Studienreise in das besetzte Palästina (Westjordanland) Oktober 2012
Ellen und Martin Breidert
Schon am ersten Morgen unserer
Reise sahen wir in Ramallah, wo wir für vier Tage untergebracht waren, ein Bild,
das ein Symbol ist für die Verhältnisse, unter denen die Menschen im
Westjordanland leben: eine Stadt mit Häusern, Kirche und Moschee, auf der
linken Seite des Bildes eine überdimensionale Frauengestalt mit ausgestrecktem
Arm, der weit in das Bild reicht. In der Hand hält sie einen großen Schlüssel. Der Schlüssel ist ein zentrales Symbol für
alle Palästinenser, die ihre Heimat verloren haben und damit zugleich
alles, was sie besessen hatten. Entweder weil sie flüchten mussten, oder weil
ihre Häuser zerstört wurden. Die allermeisten haben einen großen Wunsch,
nämlich ein Zuhause zu haben, eine Heimat, wo sie in Frieden leben und arbeiten
können ohne Bedrohung und Unterdrückung, ohne eingesperrt zu sein, ohne
tägliche Schikanen und Gewalt. Das große Bild war angebracht an einer Hauswand
in Ramallah, am Tamarin-Institut (restauriert mit Hilfe der schwedischen
Organisation SIDA), das versucht, mit psychosozialer Arbeit Gruppen von Kindern
und Jugendlichen zu helfen.
Zurzeit leben 1,5 Millionen
Palästinenser im Gazastreifen 2,5 Millionen im Westjordanland. Als Israel 1948
als Staat anerkannt wurde, mussten 700.000 flüchten, Einwohner aus 11 Städten
und 531 kleineren Dörfern wurden vertrieben. Beim Sechs-Tage-Krieg 1967 mussten
weitere 300.000 flüchten. Man rechnet heute weltweit mit etwa 5,5 Millionen
palästinensischen Flüchtlingen,
200.000 davon leben in Amerika und 200.000 bis 300.000 in Europa, die meisten
jedoch in den Nachbarländern Jordanien, Libanon, Syrien und weitere in den
boomenden Golfstaaten.
Unsere Studienreise war
organisiert von der Zeitung taz (Die
Tageszeitung) in Zusammenarbeit mit Biblische
Reisen und medico international.
In Palästina trafen wir Vertreter verschiedener israelischer und
palästinensischer Nichtregierungsorganisationen, die uns einen guten Einblick
in die gegenwärtige Situation geben konnten. Wir hatten engagierte und
ausgezeichnete Gesprächspartner.
In Ramallah besuchten wir den
Fotografen und Künstler Majdi Hadid in seinem Atelier. Er arbeitet für die UN-Organisation OCHA (Office
for the Coordination of Humanitarian Affairs) und stellt
aktuelle Landkarten her über mobile und stationäre Militärcheckpoints in den
besetzten Gebieten, über abgesperrte Straßen, über den Verlauf der Mauer und
dem Sperrzaun, verglichen mit der Grenze von 1967, eine Dokumentierung der
vielen Stellen, wo das Westjordanland von Ostjerusalem abgeschnitten wird (vor
allem, wenn das unlängst angekündigte Siedlungsprojekt E1 verwirklicht werden
sollte), Brunnen, die zerstört oder von israelischen Siedlern beschlagnahmt
wurden, Häuser, die zerstört wurden. Außerdem erstellte Majdi Hadid eine
Landkarte über die Siedlungen, die wie Pilze aus dem Boden schießen, besonders
um Jerusalem, aber auch überall sonst auf fast jedem zweiten Hügel im ganzen
Westjordanland. Er hat uns auch eine Karte gezeigt, die die Aufteilung in A-, B- und C-Gebiete
zeigt. Die A-Gebiete (11 %) stehen unter palästinensischer Autonomieverwaltung.
