Kirche: Die Ansprache des Papstes bei der Verleihung des Karlspreises,
am 6. Mai 2016, im Vatikan im Wortlaut
Sehr verehrte
Gäste,
herzlich heiße ich Sie willkommen und danke Ihnen, dass Sie da sind. Ein
besonderer Dank gilt den Herren Marcel Philipp, Jürgen Linden, Martin Schulz,
Jean-Claude Juncker und Donald Tusk für ihre freundlichen Worte. Ich möchte
noch einmal meine Absicht bekräftigen, den ehrenvollen Preis, mit dem ich
ausgezeichnet werde, Europa zu widmen: Wir wollen die Gelegenheit ergreifen,
über dieses festliche Ereignis hinaus gemeinsam einen neuen kräftigen Schwung
für diesen geliebten Kontinent zu wünschen.
Die Kreativität, der Geist, die Fähigkeit, sich wieder aufzurichten und aus den
eigenen Grenzen hinauszugehen, gehören zur Seele Europas. Im vergangenen
Jahrhundert hat es der Menschheit bewiesen, dass ein neuer Anfang möglich war:
Nach Jahren tragischer Auseinandersetzungen, die im furchtbarsten Krieg, an den
man sich erinnert, gipfelten, entstand mit der Gnade Gottes etwas in der
Geschichte noch nie da gewesenes Neues. Schutt und Asche konnten die Hoffnung
und die Suche nach dem Anderen, die im Herzen der Gründerväter des europäischen
Projekts brannten, nicht auslöschen. Sie legten das Fundament für ein Bollwerk
des Friedens, ein Gebäude, das von Staaten aufgebaut ist, die sich nicht aus
Zwang, sondern aus freier Entscheidung für das Gemeinwohl zusammenschlossen und
dabei für immer darauf verzichtet haben, sich gegeneinander zu wenden. Nach
vielen Teilungen fand Europa endlich sich selbst und begann sein Haus zu bauen.
Diese »Familie von Völkern«[1], die in der Zwischenzeit lobenswerterweise
größer geworden ist, scheint in jüngster Zeit die Mauern dieses gemeinsamen
Hauses, die mitunter in Abweichung von dem glänzenden Projektentwurf der Väter
errichtet wurden, weniger als sein Eigen zu empfinden. Jenes Klima des Neuen,
jener brennende Wunsch, die Einheit aufzubauen, scheinen immer mehr erloschen.
Wir Kinder dieses Traumes sind versucht, unseren Egoismen nachzugeben, indem
wir auf den eigenen Nutzen schauen und daran denken, bestimmte Zäune zu
errichten. Dennoch bin ich überzeugt, dass die Resignation und die Müdigkeit
nicht zur Seele Europas gehören und dass auch die »Schwierigkeiten zu
machtvollen Förderern der Einheit werden können«[2].
Im Europäischen Parlament habe ich mir erlaubt, von Europa als Großmutter zu
sprechen. Zu den Europaabgeordneten sagte ich, dass von verschiedenen Seiten
der Gesamteindruck eines müden und gealterten Europa, das nicht fruchtbar und
lebendig ist, zugenommen hat, wo die großen Ideale, welche Europa inspiriert
haben, ihre Anziehungskraft verloren zu haben scheinen; ein heruntergekommenes
Europa, das seine Fähigkeit, etwas hervorzubringen und zu schaffen, verloren zu
haben scheint. Ein Europa, das versucht ist, eher Räume zu sichern und zu
beherrschen, als Inklusions- und Transformationsprozesse hervorzubringen; ein
Europa, das sich „verschanzt“, anstatt Taten den Vorrang zu geben, welche neue
Dynamiken in der Gesellschaft fördern – Dynamiken, die in der Lage sind, alle
sozialen Handlungsträger (Gruppen und Personen) bei der Suche nach neuen
Lösungen der gegenwärtigen Probleme einzubeziehen und dazu zu bewegen, auf dass
sie bei wichtigen historischen Ereignissen Frucht bringen. Ein Europa, dem es
fern liegt, Räume zu schützen, sondern das zu einer Mutter wird, die Prozesse
hervorbringt (vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 223).
