Kapitalismus: Finanzkapitalismus -Die neuen Mächtigen
Interview von Jens Berger
mit Werner Rügemer am 25.12.2016
Während Regierungen und Leitmedien seit der
Finanzkrise das Theater aufführen, eine umfassende Bankenkontrolle und
-regulierung stünde unmittelbar bevor, bauen die Eliten ihre Macht aus und
modernisieren sie. Die „neuen Mächtigen“ werden nicht reguliert, ihr Handeln
organisiert sich über keine Bank. Dennoch bedrohen sie Demokratie, Sozialstaat,
Arbeitsverhältnisse und Lebenssicherheit. Doch um wen handelt es sich? Und wie
steht es um den von Georg Schramm konstatierten Krieg „Geld gegen Staaten“?
Zu diesen Fragen sprach Jens Wernicke mit dem
Autor und Publizisten Werner Rügemer, der mit seinem neuen Buch eine Art „Geschichtsschreibung von unten“ vorgelegt
hat, die die Unterdrückungsverhältnisse hinter dem Nebel der alltäglichen
Propaganda wieder sichtbar macht.
Herr Rügemer, die Macht der global tätigen Finanzakteure scheint beständig
zu wachsen. Der Kabarettist Georg Schramm konstatierte schon vor einiger Zeit
in einem seiner bekanntesten Auftritte einen Krieg „Geld gegen Staaten“. Von was für einem
Krieg reden wir hier? Wer führt Krieg gegen wen und was genau?
Schramm bezog sich im Jahre 2010 auf den bekannten
Ausspruch eines der reichsten Männer der Welt, des US-amerikanischen
Firmenspekulanten Warren Buffett: „Wir, die herrschende Klasse, führen weltweit
Krieg gegen die abhängige Klasse, und wir sind endgültig dabei zu gewinnen.“
Nach der Finanzkrise hatten die bankrotten Banken die Regierungen der
westlichen Staaten erfolgreich zu teuren Rettungsmaßnahmen gezwungen. Nicht nur
in Griechenland, Irland und Zypern wurden Banken mit Steuergeld gerettet,
sondern auch in den reichsten und mächtigsten Staaten: in den USA, Deutschland,
Großbritannien und so weiter. Schramm bilanzierte das damals drei Jahre nach
Ausbruch der Finanzkrise mit der hübschen Formulierung: „Jetzt hat die deutsche
Bundeskanzlerin den Tagesbefehl ausgegeben: Wir müssen das Vertrauen der
Finanzmärkte wiedergewinnen!“
Damit hat Schramm das unterwürfige Verhalten der
Bundeskanzlerin doch richtig beschrieben, oder nicht?
Doch, er hat das Verhalten dieser mächtigsten
Duckmäuserin der westlichen Wertegemeinschaft sehr gut erfasst, auch angesichts
ihrer vorherigen Klage „Ich möchte nie mehr in die Situation kommen, mich von
den Finanzmärkten erpressen zu lassen.“ Sie ließ sich dann bekanntlich aber
doch erpressen und verkündete populistisch wie nationalistisch, es gehe allen,
zumindest in Deutschland, nach wie vor gut. Wobei wir nicht wissen, ob es sich
tatsächlich um eine Erpressung handelt oder um überzeugtes oder einfach nur
getriebenes Verhalten. Oder um Demagogie und Populismus. Wahrscheinlich eine
Mischung aus allem.
Also treffen Buffetts Bemerkung und Schramms Analyse
auch heute noch zu? Das Kapital greift – vermittelt über „die Finanzmärkte“ –
Nationalstaaten und also auch nationale Souveränität an?
Das tut es, ja, aber Buffett meinte die ganze Breite
des Klassenkampfes. Denn nicht nur Staaten werden erpresst oder besiegt,
sondern auch schwächere Unternehmen, Beschäftigte, Arbeitslose, Rentner,
Bürger.
Buffett selbst etwa ist mit seiner Holding Berkshire
Hathaway dabei, weltweit in schneller Folge spekulativ Firmen und
Firmenanteile zu kaufen und zu verkaufen. Die Aktien sollen möglichst hohe
Dividenden bringen. Die sind umso höher, je billiger und rechtloser die
beschäftigten und dann auch entlassenen Mitarbeiter sind, je mehr die
jeweiligen Staaten den Unternehmen Steuervorteile und Steuerschlupflöcher
gewähren und je weniger Rücksicht auf die Umwelt genommen wird.