Dazu gehören größere Städte wie Ramallah, Bethlehem, Jericho, Nablus, Jenin,
Tulkarem und Qalqilya, Hebron nur teilweise. B-Gebiete (19 %) sind kleinere
Orte mit israelischer Polizei und israelischem Militär, während die übrige Verwaltung
palästinensisch ist. C-Gebiete (70 %!!) sind vollständig unter israelischer
Militärverwaltung, die offiziell jedoch sinnigerweise als Zivilverwaltung
bezeichnet wird. In diesen C-Gebieten werden keine Baugenehmigungen erteilt,
die Straßen werden nicht instand gehalten, für den öffentlichen Sektor und die
Infrastruktur wird nichts getan. In Gebieten, die als militärische Übungsgebiete
oder als Naturreservate ausgewiesen sind, wird jedes Bauen, und sei es nur ein
Hühnerstall oder eine Solaranlage, verboten, und jegliche Landwirtschaft ist
dort illegal. Hadid nannte zahlreiche Beispiele dafür, dass Palästinensern Wasser-
und Stromversorgung abgeschnitten wurde, besonders im Jordantal und in der
Gegend von Hebron. Er berichtete auch von Planungen, das israelische
Siedlungsgebiet um Jerusalem auszuweiten (in den letzten Wochen wurde darüber
international eine heftige Diskussion geführt). Da das Gebiet im Jordantal nur
eingeschränkt für Palästinenser zugänglich ist, wird dies praktisch eine
Aufteilung des Westjordanlandes in einen südlichen und einen nördlichen Teil
bedeuten. Die Bewohner von Bethlehem, das südlich von Jerusalem liegt, werden
dann einen Umweg fast bis Jericho machen, um nach Ramallah zu fahren. Majdi
Hadid erzählte uns, dass er nur mit einer speziellen Genehmigung seinen
Schwiegervater besuchen konnte, der in Ostjerusalem, 12 km südlich von Ramallah
wohnt.
Majdi Hadid, der in Kanada aufgewachsen
ist, kam als 19-jähriger nach Palästina. Sein Großvater hatte Palästina
verlassen. Gefragt, ob er glaube, ob es für ihn selbst und seine Familie in
Palästina eine Zukunft gebe, sagte er: „Eine
politische Lösung kann ich im Augenblick nicht sehen. Aber wir haben Zeit, sehr
viel Zeit. Wenn ich keine Zukunft hier habe, dann doch vielleicht meine
Kinder oder deren Kinder.“ Nach diesem Vortrag und nach dem, was wir in den
folgenden Tagen mit eigenen Augen sahen, waren wir schnell überzeugt, dass die
von der internationalen Diplomatie favorisierte Zwei-Staaten-Lösung keine wirkliche Möglichkeit mehr ist. Es wurden
schon zu viele Siedlungen in den letzten Jahren gebaut. Inzwischen wohnen
mindestens 500.000 israelische Siedler
im Westjordanland.
Mit dem Deutsch-Kanadier Luke MacBain von medico international besuchten wir Jiftlik im Jordantal. Früher hatte
dieses Gebiet zusammen mit mehreren kleinen Dörfern 35.000 Einwohner, jetzt
sind es nur noch 2.000. Das Gebiet gehört zur C-Zone und wurde zum
militärischen Übungsgelände erklärt („firing
area“), d.h. wenn Tiere oder gar Menschen erschossen werden, sind sie
selbst schuld. Baugenehmigungen gibt es nicht – die Israelis wollen, dass die
Palästinenser wegziehen. Trotzdem hat medico
international einen Kindergarten dort gebaut - illegal, denn eine andere
Möglichkeit gibt es nicht. Die 45 Kinder kommen also täglich in der „firing
aerea“ zusammen – verrückte Welt. Obwohl die Eltern recht viel für ihre Kinder
bezahlen müssen, schicken sie diese gerne in den Kindergarten.
Im Jordantal hat das
israelische Militär Felder der Palästinenser entschädigungslos beschlagnahmt,
um sie dann israelischen Siedlern zu geben. Einige Palästinenser arbeiten jetzt
als Tagelöhner auf ihren früheren Feldern, andere dürfen die Felder noch
bewirtschaften, die ihnen bisher gehörten, aber nun müssen sie bis zu 70 % der
Ernte an die israelischen Siedler abführen – schlimmer als im Mittelalter.
Im Jordantal sahen
wir große Flächen mit Gewächshäusern. Künstliche Bewässerung ist überall
notwendig. Jedoch kann man so dreimal im Jahr ernten. Die Palästinenser sind
gezwungen, ihr Obst und Gemüse von den Israelis zu kaufen, denn das Wasser ist
für sie meist zu teuer, um selbst Gemüse anzupflanzen.