Was ist mit dir los, humanistisches Europa, du Verfechterin der Menschenrechte,
der Demokratie und der Freiheit? Was ist mit dir los, Europa, du Heimat von
Dichtern, Philosophen, Künstlern, Musikern, Literaten? Was ist mit dir los,
Europa, du Mutter von Völkern und Nationen, Mutter großer Männer und Frauen,
die die Würde ihrer Brüder und Schwestern zu verteidigen und dafür ihr Leben
hinzugeben wussten?
Der Schriftsteller Elie Wiesel, Überlebender der Nazi-Vernichtungslager, sagte,
dass heute eine „Transfusion des Gedächtnisses“ grundlegend ist. Es ist
notwendig, „Gedächtnis zu halten“, ein wenig von der Gegenwart Abstand zu
nehmen, um der Stimme unserer Vorfahren zu lauschen. Das Gedächtnis wird uns
nicht nur erlauben, nicht dieselben Fehler der Vergangenheit zu begehen (vgl.
Evangelii gaudium, 108), sondern gibt uns auch Zutritt zu den Errungenschaften,
die unseren Völkern geholfen haben, die historischen Kreuzungswege, denen sie
begegneten, positiv zu beschreiten. Die Transfusion des Gedächtnisses befreit
uns von der oft attraktiveren gegenwärtigen Tendenz, hastig auf dem Treibsand
unmittelbarer Ergebnisse zu bauen, die »einen leichten politischen Ertrag
schnell und kurzlebig erbringen [könnten], aber nicht die menschliche Fülle
aufbauen« (ebd., 224).
Zu diesem Zweck wird es uns gut tun, die Gründerväter Europas in Erinnerung
zu rufen. Sie verstanden es, in einem von den Wunden des Krieges
gezeichneten Umfeld nach alternativen, innovativen Wegen zu suchen. Sie hatten
die Kühnheit, nicht nur von der Idee Europa zu träumen, sondern wagten, die
Modelle, die bloß Gewalt und Zerstörung hervorbrachten, radikal zu verändern.
Sie wagten, nach vielseitigen Lösungen für die Probleme zu suchen, die nach und
nach von allen anerkannt wurden.
Robert Schuman sagte bei dem Akt, den viele als die Geburtsstunde der ersten
europäischen Gemeinschaft anerkennen: »Europa lässt sich nicht mit einem
Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird
durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat
schaffen.«[3] Gerade jetzt, in dieser unserer zerrissenen und verwundeten Welt,
ist es notwendig, zu dieser Solidarität der Tat zurückzukehren, zur selben
konkreten Großzügigkeit, der auf den Zweiten Weltkrieg folgte, denn – wie
Schuman weiter ausführte – »Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne
schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.«[4] Die
Pläne der Gründerväter, jener Herolde des Friedens und Propheten der Zukunft,
sind nicht überholt: Heute mehr denn je regen sie an, Brücken zu bauen und
Mauern einzureißen. Sie scheinen einen eindringlichen Aufruf auszusprechen,
sich nicht mit kosmetischen Überarbeitungen oder gewundenen Kompromissen zur
Verbesserung mancher Verträge zufrieden zu geben, sondern mutig neue, tief
verwurzelte Fundamente zu legen. Wie Alcide De Gasperi sagte: »Von der Sorge um
das Gemeinwohl unserer europäischen Vaterländer, unseres Vaterlandes Europa
gleichermaßen beseelt, müssen alle ohne Furcht eine konstruktive Arbeit wieder
neu beginnen, die alle unsere Anstrengungen einer geduldigen und dauerhaften
Zusammenarbeit erfordert.«[5]
Diese Übertragung des Gedächtnisses macht es uns möglich, uns von der
Vergangenheit inspirieren zu lassen, um mutig dem vielschichtigen mehrpoligen
Kontext unserer Tage zu begegnen und dabei entschlossen die Herausforderung
anzunehmen, die Idee Europa zu „aktualisieren“ – eines Europa, das imstande
ist, einen neuen, auf drei Fähigkeiten gegründeten Humanismus zur Welt zu
bringen: Fähigkeit zur Integration, Fähigkeit zum Dialog und Fähigkeit, etwas
hervorzubringen.