Investoren wie Buffett beeinflussen das Verhalten von
Bürgermeistern, Abgeordneten und von Regierungen. Er trägt mit seinen
Gewinnstrategien dazu bei, die Gegenseite – sprich Aufsichtsbehörden und
Gewerkschaften – zu schwächen und möglichst auszuschalten. Das ist bekanntlich die Entwicklung, die von den Politikern der
sogenannten Volksparteien und all der ungewählten Verantwortlichen immer noch
beschönigend als Globalisierung bezeichnet wird.
Buffett hat damals eine einfache Tatsache ausgesprochen,
die von den Populisten und Nationalisten unterschiedlicher Couleur wie Merkel,
Schäuble, Gabriel, Juncker, Schulz, Hollande, Renzi, Rajoy oder auch Donald
Trump und Hillary Clinton zu vernebeln versucht wird: Die Finanzmächtigen
bilden, auch ohne sich untereinander genau absprechen müssen, eine
gesellschaftliche Klasse, national und international, die eine ungleich höhere
Macht und Gestaltungskraft erreicht hat als der Rest der Bevölkerungen.
Gut, das wäre ja nichts Neues. In einem aktuellen
Artikel sprechen Sie nun aber statt von „Casino-Kapitalismus“ von „BlackRock-Kapitalismus“? Warum dieser neue Begriff? Was
meint das genau?
Der Begriff „Casino-Kapitalismus“ war mir immer zu
harmlos. Er meint, dass die Finanzakteure mit ihren riesigen Geldbeträgen
untereinander spielen, wetten, sich dafür gegenseitig Kredite geben und dann
notfalls nach der staatlichen Rettung schreien. Seit der Finanzkrise wird in
den USA und in der EU ein politisch-mediales Theater aufgeführt: Wie stark oder
auch nicht so stark müssen die Banken neu reguliert werden, damit es nicht
wieder zu so einer Krise kommt? Wie hoch soll das Eigenkapital sein? Das ist nicht
nur deshalb reiner Theaterdonner, weil selbst die bisher weitestgehenden
Regulierungen eine zukünftige Bankenkrise nicht verhindern würden. Vor allem
wird durch diesen Popanz fast völlig verdeckt, dass vor, mit und nach der
Finanzkrise ganz andere Finanzakteure mächtig geworden sind, also eine immense
Machtverschiebung stattgefunden hat.
Die neuen Akteure gelten dabei nicht
als Banken und werden auch nicht reguliert. Das meine ich mit
BlackRock-Kapitalismus.
Also bitte, jetzt mal genauer!
„BlackRock-Kapitalismus“ ist ein feuilletonistischer
und verkürzter, kein analytischer Begriff. Konkret kann man nach meiner
Kenntnis vier Gruppen von neuen Finanzakteuren unterscheiden: Erstens die heute
größten Kapitalorganisatoren, an deren Spitze nach dem Umfang des
verwalteten Kapitals und des wirtschaftlichen und politischen Einflusses eben
der größte Vermögensverwalter der Welt steht, BlackRock. Zweitens, sozusagen eine Etage darunter, die Private Equity-Investoren, volkstümlich „Heuschrecken“ oder „Geierfonds“ genannt; zu ihnen kann man auch die
Hedgefonds rechnen. Drittens die neuen Unternehmen der großen
Internet-Plattformen wie Google und Facebook. Und schließlich
viertens die neuen Großkonzerne der sogenannten Share Economy – am bekanntesten ist hier das inzwischen größte Taxiunternehmen der Welt,
Uber.
Können Sie das bitte konkreter ausführen: Inwiefern
bedrohen die Akteure Ihrer vier Gruppen aktuell gerade konkret Demokratie,
Lebensstandards und anderes? Fangen wir doch mit den „Kapitalorganisatoren“ an.
Gut, dann gleich am Beispiel BlackRock selbst – auf
Deutsch „schwarzer Fels“. Denn dieser ist gegenwärtig der größte Organisator
kapitalistischen Eigentums in der westlichen Welt. Das verwaltete Vermögen
beträgt 5 Billionen US-Dollar. Das sind etwa 15mal mehr als der Haushalt der
Bundesrepublik Deutschland.