Die
palästinensischen Bauern mussten erleben, dass ihre Viehställe, die mit Hilfe von
medico international und damit auch
mit deutschen Steuergeldern gebaut worden waren, von israelischen Bulldozern
platt gemacht wurden und dabei auch die Tiere zu Tode kamen.
Oft hindern israelische Siedler die
Palästinenser daran, auf ihren Feldern zu arbeiten, das geschieht besonders während der Olivenernte.
Freiwillige aus Europa und Amerika begleiten sie, um die Missachtung des
internationalen Völkerrechts zu dokumentieren. Die palästinensische Bevölkerung
kann kaum den notwendigen Bedarf an Wasser decken. Wir sahen ein Brunnenhaus,
an dem das Schild einer schwedischen Hilfsorganisation prangte. Die Rohre vor
dem Brunnenhaus rosten vor sich hin, denn die
Militärverwaltung erlaubt den Palästinensern nur Brunnen bis zu 35 Metern Tiefe,
während die Israelis bis zu 150 Meter tief bohren dürfen. Dazu kommt, dass
die Palästinenser im Durchschnitt das Dreifache
für das Wasser bezahlen wie die Israelis, aber nur ein Fünftel der Menge zugeteilt
bekommen, die den Israelis zur Verfügung steht. All diese Schikanen haben mit
dem Sicherheitsbedürfnis der Israelis nicht das Geringste zu tun.
Wir besuchten auch Bil’in, einen Ort mit 3.000
Einwohnern, der nördlich von Jerusalem liegt. Der Bau der Mauer führte dazu, dass
die Bauern nicht mehr zu ihren Olivenhainen gelangen konnten. Der Bürgermeister
organisierte an jedem Freitag phantasievolle Demonstrationen unter
internationaler Beteiligung. Eine Klage vor dem Obersten israelischen
Gerichtshof führte dazu, dass die Gemeinde wenigstens einen Teil ihres Landes
zurückerhielt. Bürgermeister Abdullah Abu–Rahma versteht es, das Interesse der
internationalen Öffentlichkeit zu wecken und die elektronischen Medien zu nutzen.
Im letzten Jahr verbrachte er allerdings 10 Monate in einem israelischen Gefängnis.
Wiederholte Male wurden er und seine Familie Opfer der nächtlichen Razzien
israelischer Soldaten. Die gewaltsam aufgebrochenen Türen konnten wir besichtigen.
Wir wanderten mit Abdullah Abu –Rahma durch die Olivenhaine und sahen jenseits
der Mauer die neu errichtete israelische Siedlung mit 30.000 Einwohnern - auf den früheren Feldern der Gemeinde
Bil’in. Wir gingen zwischen zwei Stacheldrahtzäunen, die entlang der Mauer
führen. Der Bürgermeister forderte uns auf, uns zu beeilen, ehe die
Soldaten von der anderen Seite kommen würden. Überall lagen Tränengaspatronen,
und es stank fürchterlich von übel riechenden Chemikalien, die das Militär den
Wasserwerfern beifügt. Nach einem solchen Angriff muss man sich tagelang
waschen und kann seine Kleider wegwerfen. Zwei Wochen nach unserem Besuch
wurden bei Bil’in mehrere friedliche Demonstranten, darunter auch einige
Ausländer, von israelischen Soldaten durch gummiummantelte Stahlkugeln
verletzt. Am selben Abend, als alle Demonstranten wieder in Bil’in zu Hause
waren, kamen die Soldaten in das Dorf und schossen mit Tränengas. Besonders die
Kinder leiden darunter. Mehrere Einwohner wurden festgenommen.
An einem anderen
Tag wollten wir auf dem Weg zu dem Flüchtlingslager in Jenin die antike Stätte
Sebastya besuchen, das biblische Samaria.
Plötzlich war die Straße durch große Felsbrocken und Erdhaufen blockiert.
Außerdem sperrten die Soldaten die meisten Straßen an diesem Tag .Aus
Sicherheitsgründen! Denn die Israelis feierten das Laubhüttenfest. Zuletzt
fanden wir einen holprigen Feldweg zu den Ruinen. Die israelischen Einwohner
kamen mit vielen Bussen, um mit ihren Familien und ihren Kindern jeden Alters
zu feiern.