Fähigkeit zur Integration
Erich Przywara fordert uns mit seinem großartigen Werk Idee Europa heraus, sich
die Stadt als eine Stätte des Zusammenlebens verschiedener Einrichtungen auf
unterschiedlichen Ebenen vorzustellen. Er kannte jene reduktionistische
Tendenz, die jedem Versuch, das gesellschaftliche Gefüge zu denken und davon zu
träumen, innewohnt. Die vielen unserer Städte innewohnende Schönheit verdankt
sich der Tatsache, dass es ihnen gelungen ist, die Unterschiede der Epochen,
Nationen, Stile, Visionen in der Zeit zu bewahren. Es genügt, auf das
unschätzbare kulturelle Erbe Roms zu schauen, um noch einmal zu bekräftigen,
dass der Reichtum und der Wert eines Volkes eben darin wurzelt, alle diese
Ebenen in einem gesunden Miteinander auszudrücken zu wissen. Die Reduktionismen
und alle Bestrebungen zur Vereinheitlichung – weit entfernt davon, Wert
hervorzubringen – verurteilen unsere Völker zu einer grausamen Armut: jene der
Exklusion. Und weit entfernt davon, Größe, Reichtum und Schönheit mit sich zu
bringen, ruft die Exklusion Feigheit, Enge und Brutalität hervor. Weit entfernt
davon, dem Geist Adel zu verleihen, bringt sie ihm Kleinlichkeit.
Die Wurzeln unserer Völker, die Wurzeln Europas festigten sich im Laufe seiner
Geschichte. Dabei lernte es, die verschiedensten Kulturen, ohne sichtliche
Verbindung untereinander, in immer neuen Synthesen zu integrieren. Die
europäische Identität ist und war immer eine dynamische und multikulturelle
Identität.
Die Politik weiß, dass sie vor dieser grundlegenden und nicht verschiebbaren
Arbeit der Integration steht. Wir wissen: »Das Ganze ist mehr als der Teil, und
es ist auch mehr als ihre einfache Summe.« Dafür muss man immer arbeiten und
»den Blick ausweiten, um ein größeres Gut zu erkennen, das uns allen Nutzen
bringt« (Evangelii gaudium, 235). Wir sind aufgefordert, eine Integration zu
fördern, die in der Solidarität die Art und Weise findet, wie die Dinge zu tun
sind, wie Geschichte gestaltet werden soll. Es geht um eine Solidarität, die
nie mit Almosen verwechselt werden darf, sondern als Schaffung von Möglichkeiten
zu sehen ist, damit alle Bewohner unserer – und vieler anderer – Städte ihr
Leben in Würde entfalten können. Die Zeit lehrt uns gerade, dass die bloß
geographische Eingliederung der Menschen nicht ausreicht, sondern dass die
Herausforderung in einer starken kulturellen Integration besteht.
Auf diese Weise wird die Gemeinschaft der europäischen Völker die Versuchung
überwinden können, sich auf einseitige Paradigmen zurückzuziehen und sich auf
„ideologische Kolonialisierungen“ einzulassen. So wird sie vielmehr die Größe
der europäischen Seele wiederentdecken, die aus der Begegnung von
Zivilisationen und Völkern entstanden ist, die viel weiter als die
gegenwärtigen Grenzen der Europäischen Union geht und berufen ist, zum Vorbild
für neue Synthesen und des Dialogs zu werden. Das Gesicht Europas
unterscheidet sich nämlich nicht dadurch, dass es sich anderen widersetzt,
sondern dass es die Züge verschiedener Kulturen eingeprägt trägt und die
Schönheit, die aus der Überwindung der Beziehungslosigkeit kommt. Ohne diese
Fähigkeit zur Integration werden die einst von Konrad Adenauer gesprochenen
Worte heute als Prophezeiung der Zukunft erklingen: »Die Zukunft der
abendländischen Menschheit [ist] durch nichts, aber auch durch gar nichts,
durch keine politische Spannung so sehr gefährdet wie durch die Gefahr der