BlackRock hat als Hedgefonds
begonnen, ist keine Bank und unterliegt damit nicht der
staatlichen Bankenregulierung. Kapitalorganisatoren dieser Art verwalten
das Geld anderer Leute: von anonym bleibenden High Net Worth Individuals
(flüssiges, sofort anlegbares Kapital ab fünf Millionen US-Dollar),
Unternehmensclans, Unternehmens-Stiftungen, Pensionskassen, von Unternehmen und
auch traditionellen Banken.
Dieses Kapital hat BlackRock unter anderem in etwa 300
der 500 wichtigsten Aktiengesellschaften des westlichen Kapitalismus angelegt.
In Deutschland ist BlackRock Großaktionär in allen 30 DAX-Konzernen von
Adidas über Allianz, BASF, Bayer, Commerzbank, Deutsche Bank, Deutsche Post,
Deutsche Telekom, Eon, Lufthansa, HeidelbergCement, Linde, Pro7 Sat1,
Die FAZ ist im August 2016 ein bisschen aufgewacht und
stellte erstaunt fest:
„BlackRock ist der größte Anteilseigner zum Beispiel
der Deutschen Bank, der niederländischen
Überall drängen BlackRock und dutzende gleichartiger
Investoren auf Gewinnsteigerung und Kostensenkung. Ein beliebtes Mittel
dafür sind Unternehmens-Fusionen. BlackRock drängt auf die Fusion von
Deutscher Bank und Commerzbank ! Blackrock ist bei beiden Miteigentümer.
Gegenwärtig organisieren BlackRock & Co. die Übernahme des
US-Agrarchemiekonzerns Monsanto durch den Chemiekonzern Bayer.
Das ist deshalb besonders einfach, weil BlackRock und
State Street und Sun Life Hauptaktionäre nicht nur bei Bayer sind, sondern
gleichzeitig auch bei Monsanto. Abbau von
Arbeitsplätzen, Auslagerung und Verkauf von Unternehmensteilen gehören zum
Handwerkszeug. BlackRock, State Street und Sun Life wollen dabei nicht etwa die
schädlichen Praktiken dieser beiden Agrar- und Giftkonzerne einschränken,
sondern die damit verbundenen Gewinne weiter steigern.
Zum Gewinn trägt auch bei, dass die Aktienpakete
dieser Investoren über zwei Dutzend Finanzoasen verteilt sind. BlackRock
selbst hat seinen operativen Hauptsitz in New York, seinen rechtlichen
Sitz aber in der größten Unternehmens-Finanzoase der Welt, im US-Bundesstaat
Delaware. BlackRock & Co. organisieren auch neue schwarze Löcher des
internationalen Finanzsystems: In dark pools wird ein wachsender Teil
der außerbörslichen Aktiengeschäfte und die gegenseitige Kreditvergabe von
Unternehmen und Banken abgewickelt.
BlackRock & Co. haben auch schnell politischen
Einfluss gesucht und bekommen. US-Präsident Barack Obama wie die deutsche
Bundeskanzlerin ließen sich wieder erpressen oder spielten einfach mit. Nach
der Finanzkrise beauftragte Obama
BlackRock mit der Sanierung bzw. Abwicklung der bankrotten Banken
und Versicherungen in den USA. Damit wurde BlackRock-Chef Laurence Fink zum
mächtigsten Mann der Wall Street.
Was die US-Regierung macht, muss auch für die EU gut sein: Die Troika aus
Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und IWF beauftragte
BlackRock, die Risikoanalysen für die Bankenrettungen in Irland, Griechenland,
Großbritannien und Zypern zu erstellen. Gleichzeitig mit der Troika war die
BlackRock-Truppe unter Tarnung als Projekt Solar in Athen und unter dem
Decknamen Claire in Zypern. Öffentliches Eigentum wird verscherbelt,
Löhne, Arbeitslosengeld u. Sozialleistungen werden gesenkt, Armut wird
bewusst hergestellt! Übrigens: nirgends
wurden die Ausgaben für das Militär und die NATO gekürzt, auch nicht in
Griechenland, wo das Militärbudget pro Kopf sowieso schon weit über dem
EU-Durchschnitt liegt. BlackRock berät die Europäische Zentralbank EZB, die
nichts zur wirtschaftlichen Gesundung beiträgt, sondern die Finanzspekulation
befördert.
