KAPITALISMUS BLEIBT
KAPITALISMUS
Oder: wie die westlichen Alliierten nach
dem 2. Weltkrieg gegen die UdSSR kämpfen wollten
Eine Parallele zu heute
Das
falsche Schwein?
von Dietrich Kittner
Vor
mir auf dem Schreibtisch liegen zwei Papiere. Einmal eine im stern erschienene Reportage, die höchst
eindrucksvoll schildert, wie derzeit, Monate nach dem offiziellen Ende des
Afghanistankriegs, deutsche Soldaten im Hindukusch unter strengster
Geheimhaltung Schulter an Schulter mit ihren US-amerikanischen Kameraden sich
blutige Gefechte Mann gegen Mann – töten oder getötet werden – mit den Taliban
liefern.
Daneben
liegt ein Truppenausweis aus dem Nachlass meines Vaters: »Dr. Ernst Kittner;
Dienstgrad: Stabsarzt; Waffengattung: Heer; Soldbuchnummer: 82.« Ausgestellt
ist das Papier im Oktober 1945.
Ja, im
Oktober fünfundvierzig. Im Januar 1945 hatte meine Mutter mit uns Kindern von
Schlesien »fortgemacht«, und nachendlosen Güterzugreisen über Prag, Österreich,
Bayern und einem längeren Aufenthalt im berüchtigten hannoverschen
Bahnhofsbunker waren wir Rucksackgesindel schließlich als mehr oder minder
zähneknirschend geduldete Einquartierung auf einem Bauernhof in der Nähe von Bremen
gelandet. Zu essen gab es nicht viel, aber wenigstens hatten wir eine
Dachkammer mit Kanonenofen, und ich Zehnjähriger durfte sogar für ein paar
Monate in der Kreisstadt Syke wieder zur Schule gehen. Die dort täglich neu an
die Tafel geschriebene Klassenstärke pendelte, wie ich
mich
genau erinnere, zwischen 72 und 78.
Der
Klassenlehrer, Herr H., war, wie man munkelte, »frisch aus dem Kazett
gekommen«. Darüber erzählte er jedoch nichts, sondern las uns – wohl in Ermangelung
altersangemessener Literatur – aus Gottfried Kellers »Zürcher Novellen« vor und
brachte es dabei tatsächlich fertig, dass die aus »Einheimischen« und
Flüchtlingskindern bunt zusammengewürfelte Horde mucksmäuschenstill lauschte.
(Der Gefreite Ruckstuhl ist seit damals für mich jedenfalls ein feststehender
literarischer Begriff.)
Eines
Morgens stellte sich uns statt seiner überraschend eine neue Klassenlehrerin
vor: Herr H.komme nicht mehr. Später ließ sie nebenbei fallen, H. sei Kommunist
gewesen. Wir wussten zwar nicht so recht, was wir uns unter einem Kommunisten
vorzustellen hatten, aber irgendwie schwang in ihrer Stimme etwas mit, das uns
gruseln ließ.
Im
Januar oder Februar erhielt meine Mutter über den Suchdienst des Roten Kreuzes
die Mitteilung, unser Vater, von dem wir zuletzt aus Ostpreußen gehört hatten,
habe sich wohlbehalten aus Prisdorf bei Kummerfeld in der Nähe von Hamburg
gemeldet, und bald kam auch eine Postkarte, auf der er schrieb, leider sei es
ihm unmöglich, zu uns zu kommen, wir jedoch dürften ihn gern besuchen, für
Quartier und Verpflegung wäre gesorgt.Nach den damals nötigen umständlichen
Reisevorbereitungen war es endlich soweit: Meine Mutter und ich besaßen
Fahrkarten (hin und zurück!) nach Kummerfeld, einem Dorf an der Bahnstrecke nach
Elmshorn. Dort auf dem tiefverschneiten Bahnsteig erwartete uns Vater – zu
meiner Überraschung in voller Wehrmachtsuniform: langer Mantel, Mütze mit
Kokarde, umgeschnallt die Waffe in der Pistolentasche – so, wie er während des
Kriegs immer auf Urlaub gekommen war. Nur das Hakenkreuz in den Klauen des
»Hoheitsadlers« war herausgepolkt.