Vermassung, der Uniformierung des Denkens und Fühlens, kurz, der gesamten
Lebensauffassung und durch die Flucht aus der Verantwortung, aus der Sorge für
sich selbst.«[6]
Die Fähigkeit zum Dialog
Wenn es ein Wort gibt, das wir bis zur Erschöpfung wiederholen müssen, dann
lautet es Dialog. Wir sind aufgefordert, eine Kultur des Dialogs zu fördern,
indem wir mit allen Mitteln Instanzen zu eröffnen suchen, damit dieser Dialog
möglich wird und uns gestattet, das soziale Gefüge neu aufzubauen. Die
Kultur des Dialogs impliziert einen echten Lernprozess sowie eine Askese, die
uns hilft, den Anderen als ebenbürtigen Gesprächspartner anzuerkennen, und die
uns erlaubt, den Fremden, den Migranten, den Angehörigen einer anderen Kultur
als Subjekt zu betrachten, dem man als anerkanntem und geschätztem Gegenüber
zuhört. Es ist für uns heute dringlich, alle sozialen Handlungsträger
einzubeziehen, um »eine Kultur, die den Dialog als Form der Begegnung
bevorzugt,« zu fördern, indem wir »die Suche nach Einvernehmen und
Übereinkünften [vorantreiben], ohne sie jedoch von der Sorge um eine gerechte
Gesellschaft zu trennen, die erinnerungsfähig ist und niemanden ausschließt«
(Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 239). Der Frieden wird in dem Maß
dauerhaft sein, wie wir unsere Kinder mit den Werkzeugen des Dialogs ausrüsten
und sie den „guten Kampf“ der Begegnung und der Verhandlung lehren. Auf diese
Weise werden wir ihnen eine Kultur als Erbe überlassen können, die Strategien zu
umreißen weiß, die nicht zum Tod, sondern zum Leben, nicht zur Ausschließung,
sondern zur Integration führen.
Diese Kultur des Dialogs, die in alle schulischen Lehrpläne als übergreifende
Achse der Fächer aufgenommen werden müsste, wird dazu verhelfen, der jungen
Generation eine andere Art der Konfliktlösung einzuprägen als jene, an die wir
sie jetzt gewöhnen. Heute ist es dringend nötig, „Koalitionen“ schaffen zu
können, die nicht mehr nur militärisch oder wirtschaftlich, sondern kulturell,
erzieherisch, philosophisch und religiös sind. Koalitionen, die herausstellen,
dass es bei vielen Auseinandersetzungen oft um die Macht wirtschaftlicher
Gruppen geht. Es braucht Koalitionen, die fähig sind, das Volk vor der
Benutzung durch unlautere Ziele zu verteidigen. Rüsten wir unsere Leute mit der
Kultur des Dialogs und der Begegnung aus.
Die Fähigkeit, etwas hervorzubringen
Der Dialog und alles, was er mit sich bringt, erinnern uns daran, dass keiner
sich darauf beschränken kann, Zuschauer oder bloßer Beobachter zu sein. Alle,
vom Kleinsten bis zum Größten, bilden einen aktiven Part beim Aufbau einer
integrierten und versöhnten Gesellschaft. Diese Kultur ist möglich, wenn alle
an ihrer Ausgestaltung und ihrem Aufbau teilhaben. Die gegenwärtige Situation
lässt keine bloßen Zaungäste der Kämpfe anderer zu. Sie ist im Gegenteil ein
deutlicher Appell an die persönliche und soziale Verantwortung.
In diesem Sinne spielen unsere jungen Menschen eine dominierende Rolle. Sie
sind nicht die Zukunft unserer Völker, sie sind ihre Gegenwart. Schon heute
schmieden sie mit ihren Träumen und mit ihrem Leben den europäischen Geist. Wir
können nicht an ein Morgen denken, ohne dass wir ihnen eine wirkliche Teilhabe
als Träger der Veränderung und des Wandels anbieten. Wir können uns Europa
nicht vorstellen, ohne dass wir sie einbeziehen und zu Protagonisten dieses
Traums machen.