BlackRock holte sich in den US-Aufsichtsrat Cheryl
Mills, die Stabschefin der damaligen Außenministerin Hillary Clinton. Als
Europachef holte man sich den Präsidenten der Schweizer Nationalbank, Philipp
Hildebrand. Als Deutschland-Chef holte man sich jetzt Friedrich Merz, der als
CDU-Politiker Sozialleistungen kürzen und die Mitbestimmung einschränken wollte – bei BlackRock fühlt er sich jetzt wohl.
Und wie sieht es in der Etage darunter aus, bei den
„Heuschrecken“?
BlackRock, der schwarze Fels, ist mithilfe von
Blackstone, dem schwarzen Stein entstanden. Blackstone agiert ähnlich wie
BlackRock, aber eine Nummer kleiner. BlackRock & Co. sind Miteigentümer der
großen Aktiengesellschaften, während Blackstone
& Co. sich in nicht börsennotierte, lukrative Mittelstandsfirmen
einkaufen. Neben Blackstone sind bekannte bzw. unbekannte Namen solcher
„Heuschrecken“ etwa Palmira, KKR, Carlyle, Cinven.
Die bisherigen Familieneigentümer werden ausbezahlt,
die Manager werden durch kleine Aktienpakete zu neuen Miteigentümern. Die
Investoren bürden den gekauften Firmen die Kredite auf, die dann aus den
Gewinnen abbezahlt werden müssen. Dafür werden die Firmen, wie es heißt, „umstrukturiert“,
profitabel gemacht: Betriebsteile werden stillgelegt oder weiterverkauft oder
ins Ausland verlagert, Arbeitsplätze werden abgebaut.
Das rief zu Beginn der 2000er Jahre, als diese Praxis
auch in Deutschland losging – befördert durch Bundeskanzler Gerhard Schröders
„Agenda 2010“ – kurzzeitig heftige Kritik hervor. Der damalige Arbeitsminister
Franz Müntefering, der 2004 die Bezeichnung „Heuschrecken“ populär machte,
wurde allerdings schnell zum Schweigen gebracht. Ich habe das damals mitgekriegt,
weil sein Büro bei mir anrief, ob ich bei einer Konferenz zu den „Heuschrecken“
mitmachen würde – die Konferenz fand nie statt.
Die Leitmedien berichten seitdem manchmal über
erfolgte Aufkäufe, aber nicht über die Folgen. Selbst wenn es um tausende Arbeitsplätze
und erpresserische Methoden der neuen Eigentümer geht, erscheinen jetzt wie
beim bekannten Küchengerätehersteller WMF in Baden-Württemberg und beim
Autozulieferer
Dem „lukrativen Beuteschema“, wie es im Handelsblatt
heißt, wurden allein in Deutschland in
den letzten Jahren still und leise 5.900 Firmen unterworfen. Landes- und
Bundesregierungen und die Europäische Kommission und die sogenannten
Volksparteien kümmern sich darum nicht.
Als dritte Abteilung nannten Sie die großen
Internet-Plattformen wie Google und Facebook.
Okay, nehmen wir die dritte und die vierte Abteilung
zusammen, auch weil sie durch die digitalen Technologien eng miteinander
verwandt sind.
Im Laufe des letzten Jahrzehnts haben ein Dutzend
US-Konzerne die Führung der westlichen Internet-Ökonomie
übernommen. An der Spitze der digitalen Plattformen stehen bekanntlich Apple,
Google/Alphabet, Microsoft, Facebook und Amazon. Sie betreiben und
kontrollieren die zentralen Knotenpunkte des Internets und dringen in immer
mehr Geschäftsfelder ein. Gewerkschaften und Betriebsräte gelten als Feinde,
jedenfalls, wenn sie auf der Einhaltung menschenrechtlich orientierter
Arbeitsbedingungen bestehen. Man umschmeichelt die Menschen als Konsumenten,
aber degradiert die Menschen als Arbeitende. Man späht die Menschen in beiden
Rollen aus und verwertet ihre informationellen Innereien. Diese Konzerne
unterliegen als Unternehmen mit Hauptsitz in den USA den Auflagen aus dem Patriot
Act und aus den Vorschriften für den Kampf gegen den internationalen
Terrorismus, legen dies aber den Kunden nicht offen.