Für die Kinder
spielte man in den Ruinen ausgerechnet die biblische
Geschichte von Naboths Weinberg (1. Könige 21). Weil Naboth seinen Weinberg
nicht freiwillig an den israelischen König Ahab verkaufen wollte, ließ dessen
Frau Isebel einen betrügerischen Prozess inszenieren, so dass Naboth gesteinigt
wurde. Doch der Prophet Elia tritt dem König entgegen und sagt ihm unmissverständlich,
dass das Gesetz auch für den König gilt. Die Erzählung, die für die Kinder
gespielt wurde, war ein Spiegel der israelischen Besatzungs- und
Enteignungspolitik. Hatten die
israelischen Siedler verstanden, was sie da für ihre Kinder spielten? Das
Ganze kam uns ziemlich absurd vor.
Zwei Nächte
verbrachten wir privat bei einer griechisch-orthodoxen
Palästinenserfamilie in Bet Sahour, einem Vorort von Bethlehem. Von ihrem
Balkon aus sahen wir die israelische Siedlung Har Homar, wo 30.000 Einwohner
leben. Wir sahen die Mauer und die Siedlerstraße. Unser Gastgeber zeigte auf
sein Haus jenseits der Mauer, das ihm entschädigungslos weggenommen worden war.
In den
Sommermonaten können die Palästinenser manchmal nur an zwei Tagen im Monat
Wasser zapfen, wie sie uns erzählten. Deshalb haben überall die Häuser der
Palästinenser einen schwarzen Tank auf dem Dach. Dieser Tank wird bei fehlendem
Leitungswasser von einem Tanklastwagen gefüllt - zu einem noch höheren Preis
als das Leitungswasser.
Samer Kokaly, unser Gastgeber, hatte in
dieser Woche viermal Touristen durch Hebron geführt. Er sagte zu uns: „Ich kann
nicht mehr.“ Später am Abend erzählte er uns, dass ein fanatischer israelischer
Siedler in Hebron ihn angegriffen und gesagt hatte: „Erzähl nicht so schlechte
Dinge über uns!“ Wir sahen die Verletzungen an Samers Arm. Er verlor für einen
Augenblick die Beherrschung und gab dem Siedler eine Ohrfeige. Hätte ein Soldat
oder Polizist ihn dabei beobachtet, wäre er sofort im Gefängnis gelandet. Doch
er fürchtet ein Strafverfahren gegen sich. Nervös raucht er eine Zigarette nach
der anderen. Er sagt zu uns, er wolle am
liebsten auswandern, wie seine zwei Brüder in die USA. Er sehe für sich und
seine vier Töchter in Palästina keine Zukunft mehr. Schließlich spricht er
sogar davon, dass er sich scheiden lassen will, weil seien Frau aus familiären
Gründen nicht auswandern will. „Ich bin psychisch krank. Alle Palästinenser
sind inzwischen psychisch krank.“ Am
besten geht es noch denen, die die täglichen Frustrationen und Demütigungen in
aktive Arbeit für eine bessere Zukunft umsetzen können.
Eine von ihnen ist
Faten Mukarker. Hier verbrachten wir
einen unvergesslichen Tag in Bethlehem.
Sie wuchs in Köln und Bonn auf, weil ihr Vater als Drucker für das auswärtige
Amt arabische Texte druckte. Stolz zeigte sie uns die Geburtskirche in
Bethlehem und sagte: „Das ist unsere Kirche. Hier wurde meine Tochter getraut.“
Neben der Geburtskirche
stehen die Katharinenkirche und ein Kloster. Während der Intifada im Jahr 2000
hatten 200 Menschen hier für 40 Tage Zuflucht gesucht. Drei überlebten nicht.
Wir sahen am Kreuzgang noch die vielen Einschusslöcher. Damals mussten in und
um Bethlehem viele Familien in den Kellern verbringen.
In Beit Jala bei Bethlehem
besuchen wir die Evangelisch-lutherische Schule Talitha Kumi („Mädchen, steh auf!“). Sie wurde von
Kaiserswerther Diakaonissen gegründet und wird jetzt von der Berliner Mission
unterstützt. Es ist eine der besten Schulen in Palästina. Ihre Schulabgänger
finden leicht eine Anstellung. Die Besten eines jeden Jahrgangs bekommen ein
Stipendium, um in Palästina oder in Deutschland zu studieren. Aber nicht einmal
hier, wo eine deutsche Schulleiterin ist, hat die palästinensische
Autonomieverwaltung Hebräischunterricht zugelassen, wie auch umgekehrt
israelische Kinder an israelischen Schulen nicht Arabisch lernen. Der Graben
scheint unüberbrückbar zu sein.
