Linkes Wunschdenken

Aus der Führungsriege der Partei Die Linke stammt ein Papier mit dem Titel »Für eine solidarische Zukunft nach Corona«. Darin zeigt sich eine oberflächliche Krisenanalyse und erstaunliche Regierungsversessenheit
»Die Linke sollte bei den künftigen Bundestagswahlen offensiv das Ziel eines Politik- und Regierungswechsels vertreten« (Katja Kipping, Bernd Riexinger, Jörg Schindler, Harald Wolf)

Von Volker Külow und Ekkehard Lieberam

Wir leben offenbar in einer Zeitenwende hin zu einem krachend einstürzenden Kapitalismus. Im Zeichen von Corona, der verordneten Stilllegung großer Teile der Wirtschaft, eines laut GfK-Konsumklima-Index historisch beispiellosen Einbruchs des Konsumklimas von geschätzt minus 23,1 Punkten im Mai 2020 sowie einer angesichts des weltweit angehäuften Börsenwertes von 82,5 Billionen Dollar (2017) entstehenden gigantischen Spekulationsblase gewinnt die sich schon seit 2019 ankündigende 26. zyklische Überproduktionskrise in der Wirtschaftsgeschichte des Kapitalismus¹ bzw. die zweite Weltwirtschaftskrise im 21. Jahrhundert an Tempo und Größe.

Vermutlich stehen wir dabei ganz am Anfang einer mehrere Jahre andauernden ökonomischen, sozialen und politischen Großkrise des Kapitalismus mit einer Reihe von Besonderheiten. Die Talsohle des wirtschaftlichen Niedergangs ist noch längst nicht erreicht. Die Dynamik dieser »Reinigungskrise« wird sich erst noch entfalten. Das Platzen der Spekulationsblasen des Kasinokapitalismus, die erst einmal um acht Billionen Dollar neue Staatsschulden vergrößert worden sind, steht wahrscheinlich bald bevor. Der enorme Ausfall von Staatseinnahmen wird den Spielraum der staatlichen Konfliktregulierung in den Bereichen des Sozialen und Politischen schon mittelfristig deutlich einengen. Denn die verstärkten staatlichen Interventionen sind kein Ende des Neoliberalismus. Mehr Arbeitslosigkeit, Armut, soziale Unsicherheiten und soziale Ungleichheit sowie dagegen gerichtete Abwehr- und Verteilungskämpfe sind voraussehbar.

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Auszug:
(…)

Reale Gefahren kleingeredet
Ein erstes Problem des Strategiepapiers der vier Mitglieder des Parteivorstandes ist die Oberflächlichkeit der Analyse der gegenwärtigen Krisensituation sowie der derzeitigen machtpolitischen Gegebenheiten in der Bundesrepublik. Die Prämissen der Orientierung auf einen Regierungskurs des »linken Lagers«, kombiniert mit »Druck von unten« stimmen vorne und hinten nicht.

Die Aussagen zur Krise selbst beschränken sich auf wenige Worte. Es gibt weder den Versuch einer historischen Einordnung noch der Skizzierung ihrer besonderen Merkmale über ihren Zusammenhang mit der Coronakrise hinaus. Es fehlt der für linke Politiker unabdingbare Ansatz, diese Krise und ihren voraussichtlichen Verlauf unter dem Aspekt der Bewegungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise zu untersuchen und zu bewerten. Die Autoren des Papiers folgen stattdessen offenbar der gegenwärtig herrschenden naiven Meinung, es sei eine »V-Krise« und diese politisch unter Kontrolle. Sie werde das auch weiterhin sein. Man müsse sie nur mit staatlichen Geldern (Subventionen, Rettungsschirme usw.) in Höhe von vielen Billionen Euro oder Dollar zuschütten, dann werde sie alsbald nach »Corona«, schon im nächsten Jahr, wieder verschwunden sein.

Nicht widersprochen wird der Illusion, der Staat und dessen Politik bewältigen das alles. Die offensichtlich sehr ernste Gefahr, dass die Krise auf den Finanzsektor überspringt, dieser sie nicht mehr abzufangen vermag, Versicherungen, Banken und Betriebe massenhaft pleitegehen, es eben zum »krachenden Kapitalismus« (Franz Mehring) kommt, wird überhaupt nicht thematisiert. Die kapitalistische Wirtschaft erscheint als ein Fahrzeug, dessen Motor infolge äußerer Einflüsse gedrosselt ist, aber auch stottert, das aber dann wieder in Fahrt kommen wird, wenn der Motorschaden behoben ist.