Ebenso befinden sich die neuen, internetbasierten
Unternehmen der Share Economy wie Uber, Airbnb, Parship/Elite Partners,
Upwork, TaskRabbit, Netflix, Spotify, Lyft und Flixbus mehrheitlich in der Hand von US-Investoren wie Goldman Sachs,
Vereinzelt leisten etwa Taxifahrer in US- und
europäischen Großstädten Widerstand; Stadtverwaltungen wie in New York,
Amsterdam und Barcelona versuchen die Zweckentfremdung von Wohnraum
einzuschränken. Staatsanwälte in Kopenhagen ermitteln gegen Uber
wegen Beihilfe zu illegalen Taxifahrten. Im französischen Parlament kümmert
sich ein Ausschuss um die verbreitete Steuerhinterziehung.
Eine ganz andere Schädigung ruft die neue Social Media-Ökonomie hervor. Schon
seit Jahrzehnten fördert und organisiert die neoliberal ausgerichtete
Wirtschaft und Politik die Vereinzelung und den Egoismus der Menschen, in
ihren verschiedenen Rollen als abhängig Beschäftigte, Arbeitslose, Konsumenten
und Mediennutzer. Hier steht bekanntlich Facebook an der Spitze. Facebook
& Co. fördern ein menschliches Verhalten, das von individualistischen
Sofort-Reaktionen auf extrem verkürzte Emotionsimpulse geprägt ist.
Diese massenhafte Verhaltenssteuerung wird zwar auch
mitvollzogen wegen des spontan gern
geglaubten Versprechens für mehr individuelle Freiheit, ist aber hochgradig
automatisiert.
Es blendet die gesellschaftlichen Zusammenhänge aus. Es schafft illusionäre Räume eines besseren,
schöneren, leichteren, ja paradieshaften und konfliktfreien Lebens, das aber
gleichzeitig ausgespäht, gesteuert und unbemerkt verwertet wird. Und es
tendiert zu politisch eher antidemokratischen Formen und wird zu diesem Zweck
auch eingesetzt.
Welchen Zusammenhang zwischen dem Schaffen der alten
und neuen „Finanzmächtigen“ und den immer schlimmer werdenden Entwicklungen um
„neue Unterschicht“, „modernen Sklavenhandel“ und bspw. der Entrechtung und Verelendung der Massen vermittels Hartz IV sehen Sie?
Die alten Finanzmächtigen, die Banken, wurden nicht
entmachtet, und mit und nach der Finanzkrise konnten sich die neuen
Finanzmächtigen und ihre neuen Praktiken ungehindert ausbreiten. Bisherige,
vergleichsweise sichere, jedenfalls irgendwie regulierte Arbeitsverhältnisse
werden aufgelöst und sollen noch weiter aufgelöst werden.
Das beginnt vergleichsweise harmlos bei den
hochkontrollierten, gehetzten Niedriglöhnern
bei Amazon und geht zu den
Taxifahrern, die keinerlei Arbeitsverhältnis zum Konzern Uber haben, sondern
alle Risiken ganz alleine tragen müssen. Die sich ausbreitenden
Arbeitsverhältnisse niedrigeren Ranges wie Teilzeit, befristete Arbeit,
Leiharbeit und Werkvertrag sind ja noch irgendwie halbwegs gesetzlich
reguliert, bedeutet aber auch schon verrechtlichtes Unrecht, bedeutet unsichere
und auch verzweifelte Lebensverhältnisse.
Aber was ist das gegen das wachsende Millionenheer der Freelancer, die im Medienbetrieb sich
prostituieren, um eine Ein-Minuten-Sendung, ein Foto, einen bedeutungslosen
Lokalbericht unterzubringen? Um im gnadenlosen, anonymen Wettbewerb der
Cloudworker mal einen Projektvertrag zu schnappen?
Jährlich können es sich die sogenannten Arbeitgeber
erlauben, allein in Deutschland ihren
Beschäftigten mindestens eine Milliarde unbezahlte Überstunden abzupressen
– das stellt einen Wert von etwa 40 Milliarden Euro dar. Die 40 Milliarden
fehlen unten und sind noch ein weiteres Geschenk für die da oben, die sowieso
im Geld schwimmen. Wobei diese eine Milliarde unbezahlte Überstunden – sie
werden auch in der offiziellen Statistik erfasst – umgeben sind von der
Dunkelziffer der gar nicht dokumentierten Überstunden.