Der Schule angeschlossen ist ein
pädagogisches Umweltzentrum. Das Umweltbewusstsein wächst auch im
Westjordanland, aber die Menschen haben so viele ökonomische Probleme, dass sie
sich kaum um die Bewahrung der Umwelt kümmern können.
Das Mittagessen nehmen wir in
Faten Mukarkers Haus ein. Ihre jüngste Tochter nahm früher Ballettunterricht in
Jerusalem. Doch nach dem Mauerbau war das nicht mehr möglich. Ihre jüdische
Ballettlehrerin hatte einmal gesagt: „Es ist wichtig, dass deine Tochter lernt
zu tanzen.“ Dabei hob sie den Arm hoch und sagte: „Tanzen hat mein Leben
gerettet.“ Dabei zeigte sie auf die Nummer des Konzentrationslagers auf ihrem
Arm.
Es ist normalerweise nicht mehr möglich, dass sich Israelis und
Palästinenser des Westjordanlandes begegnen. Die meisten Israelis waren
noch nie in den besetzten Gebieten, für sie sind alle Palästinenser
Terroristen. Und die Palästinenser kennen Israelis nur als Soldaten und als
bewaffnete Siedler. Ausgenommen sind nur die Palästinenser, die für
israelischen Siedler auf den Farmen und in den Fabriken arbeiten.
Erst nach unserer Reise hörten
wir, dass am Ende des Ramadan erstmals die Reisebe-schränkungen für die
Palästinenser im Westjordanland aufgehoben worden waren.
Merkwürdig, trotz Öffnung der
Grenzen fanden an diesen fünf Tagen keine Terroranschläge statt.
Bethlehem ist von allen Seiten von der Mauer umgeben, die zum Teil bis
zu 9 Meter hoch ist. Dagegen war die Berliner Mauer ein Mäuerchen. Faten
Mukarkers Familie hatte einen Garten, der für sie ein kleines Paradies war. Als
der Bulldozer kam, um die Obstbäume und die uralten Olivenbäume auszureißen,
damit die Mauer gebaut werden konnte, leistete die Familie Widerstand. Der Mann
auf dem Bulldozer war ein Palästinenser. Sie fragten ihn: „Wie kannst du so
etwas tun?“ Seine Antwort: „Wie soll ich anders meine sieben Kinder ernähren?“
Und das bei einer Arbeitslosigkeit von über 20 % (Gazastreifen 50 %).
Wir fahren an ihrem Garten
vorbei, durch den jetzt die Mauer führt. Viele alte Olivenbäume mussten dafür
gefällt werden. Dann kommen wir an dem Don Bosco-Kloster Cremisan vorbei, die
Mauer wird nicht nur die Klosteranlage zerschneiden, sondern die Bewohner von
Beit Jala auch von ihrem Naherholungsgebiet trennen. Als Faten Mukarker einmal
an einem Checkpoint von einer barschen israelischen Soldatin schikaniert wurde,
sagte sie sagte sie zu ihr: „Was würde deine Mutter sagen, wenn sie dich jetzt
erleben würde? Hat sie dir beigebracht, so mit den Menschen umzugehen?“ Da
erwachte die Soldatin aus ihrer brutalen Routine und sagte: „Entschuldigung“. Faten
berichtet uns, katholische Priester würden oft zu ihr sagen: „Wir beten für
Sie.“ Evangelische Pfarrer dagegen fragen meist: „Was können wir für Sie tun?“
Die Palästinenser sind in vielerlei Hinsicht rechtlos. Da mag man
an die Philosophin Hannah Arendt denken,
die nach dem Zweiten Weltkrieg als
staatenlose Jüdin ohne Pass angesichts vieler sog. Displaced Persons
schrieb: Es ist das grundlegende
Menschenrecht, überhaupt Rechte geltend machen zu können.
Israel verbraucht die Ressourcen der Palästinenser an Land und Wasser.
Das Wasser des Westjordanlandes wird durch tiefe israelische Brunnen abgepumpt.
