, tatsächlich das
Überleben des Menschen zu garantieren.
Ich hege nicht den
geringsten Zweifel: Wenn (Chinas) Präsident Xi Jinping ebenso wie der Präsident
der Russischen Föderation, Wladimir Putin, ihre Rundreisen durch diese
Hemisphäre absolviert haben, werden beide Länder einen der wichtigsten Prozesse
der menschlichen Geschichte vollenden.
In der am 15. Juli 2014 in
Fortaleza verabschiedeten Erklärung sprechen sich die BRICS-Staaten für eine
stärkere Beteiligung anderer Entwicklungsländer aus, um so die Zusammenarbeit
und die Solidarität mit den Völkern besonders Südamerikas zu fördern.
In einem wichtigen Absatz
(des Dokuments) signalisieren sie, dass sie die besondere Bedeutung der Union
Südamerikanischer Nationen (UNASUR) bei der Förderung von Frieden und
Demokratie in der Region und beim Erreichen des Ziels nachhaltiger Entwicklung
und der Beseitigung der Armut anerkennen.
Ich bin ziemlich
ausführlich geworden, obwohl der Umfang und die Bedeutung des Themas eine
Analyse weiterer wichtiger Fragen verlangte, die eine Antwort brauchten. In den
kommenden Tagen sollte es mehr ernsthafte Analysen über die Bedeutung des
Gipfeltreffens der BRICS geben.
Es würde reichen, die Zahl
der Einwohner Brasiliens, Russlands, Indiens, Chinas und Südafrika zusammenzuzählen,
um zu verstehen, dass sie derzeit die Hälfte der Weltbevölkerung
repräsentieren. In wenigen Jahrzehnten wird das Bruttoinlandsprodukt Chinas das
der Vereinigten Staaten übertreffen. Viele Staaten ordern bereits Yuans und
nicht mehr Dollars, darunter nicht nur Brasilien, sondern mehrere weitere
wichtige Länder Lateinamerikas, deren Produkte wie Soja und Mais in Konkurrenz
zu denen aus Nordamerika stehen. Der Beitrag, den Russland und China in
Wissenschaft und Technik sowie zur wirtschaftlichen Entwicklung Südamerikas und
der Karibik leisten können, ist entscheidend.
Die großen Ereignisse der
Geschichte vollziehen sich nicht an einem einzigen Tag. Gewaltige Prüfungen und
Herausforderung von zunehmender Komplexität zeigen sich am Horizont. Es ist an
der Zeit, die Realitäten etwas besser kennenzulernen.
Der Text erschien in der
kubanischen Tageszeitung Granma. Er wurde für jW gekürzt.
Quelle:
http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Globalisierung1/brics2.html
[Übersetzung: André Scheer; Redaktion:
Klaus Fischer]