Finanzminister Schäuble hat durch eine Verordnung die
Dokumentationspflicht von Überstunden für bestimmte Mindestlohn-Bereiche
abgeschafft, wegen „zuviel Bürokratie“. Und in der offiziellen Zahl sind auch
gar nicht die Überstunden erfasst, die in akademischen Berufen der Anwälte,
Wirtschaftsprüfer, Unternehmensberater, Betriebswirte bei täglich abgeforderten
zehn bis elf Arbeitsstunden geleistet werden, die teils allerdings irgendwie
freiwillig geleistet werden, weil man aufsteigen oder sich zumindest halten
will und weil die Arbeit zumindest kurzfristig auch Spaß macht.
Wenn BlackRock & Co und Schäuble gleichzeitig
immer weiter die Litanei herbeten, die EU müsse noch „wettbewerbsfähiger“
werden, dann meint das in Wirklichkeit: Solange
die abhängige Arbeit bei uns nicht so billig ist wie in China, solange sind wir
– „wir“! – nicht am Ziel. Wobei, nebenbei gesagt, die Arbeitseinkommen
nirgends so schnell und kontinuierlich steigen wie in China, weshalb westliche
Firmen inzwischen verzweifelt neue
Billiglohngebiete etwa in Myanmar und Vietnam suchen.
Da hat die herrschende Klasse also auch schon vor den
„Freihandels“-Abkommen TTIP und
Die Rede von uns, den 99, und ihnen, dem einen
Prozent, ist hier zwar eingängig, dürfte aber arg beschönigend sein. In
Wahrheit eskaliert die Lage bei schätzungsweise dem Verhältnis: Menschheit
gegen einige tausend neuer Mächtiger weltweit.
So einfach ist es nicht! Kein König regiert allein,
obwohl es vielleicht so scheint oder von Kirche oder Medien inszeniert wird.
Die herrschende Klasse hat ebenfalls ihr Oben und Unten und auch noch ihre
Mitte und alle sind bei Gefahr des Untergangs miteinander in einer
Schicksalsgemeinschaft verbunden, ob sie das wollen oder nicht.
Über das oberste 0,001 Prozent der obersten Etage weiß
die Bevölkerung heute weniger als die analphabetischen Untergebenen des dunklen
Mittelalters. Millionen von mittleren und kleineren Unternehmern und ihr
Führungspersonal tragen die herrschende Ordnung mit und profitieren mit.
Und vergegenwärtigen Sie sich: Allein die „Big
Four“ der sogenannten Wirtschaftsprüfer, also die Konzerne Price Waterhouse
Coopers, Ernst & Young, KPMG und Deloitte haben zusammen 873.000
Mitarbeiter, meist hochbezahlte Profis der „renommiertesten“ Universitäten.
Übrigens verdienen diese sogenannten Prüfer
gleichzeitig auch als Steuerberater der geprüften Unternehmen, das heißt, bei
der Vermittlung von Briefkastenfirmen. Und nehmen Sie die
Unternehmensberater, PR-Berater, Wirtschaftsanwälte, Manager dazu. Und zu
diesen Hilfstruppen und mitprofitierenden Milieus gehören noch viele andere –
den Medien- und Unterhaltungsbetrieb noch gar nicht eingerechnet.
Was bedeutet das nun alles in Summe für uns, für
unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen, für „unser“ Land?
Wir, die vielleicht 90 Prozent, müssen uns
eingestehen, dass wir auch hier in der Defensive sind. Wir müssen die neuen
Konfliktfelder erkunden. Gleichzeitig bekomme ich mit, dass es viel mehr
vereinzelte Widerstandsaktionen und Alternativvorstellungen gibt als die
sogenannte Öffentlichkeit und die meisten Aktiven selbst wissen. Die
herrschenden Klassen des westlichen Kapitalismus haben eine epochal geringe
Zustimmung wie schon lange nicht mehr. Allerdings
sind sie sehr erfahren dabei, zu herrschen, zu spalten, zu erpressen und
irrezuführen. Da hilft nur eine alte Weisheit, die aber in ganz
neuer Form und Dringlichkeit aktuell ist: Organisation und Widerstand!
Quelle:
http://www.nachdenkseiten.de/?p=36414#more-36414
Werner Rügemer (Dr. phil.),
interventionistischer Philosoph. Er ist u.a. Mitbegründer von aktion gegen
arbeitsunrecht (arbeitsunrecht.de) und Gemeingut in BürgerInnenhand (gemeingut.org). Soeben erschien von ihm „Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet.
Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Geschichte und Kultur“ im Papyrossa-Verlag.