Kürzlich habe ich über diesen Aspekt nachgedacht, und ich habe mich gefragt:
Wie können wir unsere jungen Menschen an diesem Aufbau teilhaben lassen, wenn
wir ihnen die Arbeit vorenthalten? Wenn wir ihnen keine würdige Arbeiten geben,
die ihnen erlauben, sich mit Hilfe ihrer Hände, ihrer Intelligenz und ihren
Energien zu entwickeln? Wie können wir behaupten, ihnen die Bedeutung von
Protagonisten zuzugestehen, wenn die Quoten der Arbeitslosigkeit und der
Unterbeschäftigung von Millionen von jungen Europäern ansteigen? Wie können wir
es vermeiden, unsere jungen Menschen zu verlieren, die auf der Suche nach
Idealen und nach einem Zugehörigkeitsgefühl schließlich anderswohin gehen, weil
wir ihnen hier in ihrem Land keine Gelegenheiten und keine Werte zu vermitteln
vermögen?
»Die gerechte Verteilung der Früchte der Erde und der menschlichen Arbeit ist
keine bloße Philanthropie. Es ist eine moralische Pflicht«[7]. Wenn wir
unsere Gesellschaft anders konzipieren wollen, müssen wir würdige und lukrative
Arbeitsplätze schaffen, besonders für unsere jungen Menschen.
Das erfordert die Suche nach neuen Wirtschaftsmodellen, die in höherem Maße
inklusiv und gerecht sind. Sie sollen nicht darauf ausgerichtet sein, nur
einigen wenigen zu dienen, sondern vielmehr dem Wohl jedes Menschen und der
Gesellschaft. Und das verlangt den Übergang von einer „verflüssigten“
Wirtschaft zu einer sozialen Wirtschaft. Ich denke zum Beispiel an die soziale
Marktwirtschaft, zu der auch meine Vorgänger ermutigt haben (vgl. Johannes Paul
II. Ansprache an den Botschafter der Bundesrepublik Deutschland, 8. November
1990). Es ist nötig, von einer Wirtschaft, die auf den Verdienst und den Profit
auf der Basis von Spekulation und Darlehen auf Zinsen zielt, zu einer sozialen
Wirtschaft überzugehen, die in die Menschen investiert, indem sie Arbeitsplätze
und Qualifikation schafft.
Von einer „verflüssigten“ Wirtschaft, die dazu neigt, Korruption als Mittel
zur Erzielung von Gewinnen zu begünstigen, müssen wir zu einer sozialen
Wirtschaft gelangen, die den Zugang zum Land und zum Dach über dem Kopf
garantiert. Und dies mittels der Arbeit als dem Umfeld, in dem die Menschen
und die Gemeinschaften »viele Dimensionen des Lebens ins Spiel [bringen
können]: die Kreativität, die Planung der Zukunft, die Entwicklung der
Fähigkeiten, die Ausübung der Werte, die Kommunikation mit den anderen, eine
Haltung der Anbetung. In der weltweiten sozialen Wirklichkeit von heute ist es
daher über die begrenzten Interessen der Unternehmen und einer fragwürdigen
wirtschaftlichen Rationalität hinaus notwendig, ‚dass als Priorität
weiterhin das Ziel verfolgt wird, allen Zugang zur Arbeit zu verschaffen‘[8]«
(Enzyklika Laudato si‘, 127).
Wenn wir eine menschenwürdige Zukunft anstreben wollen, wenn wir eine
friedliche Zukunft für unsere Gesellschaft wünschen, können wir sie nur
erreichen, indem wir auf die wahre Inklusion setzen: »die, welche die würdige,
freie, kreative, beteiligte und solidarische Arbeit gibt«[9]. Dieser Übergang
(von einer „verflüssigten“ zu einer sozialen Wirtschaft) vermittelt nicht nur
neue Perspektiven und konkrete Gelegenheiten zur Integration und Inklusion,
sondern eröffnet uns von neuem die Fähigkeit von jenem Humanismus zu träumen,
dessen Wiege und Quelle Europa einst war.