Ähnlich naiv verhält es sich mit der Sicht auf die machtpolitischen Verhältnisse der Bundesrepublik. Der Bewertung der Krise im Sinne des »Mainstreams« folgt die Übernahme des herrschenden Politik- und Demokratiebegriffs. Wie die tägliche Propaganda in der Bundesrepublik es suggeriert, geht es dabei um die »Herrschaft des Volkes« als politische Realität. Gesprochen wird im Strategiepapier von der »geballte(n) Macht der großen Konzerne« gegen die man den »linken Green New Deal«, die »sozial-ökologische Transformation« durchsetzen müsse. Damit hat es sich dann aber auch. Denn zugleich wird diese Macht in der »demokratischen Republik« eben nicht, wie von Lenin definiert, als »denkbar beste politische Hülle des Kapitalismus« angesehen, von der das Kapital »Besitz ergriffen hat«.⁷ Die »Hülle« wird für das Eigentliche genommen: »Gesetze werden durch Parlamentsmehrheiten verändert.«

Voraussetzung sei, dass »aus der Gesellschaft Druck kommt«. Ein wunderschönes Konzept! Leider war es bisher nirgendwo durchsetzbar, weder in den dreißiger Jahren in Frankreich und Spanien, noch unter François Mitterrand 1981 in Frankreich oder unter Alexis Tsipras 2015 in Griechenland. Aktuell bestehen nirgendwo in Europa die im Strategiepapier herbeiphantasierten Verhältnisse gesellschaftlichen Drucks. Ganz im Gegenteil. Druck erfahren die Herrschenden vielmehr von einem Teil ihrer rechten Verfügungsreserve (Salvini, Le Pen usw.) Dies entspricht auch vollauf der Kapitalkrise und betrifft den gesamten europäischen Süden/Südosten. Es besteht also eine ernste Gefahrensituation, keine Transformationschance.

Ähnlich verhält es sich mit dem angeblichen »Zukunftspfad« zu einem »sozial-ökologischen« Umbruch oder Systemwechsel, von dem vor allem die Gruppe um Dieter Klein in der Linkspartei seit Jahren immer wieder »erzählt«. Den Pfad gibt es real nicht. Er ist Teil des linken Wunschdenkens. Ein solcher »Pfad« bedarf völlig anderer gesellschaftlicher und machtpolitischer Verhältnisse. Eine Linke, die sich in »Regierungsverantwortung« einbinden lässt, wird zu solchen Verhältnissen nicht beitragen können. Sie wird vielmehr blockieren. Und, wenn sie tatsächlich im Bund an die Regierung kommen sollte, wird man sie abschieben, wenn sie den Herrschenden im Wege ist.

Ein zweites Problem des Strategiepapiers besteht darin, dass es die Sicht auf das baldige Ende des sozialen und politischen Manövrierens in der Politik der Regierenden verdeckt. Das Papier gibt somit auch keine taugliche Handlungsorientierung für den Kampf gegen die über kurz oder lang einsetzende Abwälzung der Krisenlasten auf die Werktätigen. Einmal wird kurz von »zeitgemäße(r) Klassenpolitik« gesprochen. Aber das war es dann schon. Eine Definition von »zeitgemäß« unterbleibt.

Aufgaben der Linken
Es bedarf einer neuen Qualität der politischen und gewerkschaftlichen Organisiertheit und geistig-kulturellen Gegenwehr, um demnächst in der Krise die verschärften Angriffe der Herrschenden auf die sozialen und politischen Rechte der Lohnabhängigen abzuwehren. Im Strategiepapier sind die AfD und die heraufziehende rechte Gefahr seltsamerweise kein ernsthaftes Thema. Aber die Linken müssen sich gerade auch darauf einstellen, dass die Herrschenden in absehbarer Zeit verstärkt zu einer Politik der harten Hand übergehen und zu autoritären Formen der Herrschaft greifen. Das Bemühen, mit reaktionären und faschistischen Massenbewegungen größeren Rückhalt in der breiten Bevölkerung zu finden, wird in der Krise stärker werden. Davon, ob es gelingt, dem eine Bewegung für die Verteidigung und den Ausbau sozialer und demokratischer Rechte, einschließlich der Forderung nach einem »sozial-ökologischen Umbruch« entgegenzusetzen, wird abhängen, ob die Linke ihrer politischen Verantwortung in der Krise gerecht werden kann.