»Der
Wagen wartet schon,« sagte Vater, »und bringt Euch ins Quartier.«
Auf
der Straße stand tatsächlich mit laufendem Motor ein ziviler DKW. Der Fahrer in
makellosem Feldgrau stieg aus, salutierte, öffnete dienstfertig die Türen und
ließ uns einsteigen. Im Anfahren sagte Vater vom Beifahrersitz her: »Ich muss
aber vorher noch schnell beim Stab vorbeischauen.« Wir hielten vor dem
niedrigen Dorfgasthof. Ein Posten an der Tür, ebenfalls in Uniform, nahm Haltung
an. Hier war also tatsächlich »der Stab«. Drinnen in der überheizten Gaststube
stöpselten Unteroffiziere vor Klappenschränken Verbindungen. Ordonnanzen kamen,
gingen, grüßten je nach Rang schneidig oder lässig. Hier herrschte Betrieb, und
zwar militärischer. Weil selbst ich nun wirklich genau wusste, dass der Krieg
vorbei und die deutsche Wehrmacht aufgelöst war, starrte ich ungläubig auf die
drei oder vier Pistolentaschen, die samt dazugehörigen Koppeln an einem Kleiderständer
hingen. »Natürlich sind nur die Offiziere bewaffnet,« klärte mich der Vater
auf, »die Waffen der Mannschaften sind eingelagert.«
Am
Abend saßen wir dann »im Quartier«, einem Bauernhof in der Nähe, mit der
Wirtsfamilie um den Abendbrottisch. Es gab Milchsuppe und Bratkartoffeln. Ich
kann mich genau daran erinnern, denn die mit mir gleichaltrige Bauerntochter
hatte Ziegenpeter, konnte deshalb nicht kauen, und ich durfte so zu meinem
unsäglichen Glück ihre Kartoffelportion zusätzlich verdrücken.
»Nun
geht es wohl bald weiter, gegen die Russen?« sagte irgendwann später die
Bäuerin. »Ja«, antwortete mein Vater, »mit den Engländern zusammen.«
Erst
viel später habe ich erfahren, dass tatsächlich noch bis spät ins Jahr 1946
hinein in der sogenannten Zone F, die sich von Flensburg bis kurz vor Hamburg
erstreckte, eine strukturell völlig intakte deutsche Armee stand, Gewehr bei
Fuß, bzw. Waffen »eingelagert«.
Infolgedessen
ist der Truppenausweis meines Vaters vom October 1945, der volle
Bewegungsfreiheit
im Bereich des 8. CORPS DISTRICTS der britischen Besatzungsarmee gewährte, auch
vom Hauptquartier der 159.&nbps;Infantery Brigade ausgestellt und
zweisprachiggehalten. Rank: CPT DOCTOR; Service: army; Personal
Number: 82. Bescheinigt
wird mit all dem die Zugehörigkeit zum Frozen Personnel, was auf der Rückseite in
deutsch korrekt mit »Eingefrorenes Personal« übersetzt wird. So bildhaft hat
man es auch später selten vernommen.
Weiß
der Henker, warum mir diese alte Geschichte heute wieder einfällt, während
unsere tapferen Jungs streng geheim am Hindukusch kämpfen.
Mein
Vater ist 1996 gestorben. Als ich den Truppenausweis im Nachlass fand, konnte
noch niemand an eine deutsche Kriegsbeteiligung in Jugoslawien, geschweige denn
in Afghanistan denken. –
Oder
gerade eben doch?
Stramm
rechts gerichtete Mitbürger erkennt man häufig am Gebrauch eines angeblich aus
dem Jahr 1945 stammenden Churchill-Zitat: »Wir haben das falsche Schwein
geschlachtet.« Seit Deutschland wieder gleichberechtigt in die Gemeinschaft
kriegführender Nationen aufgenommen ist, schwingt in diesen Worten regelmäßig
und unüberhörbar ein triumphierender Unterton mit.
Anmerkung:
Heute ist „das falsche Schwein“ wieder – ganz vorne – mit dabei: „The Germans
to the Front“. Als bundesdeutsche Piloten im von A bis Z völkerrechtswidrigen
Krieg in Jugoslawien Krankenhäuser, Schulen, Altenheime, Zigaretten- und
Autofabriken, Brücken und antifaschistische Denkmäler bombardierten da trugen
die „deutschen Helden“ an der Heldenhühnerbrust keine Nationalitätskennzeichen.
Selbst an den Mordwerkzeugen waren diese übermalt – für den Fall, dass der
„deutsche Held“ abgeschossen wird. Wg. Wiedererkennenswert. Schließlich war das
Balkenkreuz schon mal über Belgrad. Heute hat die Kriegsministerin von der
Leichen derartige kleinliche Bedenken nicht mehr. Wenn wieder deutsche Panzer
in der Ukraine rollen, dann ohne „Überklebungen“. Schließlich sollen die
ukrainischen faschistischen Hiwis wissen: WIR SIND WIEDER DA!“ Auch wg.
„Wiedererkennenswert“. So wandeln sich die Zeiten. Nur eines nicht: der
mperialismus. Sei es der US-Amerikanische, der Britische, oder – der deutsche:
Wer
wissen will, wie es weiter geht: Dietrich Kittner verrät es uns in seinem
hinreißenden Couplet „In die weite Welt hinein!“ Übrigens: eine Ehrung als
Prophet hätte Dietrich Kittner abgelehnt. Dashat nichts mit „Prophetie“ zu tun,
das ist logisches Denken.
Quelle:
http://www.sopos.org/aufsaetze/3d2f0287b3db6/1.phtml