Am Wiederaufblühen eines zwar müden, aber immer noch an Energien und
Kapazitäten reichen Europas kann und soll die Kirche mitwirken. Ihre Aufgabe
fällt mit ihrer Mission zusammen, der Verkündigung des Evangeliums. Diese zeigt
sich heute mehr denn je vor allem dahin, dass wir dem Menschen mit seinen
Verletzungen entgegenkommen, indem wir ihm die starke und zugleich schlichte
Gegenwart Christi bringen, seine tröstende und ermutigende Barmherzigkeit. Gott
möchte unter den Menschen wohnen, aber das kann er nur mit Männern und Frauen
erreichen, die – wie einst die großen Glaubensboten des Kontinents – von ihm
angerührt sind und das Evangelium leben, ohne nach etwas anderem zu suchen. Nur
eine Kirche, die reich an Zeugen ist, vermag von neuem das reine Wasser des
Evangeliums auf die Wurzeln Europas zu geben. Dabei ist der Weg der Christen
auf die volle Gemeinschaft hin ein großes Zeichen der Zeit, aber auch ein
dringendes Erfordernis, um dem Ruf des Herrn zu entsprechen, dass alle eins
sein sollen (vgl. Joh 17,21).
Mit dem Verstand und mit dem Herz, mit Hoffnung und ohne leere Nostalgien, als
Sohn, der in der Mutter Europa seine Lebens- und Glaubenswurzeln hat, träume
ich von einem neuen europäischen Humanismus: »Es bedarf eines ständigen Weges
der Humanisierung«, und dazu braucht es »Gedächtnis, Mut und eine gesunde
menschliche Zukunftsvision«[10]. Ich träume von einem jungen Europa, das fähig
ist, noch Mutter zu sein: eine Mutter, die Leben hat, weil sie das Leben achtet
und Hoffnung für das Leben bietet. Ich träume von einem Europa, das sich um das
Kind kümmert, das dem Armen brüderlich beisteht und ebenso dem, der Aufnahme
suchend kommt, weil er nichts mehr hat und um Hilfe bittet. Ich träume von
einem Europa, das die Kranken und die alten Menschen anhört und ihnen
Wertschätzung entgegenbringt, auf dass sie nicht zu unproduktiven
Abfallsgegenständen herabgesetzt werden. Ich träume von einem Europa, in dem
das Migrantsein kein Verbrechen ist, sondern vielmehr eine Einladung zu einem
größeren Einsatz mit der Würde der ganzen menschlichen Person. Ich träume von
einem Europa, wo die jungen Menschen die reine Luft der Ehrlichkeit atmen, wo
sie die Schönheit der Kultur und eines einfachen Lebens lieben, die nicht von
den endlosen Bedürfnissen des Konsumismus beschmutzt ist; wo das Heiraten und
der Kinderwunsch eine Verantwortung wie eine große Freude sind und kein Problem
darstellen, weil es an einer hinreichend stabilen Arbeit fehlt. Ich träume
von einem Europa der Familien mit einer echt wirksamen Politik, die mehr in die
Gesichter als auf die Zahlen blickt und mehr auf die Geburt von Kindern als auf
die Vermehrung der Güter achtet. Ich träume von einem Europa, das die Rechte
des Einzelnen fördert und schützt, ohne die Verpflichtungen gegenüber der
Gemeinschaft außer Acht zu lassen. Ich träume von einem Europa, von dem man
nicht sagen kann, dass sein Einsatz für die Menschenrechte an letzter Stelle
seiner Visionen stand.
Quelle: (www. http://de.radiovaticana.va/news/2016/05/06/die_papst-ansprache_im_wortlaut_was_ist_mit_dir_los,_europa/1227938)
[1] Ansprache
an das Europäische Parlament, Straßburg, 25. November 2015.
[2] Ebd.
[3] Erklärung am 9. Mai 1950 im Salon de l’Horloge, Quai d’Orsay, Paris.
[4] Ebd.
[5] Vgl. Rede auf der Europäischen Parlamentarischen Konferenz, Paris, 21.
April 1954.
[6] Ansprache auf dem Deutschen Handwerkertag, Düsseldorf, 27. April 1952.
[7] Ansprache beim Welttreffen der Volksbewegungen, Santa Cruz de la Sierra, 9.
Juli 2015.
[8] Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate (29. Juni 2009), 32: AAS 101
(2009), 666.
[9] Ansprache beim Welttreffen der Volksbewegungen, Santa Cruz de la Sierra, 9.
Juli 2015.
[10] Ansprache an den Europarat, Straßburg, 25. November 2014.