In dem Strategiepapier wird dazu aufgerufen »für Friedenspolitik« zu kämpfen. Wie aber soll das geschehen, wenn man diejenigen, die zum Kriege treiben, nicht deutlich genug beim Namen nennt. Weder von Imperialismus noch von der verhängnisvollen Rolle der USA als aggressive Macht und Einpeitscher einer neuen Rüstungseskalation ist in zureichendem Maße die Rede. Es heißt stattdessen seltsam unscharf in einer Zwischenüberschrift »Hegemoniekämpfe erhöhen die Kriegsgefahr«. Angesichts der militärpolitischen Einbindung der BRD in die NATO geht es längst um die Arbeitsteilung bei den Vorbereitungen auf einen großen Krieg gegen China/Russland, wie zuletzt »Defender 2020« dokumentierte. Hier triumphieren die großdeutsch-atlantischen Kapitalinteressen über die politische Raison d’être à la Gerhard Schröder. Das ist mehr als eine vieldeutige »Kriegsgefahr«. Wir befinden uns in einer Phase des wirtschaftlich flankierten Truppenaufmarschs, und die aktuelle Kapitalkrise verleiht dieser Phase einen weiteren Schub – so wie das auch zu Zeiten der Großen Depression war.

Wir stimmen der Redaktion der Zeitschrift Z völlig zu, wenn sie in der aktuellen Ausgabe nüchtern feststellt, dass es die linken Kräfte in den letzten Jahren nicht vermocht haben, »die Hegemoniekrise des Neoliberalismus für eine Stärkung progressiver Positionen zu nutzen«.⁸ Demzufolge blieb die gesellschaftliche Linke auch in der Coronakrise weitgehend »blass und ohne klares Profil. Das Spektrum ihrer Positionen reichte von Träumen über das Ende des Neoliberalismus bis hin zum staatsmännischen Ja zum Krisenmanagement.« Insbesondere die Partei Die Linke hat sich im Illusionstheater des »täuschenden Scheins« (Karl Marx) fest eingerichtet. Sie verwechselt permanent die Machtfrage mit der Regierungsfrage. Gepflegt werden die Trugbilder vom »linken Lager« und der »politischen Gestaltung in Regierungsverantwortung«. Ihre politische Handlungsorientierung folgt damit Wunschvorstellungen, die unweigerlich in die Sackgasse der Anpassung und politischen Zähmung führen.

Im Mittelpunkt der Strategie der Linkspartei muss der Aufbau von politischer, gewerkschaftlicher und geistig-kultureller Gegenmacht stehen.⁹ Politische Gestaltung von links hat nur eine Chance auf Erfolg, wenn sie durch Mobilisierung im Kampf erreicht, dass die arbeitenden Klassen selbst die politische Bühne betreten. Dabei gehört es zu einer realistischen Sicht auf die derzeitigen Klassenkräfteverhältnisse, dass es ohne die gesellschaftliche Kraft eines revolutionären Durchbruchs weder einen wirklichen politischen Richtungswechsel noch die Öffnung des Weges für einen neuen Sozialismus geben wird.

Die Aufgabe einer linken Partei muss es sein, Politik für die subalternen Klassen sowie mit allen anderen Schichten zu machen, die täglich um ihr Überleben oder ihren wenigen Wohlstand hart zu kämpfen haben. Für diese Priorität in den Metropolen zu werben und die urbane Mittelschicht als hilfreiche Bündnispartner zu gewinnen – das sind Voraussetzungen, um eine geistig-kulturelle Gegenmacht aufzubauen. Dabei ist die Funktion als »Kümmererpartei« unverzichtbar.

Angesichts der auch in der Coronakrise stabilen Kapitalherrschaft brauchen die Lohnabhängigen eine kämpferische sozialistische Partei. Eine Partei, die diese Bezeichnung wirklich verdient, steht nicht nur in Opposition zu den Regierenden, sondern zum Kapitalismus und der herrschenden Klasse sowie zur Zerstörung von Natur und Umwelt durch die gegenwärtige Wirtschaftsordnung. Sie klagt den US-Imperialismus und die NATO der Kriegstreiberei gegen die Russische Föderation und die Volksrepublik China an. Sie stellt in den politischen Kämpfen die Eigentums-, Macht- und Systemfrage.

Ergebnis einer linken Strategiedebatte muss die Ausarbeitung eines Konzepts »revolutionärer Realpolitik« (Rosa Luxemburg) sein. Zu den Eckpunkten eines solchen Konzepts zählen die Aufklärung über die gesellschaftlichen und politischen Zustände, die Massenmobilisierung für substantielle Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen der arbeitenden Klassen, das Ausschöpfen des demokratischen Potentials von Oppositionspolitik, der jeweils spezifische Kampf um soziale und politische Verbesserungen in der Kommunal-, Landes- und Bundespolitik sowie nicht zuletzt der Bruch mit der Politik des Brückenschlags zu den Regierenden.