65 Brunnen wurden in den letzten zwei Jahren beschlagnahmt. 40 % der
palästinensischen Dörfer haben keine Wasserversorgung, in den C-Gebieten ist es
ihnen unmöglich, diese Situation zu verbessern.
Im Gazastreifen versalzt das Trinkwasser, weil das Grundwasser rund
um den Gazastreifen von den Israelis abgepumpt wird. Wenn sich diese
Entwicklung fortsetzt, wird der Gazastreifen in 10 bis 15 Jahren nicht mehr
bewohnbar sein.
Die fruchtbare Erde wird von
israelischen Siedlern beschlagnahmt, vor allem im fruchtbaren Jordantal.
Israels atomarer Abfall wird in
der Negevwüste in der Nähe der Atomanlage von Dimona entsorgt. Bei den
Bewohnern der nahe gelegenen palästinensischen Stadt haben überdurchschnittlich
wurden überdurchschnittlich viele Krebserkrankungen festgestellt,
Atemerkrankungen und Allergien. Die Menschen würden gern wegziehen, dürfen aber
nicht.
Abwasser und Industrieabfälle von
israelischen Siedlungen, zum Beispiel von Ariel, werden über palästinensische
Felder geleitet, so dass sie nicht mehr genutzt werden können.
Ähnlich ist es mit einer
Chemieanlage bei Tulkarem: Weht der Wind in Richtung palästinensischer
Ortschaften, dann läuft die Produktion, weht der Wind ausnahmsweise von Osten und
würde israelische Orte treffen, wird die Produktion eingestellt.
Krass war unser Besuch in der Altstadt von Hebron, wo sich 800
fanatisch-fundamentalistische israelische Siedler eingenistet haben, die von
1500 Soldaten beschützt werden. Unten verläuft die palästinensische
Basarstraße, im Obergeschoß haben sich die Siedler eingerichtet. Netze schützen
die Basarstrasse, weil die Siedler Abfall, aber auch Steine in die Basarstraße
werfen. Hier spürt man die Spannung, die durch die Besatzungs- und
Apartheidpolitik bedingt ist.
1994 hatte der jüdische Arzt Baruch Goldstein in der Moschee von Hebron
29 Muslime erschossen. In der Nähe von Hebron haben jüdische Siedler ihm
ein Denkmal errichtet, das zu einer Wallfahrtsstätte wurde. Dort wird er auf einem Grabstein gepriesen als ein
„Märtyrer“, als ein „gerechter und heiliger Mann“. Fundamentalistische
Fanatiker finden sich nicht nur auf palästinensischer Seite.
Nach einem Besuch in der am meisten
polarisierten Stadt Hebron verbrachten wir die letzten Tage in Ostjerusalem und wohnten in der Nähe
vom Damaskustor, das zur Altstadt mit dem Basar und zum Tempelbezirk führt.
Juden, Muslime und Christen der verschiedensten Konfessionen leben hier dicht
gedrängt nebeneinander, aber sie haben nur wenig gemeinsam. Zum Abschluss des
Laubhüttenfestes tanzten orthodoxe Juden auf der Straße und trugen in einer
Prozession ihre Thora-Rollen. Auch hier haben über den Basargeschäften ihre
Wohnungen draufgesetzt. Auf den Dächern sieht man israelische Fahnen, Wachtürme
und Stacheldrahtzäune. Überall sind bewaffnete Soldaten. Selbst die evangelische
Erlöserkirche musste auf dem Dachgarten einen hohen Zaun ziehen, um den Abfall
der israelischen Siedler fernzuhalten.
Angela Geofrey-Goldstein, eine Israelin, die in Südafrika aufgewachsen
ist, unternahm mit uns eine Tour in und um Ostjerusalem. Sie arbeitet für
eine Organisation (www.jahalin.org), die versucht, Palästinensern zu helfen, die
von der israelischen Behörde den Bescheid
zum Abriss ihrer Häuser bekommen haben (sehr
gut dazu der DVD-Film: „Jerusalem. The East Side Story“, engl. mit deutschem
Untertitel).
80 % der Mauer wurden auf
palästinensischem Gebiet errichtet, zu Unrecht, wie der Internationale
Gerichtshof in Den Haag 2004 in einem Gutachten feststellte, weil sie eine
Verletzung der Vierten Genfer Konvention bedeutet.
