Israel-Palästina>Unterschied
Antisemit und Antijude
Warum
ich kein Zionist sein kann
Offener
Brief an Emmanuel Macron
von Shlomo Sand am 11.8.2017
Als
ich begann, Ihre Rede anlässlich der Vel-d’Hiv-Massenverhaftung zu lesen, war
ich Ihnen dankbar. Angesichts der langen Tradition politischer Führer von
Links und Rechts in Vergangenheit und Gegenwart, die Frankreichs Beteiligung
und Verantwortlichkeit für die Deportation jüdischstämmiger Menschen in die
Todeslager leugnen, war ich dankbar, dass Sie stattdessen eine klare Position
bezogen, ohne Doppeldeutigkeit: Ja, Frankreich ist für die Deportation
verantwortlich, ja, es gab Antisemitismus in Frankreich vor und nach dem
Zweiten Weltkrieg. Ja, wir müssen alle Formen des Rassismus‘ bekämpfen. Ich sah
diese Positionen in der Kontinuität Ihrer mutigen Aussage in Algerien, als Sie
sagten, dass Kolonialismus ein Verbrechen gegen die Menschheit darstelle.
Aber
um ganz ehrlich zu sein. Ich war verärgert darüber, dass Sie Benjamin Netanyahu
eingeladen hatten. Er sollte zweifellos in die Kategorie der Unterdrücker
gehören, also kann er sich nicht als Vertreter der Opfer der Vergangenheit
inszenieren. Natürlich weiß ich seit langem von die Unmöglichkeit, die
Erinnerung von der Politik zu trennen. Vielleicht verfolgten Sie eine
ausgefeilte Strategie, die Sie noch enthüllen müssen und die auf einen Beitrag
zur Umsetzung eines gerechten Kompromisses im Nahen Osten abzielt?
Ich
konnte Sie nicht mehr verstehen, als Sie im Verlauf Ihrer Rede sagten, dass „Antizionismus
[…] eine wieder erfundene Form des Antisemitismus“ sei. Wollten Sie mit dieser
Aussage Ihren Gast zufriedenstellen, oder ist sie einfach nur ein Anzeichen des
Mangels politischer Kultur? Hat der ehemalige Student der Philosophie, der
Assistent Paul Ricoeurs, so wenige Geschichtsbücher gelesen, dass er nicht
weiß, dass viele Juden oder Nachkommen jüdischen Erbes immer gegen den
Zionismus waren, ohne dass sie das zu Antisemiten gemacht hat? Hier verweise
ich auf all die alten bedeutenden Rabbiner, aber auch auf die Haltung, die von
eine Richtung des gegenwärtigen orthodoxen Judentums eingenommen wird. Und ich
erinnere an Menschen wie Marek Edelman, einen der entkommenen Anführer des
Aufstands im Warschauer Ghetto, oder die Kommunisten jüdischer Herkunft, die
in der französischen Resistance in der Manouche-Gruppe, die ums Leben kamen.
Ich denke auch an meinen Freund und Lehrer Pierre Vidal-Naquet und andere
großartige Historiker und Soziologen, wie Eric Hobsbawm und Maxine Rodinson,
deren Schriften und Erinnerung mir so lieb sind, oder auch Edgar Morin. Und
letztlich frage ich mich, ob Sie ernsthaft von den Palästinensern erwarten,
dass sie keine Antizionisten sind!
Gleichwohl
vermute ich, dass Sie die Menschen auf der Linken nicht sonderlich wertschätzen,
oder vielleicht die Palästinenser. Da ich aber weiß, dass Sie in einer
Rothschild-Bank arbeiteten, will ich hier auf ein Zitat von Nathan Rothschild
verweisen. Als Präsident der Vereinigung der Synagogen in Großbritannien, war
er der erste Jude, der im Vereinigten Königreich zum Lord ernannt wurde, wo er
auch der Vorstand der Bank wurde. In einem Brief von 1903 an Theodor Herzl
schrieb der talentierte Bankier, dass er besorgt sei über den Plan, eine
„jüdische Kolonie“ zu errichten; sie „wäre wie ein Ghetto in einem Ghetto mit
all den Vorurteilen eines Ghettos“. Ein Judenstaat „wäre klein und unbedeutend,
orthodox und illiberal und würde Nicht-Juden und Christen ausschließen“. Wir
könnten schlussfolgern, dass Rotshilds Prophezeiung falsch war. Aber
eines ist sicher: Er war kein Antisemit!
