Was will die Hamas wirklich?
von Gideon Levy* in Frankfurter Allgemeine 31.07.2014
Die Mittel der Hamas
sind brutal und kriminell. Doch ihre Forderungen sind zivil und wären zu
erfüllen. Und die bittere Wahrheit ist: Wenn von Gaza aus keine Raketen auf
Israel geschossen werden, kümmert sich hier niemand um sie. Ein Gastbeitrag von
Gideon Levy, Autor der israelischen Zeitung "Haaretz".
Nach all dem, was wir über
die Hamas sagen müssen – sie ist fundamentalistisch; sie ist undemokratisch;
sie ist grausam; sie erkennt Israel nicht an; sie versteckt Munition in Schulen
und Krankenhäusern; sie handelt nicht, um die Menschen im Gaza-Streifen zu
beschützen – nach all dem, was wir zu Recht sagen, sollten wir für einen Moment
innehalten und der Hamas zuhören. Es möge uns für einen Moment erlaubt sein,
sich in sie hineinzuversetzen, ja vielleicht sogar den Wagemut und die
Widerstandskraft zu würdigen von diesem, unserem bittersten Feind. Doch Israel
zieht es vor, die Ohren vor den Forderungen der anderen Seite zu verschließen,
selbst wenn diese Forderungen richtig sind und langfristig den Interessen des
Staates Israels entsprechen. Israel zieht es vor, die Hamas gnadenlos zu
bekämpfen, und das nur aus Rache. Dieses Mal ist es besonders deutlich: Israel
sagt, es wolle die Hamas nicht stürzen – denn auch Israel weiß, dass es dann
ein zweites Somalia vor seinen Toren hätte. Doch die Regierung will sich auf
keinen Fall die Forderungen der Hamas anhören. Sind die denn alle „Tiere“? Gut,
nehmen wir das einmal an. Das ändert jedoch nichts daran, dass sie bleiben
werden, wo sie sind. Warum hören wir ihnen dann nicht zu?
In der vergangenen Woche
wurden im Namen der Hamas und des Islamischen Dschihad zehn Bedingungen für
einen zehnjährigen Waffenstillstand veröffentlicht. Wir mögen daran zweifeln, ob das wirklich die
Bedingungen dieser Organisationen sind, aber sie taugen als faire Grundlage für
eine Verständigung. Nicht eine einzige von ihnen ist haltlos. Die Hamas und der
Islamische Dschihad fordern Freiheit für den Gaza-Streifen. Es gibt wohl keine
Forderung, dieverständlicher und berechtigter ist. Wenn wir das nicht
akzeptieren, werden wir nicht den gegenwärtigen Zyklus der Gewalt durchbrechen,
und in einigen Monaten wird alles so weitergehen wie bisher. Keine
Militäroperation, ob zu Lande, zu Wasser oder in der Luft, kann eine Lösung
bringen. Nur eine grundsätzliche Haltungsänderung gegenüber Gaza kann bewirken,
was jedermann doch will: Frieden. Also lesen wir die Liste der Bedingungen und
urteilen ehrlich, ob es eine ungerechtfertigte Forderung gibt. Sie lauten im
Einzelnen: Die israelische Armee soll aus dem Gaza-Streifen abziehen und den
palästinensischen Bauern erlauben, ihr Land bis an den Grenzzaun zu Israel zu
nutzen. Die Palästinenser sollen wieder freigelassen werden, die erst im
Austausch für den israelischen Soldaten Gilat Schalit freikamen und dann bald
danach wieder inhaftiert wurden. Die Belagerung muss beendet und die Grenze
wieder geöffnet werden; ebenso der Hafen und der internationale Flughafen unter
UN-Kontrolle. Die Grenzemuss wieder
geöffnet werden; ebenso der Hafen und der internationale Flughafen unter
UN-Kontrolle. Die Fischereizone muss erweitert, der Grenzübergang in Rafah
international überwacht werden. Israel soll eine zehnjährige Waffenruhe zusagen
und eine Schließung des Luftraums über dem Gaza-Streifen für israelische
Flugzeugeakzeptieren. Einwohner des Gaza-Streifens erhalten die Erlaubnis, nach
Jerusalem zu reisen, um dort an der Al-Aksa- Moschee zu beten. Israel möge sich
nicht in die palästinensische Innenpolitik einmischen, zumal mit Blick auf die Einheitsregierung
von Hamas und Fatah. Und zu guter Letzt soll Gazas Industriezone eröffnet
werden. Diese Bedingungen sind zivil; die Mittel, mit denen sie derzeit
erreicht werden sollen, sind militärisch, brutal und kriminell. Doch die
bittere Wahrheit ist: Wenn von Gaza aus keine Raketen auf Israel geschossen
werden, kümmert sich hier niemand um sie. Schauen wir uns nur an, wie es jenem
palästinensischen Führer ergeht, der endlich genug hatte von der Gewalt. Israel
hat alles getan, um Mahmud Abbas zu zerstören. Die deprimierende
Schlussfolgerung daraus? Nur Gewalt hilft.
Der gegenwärtige Krieg ist
ein Krieg, für den wir uns bewusst entschieden haben. Sicher, nachdem die Hamas
ihre Raketen auf Israel abgeschossen hatte, musste Israel reagieren. Doch
anders, als es uns die Regierungspropaganda glauben machen will, sind diese
Raketen nicht aus heiterem Himmel auf uns niedergegangen.
Blicken wir ein paar Monate
zurück: Israel lässt die Friedensverhandlungen mit den Palästinensern
scheitern; nach der Ermordung von drei israelischen Talmud-Studenten geht das
Militär auf der Suche nach den Tätern äußerst brutal im Westjordanland vor.
Obwohl es zweifelhaft ist, dass die Hamas für die Morde verantwortlich
zeichnet, nahm Israel über 500 palästinensische Aktivisten fest, stoppte die
Zahlungen für Hamas-Mitarbeiter in Gaza und lehnte die Einheitsregierung
komplett ab. Wer denkt, all das steckten die Palästinenser einfach weg, muss
arrogant, wohlgefällig und blind sein. Im Gaza-Streifen ist eine erschreckend
große Menge an Blut vergossen wurden – und in geringerem Maß auch in Israel. Es
ist umsonst vergossen worden.
Die Hamas ist von Israel
niedergeschlagen und von Ägypten erniedrigt worden. Die einzig realistische
Lösung ist allerdings genau das Gegenteil von dem, was Israel gerade tut. Wie
wäre es mit einem offenen Hafen in Gaza, um die vorzüglichen Erdbeeren von dort
zu exportierten? In israelischen Ohren klingt das wie Ketzerei. Hier zieht man
wieder einmal palästinensisches Blut den palästinensischen Erdbeeren vor.
*Gideon Levy ist Autor der israelischen Zeitung „Haaretz“, in der
auch dieser Text erschienen ist (Übersetzung: Daniel Haufler). Wegen seiner Kritik
an der israelischen Offensive im Gazastreifen sah sich Levy heftigen
Beschimpfungen und Drohungen ausgesetzt. Während eines Fernsehinterviews, das
vor einem Einkaufszentrum geführt wurde, sei er „fast
gelyncht“ worden,
berichtete Levy.
Quelle: http://www.fr-online.de/meinung/nahost-konflikt-was-will-die-hamas-wirklich-,1472602,27905952.html
Frankfurter Rundschau