Die israelischen Siedlungen rund um Jerusalem bieten ihren
Bewohnern viele Vorteile, sie sind verhältnismäßig billig, haben eine gute
Infrastruktur und sind steuerlich begünstigt. Zehn Minuten sind es bis
Jerusalem und eine gute halbe Stunde nach Tel Aviv. Für junge Familien mit geringem
Einkommen eine bestechende Lösung. 10 - 15 % der Siedler sind fanatisch
religiös, also Fundamentalisten.
In der Siedlung Kfar Adumim hatten wir Gelegenheit, mit der Israelin Chaya Ben-Dor zu sprechen,
deren Familie aus den USA eingewandert ist. Sie sagte zu uns: „Wir wollen
getrennt von den Palästinensern leben. Sie dürfen für uns als Arbeiter und
Tagelöhner arbeiten. Dagegen haben wir nichts. Im Übrigen möchten nicht, dass
sich die Europäer einmischen, wenn es um die Palästinenser geht. Mit denen
kommen wir schon selbst zurecht.“ Wie das gemeint ist, haben wir während des
Gaza-Kriegs wieder gesehen.
Die israelischen Siedlungen sind
in der Regel von einem hohen Stacheldraht umgeben, und die Siedler tragen
Waffen. Um neue Siedlungen zu bauen, müssen die Häuser der Palästinenser
abgerissen werden, und die landwirtschaftliche Nutzfläche wird
entschädigungslos enteignet. Wir besuchten eine Schule für Nomadenkinder auf halbem Weg zwischen Jerusalem und
Jericho. Früher mussten die Kinder jeden Tag 22 km zu Fuß hinab nach Jericho
gehen, um eine Schule zu besuchen. Da die Schule im C-Gebiet liegt, ist sie
natürlich illegal und jederzeit vom Abriss bedroht. Dasselbe gilt für andere
Projekte, die von internationalen Entwicklungshilfeorganisationen finanziert werden,
zum Beispiel Solaranlagen, kleine Windkraftanlagen, Brunnen usw..
Wir besuchen auch die Siedlung Maale Adumim östlich von Jerusalem,
wo 35.000 Israelis auf palästinensischem Gebiet wohnen. Man meint, sich in
einem Urlaubsressort zu befinden: Alleen mit Palmen, Springbrunnen, Schwimmbad
und Fischteich. Der Unterschied zu den Hütten der Nomaden, denen es verboten
ist, Häuser zu bauen, ist allzu krass. Wir sahen auch das Gebiet, auf dem die
neue, international heftig umstrittene Siedlung E1 gebaut werden soll.
Gegenüber dem Ölberg liegt der soziale Brennpunkt Silwan. Um Platz für archäologische Ausgrabungen und
einen Park zu schaffen, haben die palästinensischen Bewohner Abrissverfügungen
erhalten, ohne dass man ihnen andere Wohnungen innerhalb Ostjerusalems zuweist.
Durch solche ethnischen Säuberungen soll der jüdische Anteil Jerusalems
vergrößert und der palästinensische Bevölkerungsanteil verringert werden.
In diesem umstrittenen Viertel
gehört es zum Alltag, dass Palästinenser willkürlich inhaftiert werden. Auch
Kinder, zum Teil nicht älter als sechs Jahre, wurden schon ins Gefängnis
gesetzt, ohne dass ihre Eltern informiert wurden. Erwachsene werden jahrelang
ohne Anklage und ohne Rechtsanwalt gefangen gehalten.
Die Israelin Angela Geofrey-Goldstein, die in Südafrika unter der
Apartheid aufgewachsen ist, meint, dass sie in Israel eine Apartheidpolitik
erlebt, die schlimmer ist, als sie in Südafrika war. Wir fragen sie, ob ein Boykott von Waren aus den israelischen
Siedlungen dazu beitragen könne, israelische Politik zu einer Änderung
gegenüber den Palästinensern zu bewegen. Sie sprach sich klar für einen Boykott
von Waren nicht nur aus den Siedlungen aus, sondern von israelischen Waren
überhaupt (Waren, deren Strichcode mit den Ziffern 729 beginnen). In Südafrika
hatte der Boykott zu einem guten Ergebnis geführt, und sie meint, er würde auch
in Israel wirken. Tatsächlich sprachen mehrere Israelis mit Sorge von einem
solchen Boykott, der in anderen Ländern schon sehr viel weiter geht als in
Deutschland.
Der Deutsch-Kanadier Luke McBain, selbst
mit einer Palästinenserin verheiratet, vermeidet den Begriff
„Nahostkonflikt“. Er spricht stattdessen von Besatzung und fürchtet für die
Zukunft eine „Bantustan-Lösung“,
d.h. es bleiben am Ende nur noch einige Homelands für die Palästinenser, die
kaum Bewegungsmöglichkeiten haben wie im Gaza und auch sonst kaum bürgerliche
Freiheitsrechte. Sollte das die Lösung für die „westliche Wertegemeinschaft“
und die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ sein?
In Jerusalem hatten wir
Gelegenheit, die junge und sympathische frühere
israelische Soldatin Dana Golan zu treffen. Sie ist Sprecherin der Gruppe „Breaking
the Silence“, einer
Organisation von mehr als 850 jungen Israelis, die in Interviews von den
alltäglichen entwürdigenden Unmenschlichkeiten berichten, die sie selber als
Besatzungssoldaten begangen haben. Im September hatten sie dazu eine Ausstellung
in Berlin gezeigt, die in unseren Medien große Aufmerksamkeit erzeugt hat und
im Internet besucht werden kann (http://www.medico.de/themen/menschenrechte/nahost/dokumente/virtuelle-fuehrung-durch-die-ausstellung-von-breaking-the-silence/4).
Zugleich brachten sie die Interviews auf Deutsch heraus unter dem Titel „Breaking
the Silence“. Dana Golan war als Soldatin
in Hebron eingesetzt. Bei einer nächtlichen Razzia hatte sie die Aufgabe,
eine ältere Palästinenserin durch Leibesvisitation zu demütigen. „Da kam mir
der Gedanke: Wenn diese Frau meine Großmutter wäre!“ Sie erzählte uns von den
Checkpoints und von nächtlichen Razzien, bei denen ganz bewusst Willkür
herrscht. Die Soldaten dringen nachts gegen 2 Uhr in die Häuser ein, schießen
in der Luft herum und sprühen Tränengas. Alle Bewohner werden in einem Raum
eingesperrt. Das Haus wird vermessen, nur um die Leute zu verunsichern, die
Aufzeichnungen werden später weggeworfen. Muss ein Bewohner auf die Toilette,
muss er die Soldaten zuerst um Erlaubnis bitten. Muss jemand etwas essen oder
trinken, muss er um Erlaubnis bitten. Arbeit, Schulbesuch und Einkauf sind
nicht möglich, solange die Soldaten das Haus besetzt halten. Währenddessen
benutzen diese die Vorräte des Hauses, zerstören das Inventar und hinterlassen
ein Chaos. Werden Palästinenser unterwegs angehalten, dürfen Sie nicht ihr
Handy benutzen, so weiß niemand, wo sie gerade sind. Die Soldaten haben
Anweisung, nur gegen Palästinenser vorzugehen, niemals gegen Siedler, auch wenn
diese Übergriffe an Palästinensern verüben. Die ehemaligen Soldaten, die das
alles in ihrem Buch und in der Ausstellung offen ansprechen, haben in ihren
Familien und in der israelischen Gesellschaft einiges zu ertragen.
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Dieser
Bericht ist einseitig, denn zwischen
Besatzern und Besetzten gibt es keine Ausgewogenheit. Wir hoffen immer
noch, dass Israelis und Palästinenser trotz allem, was geschehen ist, eines
Tages im Frieden, wenn nicht miteinander, dann wenigstens nebeneinander leben
können. Natürlich haben wir uns gefreut, dass Palästina mit überwältigender
Mehrheit in der UNO als Staat mit Beobachterstatus aufgenommen wurde, auch wenn
sich Deutschland nur zu einer Enthaltung durchringen konnte. Wir erleben es in
letzter Zeit, dass, wo immer wir das Schicksal der Palästinenser ansprechen,
wir sofort reflexartig des Antisemitismus bezichtigt werden – für Ellen völlig
unverständlich, denn schließlich hatte Dänemark fast alle Juden vor der
Deportation retten können. Gerade deshalb wollen wir uns für die Menschenrechte
der Palästinenser einsetzen.