Natürlich
gab es und gibt es Antizionisten, die auch Antisemiten sind, und ich bin mir
auch sicher, dass wir Antisemiten unter den Sympathisanten des Zionismus‘
finden. Ich kann Ihnen auch versichern, dass eine Reihe Zionisten Rassisten
sind, deren mentale Struktur sich nicht von der absoluter Judäophoben
unterscheidet: Sie suchen gnadenlos nach einer jüdischen
Aber
um klarzustellen, was ein antizionistischer Standpunkt ist, ist es wichtig,
sich zuerst auf eine Definition des Konzepts „Zionismus“ zu einigen oder
wenigstens auf eine Reihe seiner Charakteristiken. Ich werde versuchen, das so
kurz wie möglich zu tun.
Zuallererst
ist Zionismus nicht Judaismus. Es ist sogar eine radikale Revolte dagegen. Über
die Jahrhunderte hegten gläubige Juden eine große Begeisterung für ihr heiliges
Land, vor allem für Jerusalem. Aber sie hielten sich an die talmudische
Vorschrift, dass sie nicht kollektiv vor der Wiederkehr des Messias dorthin
emigrieren sollten.
In
der Tat gehört das Land nicht den Juden, sondern Gott. Gott gab es, und er
nahm es wieder; und er würde den Messias senden, um es wiederzubringen, wenn er
es wollte. Als sich der Zionismus zeigte, entfernte er den „Allmächtigen“ von
seinem Platz und ersetzte ihn durch den aktiven Menschen an seiner Stelle.
Wir
können geteilter Meinung darüber sein, ob das Projekt der Gründung eines
exklusiv jüdischen Staats auf einem Stück Land mit einer sehr großen arabischen
Mehrheit eine moralische Idee ist.
1917 belief sich die Bevölkerung
Palästinas auf 700.000 arabische Muslime und Christen und ungefähr 60.000
Juden, von denen die Hälfte gegen den Zionismus waren.
Bis
zu diesem Zeitpunkt bevorzugte die Mehrheit der jiddischsprachigen Menschen,
die vor den Pogromen des Russischen Reichs flohen, die Auswanderung auf den
amerikanischen Kontinent. In der Tat schafften es zwei Millionen dorthin und
entkamen so der Verfolgung durch die Nazis (und der unter dem Vichy-Regime).
1948 gab es in Palästina 650.000 Juden
und 1,3 Millionen arabische Muslime und Christen, von denen 700.000 zu
Flüchtlingen wurden.
Auf
dieser demographischen Basis wurde der Staat Israel geboren. Dennoch, und vor dem Hintergrund der Ausrottung der europäischen
Juden, kamen einige Antizionisten zu dem Schluss, dass es zur Vermeidung neuer
Tragödien am besten sei, den Staat Israel als unauslöschliche vollendete
Tatsache anzusehen. Auch ein Kind, das durch eine Vergewaltigung entstanden
ist, hat ein Recht auf Leben. Aber was ist, wenn das Kind in die Fußstapfen
seines Vaters tritt?
Dann kam 1967. Seitdem herrscht Israel
über 5,5 Millionen Palästinenser, denen bürgerliche, politische und soziale
Rechte verweigert werden.
Israel
unterwirft sie militärischer Kontrolle: für einen Teil von ihnen gibt es ein
„Indianerreservat“ auf der West Bank, während andere in einem
„Stacheldrahtbehälter“ in Gaza eingeschlossen sind (70 % der Bevölkerung dort
sind Flüchtlinge oder ihre Nachkommen).
Israel, das ständig seinen Wunsch nach
Frieden erklärt, betrachtet die Gebiete, die 1967 erobert wurden, als
integralen Bestandteil des „Landes Israel“, und es benimmt sich dort, wie es
ihm passt. Bis jetzt sind 600.000 jüdisch-israelische Siedler dorthin gebracht
worden … und das hat noch nicht aufgehört!
Ist
das der Zionismus von heute? Nein! antworten meine Freunde von der israelischen
Linken – welche permanent schwindet. Sie sagen mir, dass wir die Dynamik der
zionistischen Kolonisierung beenden müssen, dass ein enger, kleiner
palästinensischer Staat neben dem Staat Israel gegründet werden soll und dass
es das Ziel des Zionismus‘ gewesen sei, einen
Staat zu gründen, in dem Juden über sich selbst
herrschen würden, nicht um „das alte Heimatland“ in seiner Gänze zu erobern.
Und die gefährlichste Sache in all dem sei, in ihren Augen, dass die Annexion
von Gebiet den Charakter Israels als jüdischer Staat bedrohe.
Damit
sind wir an dem Punkt angekommen, an dem ich Ihnen erklären sollte, warum ich
Ihnen schreibe und warum ich mich als Nicht-Zionist oder Antizionist definiere,
ohne damit anti-jüdisch zu werden. Ihre Partei hat die Worte „La République“
in ihren Namen aufgenommen. Also nehme ich an, dass Sie ein glühender
Republikaner sind. Und mit dem Risiko, Sie zu überraschen:
Ich
bin es auch. Also kann ich als Demokrat
und Republikaner nicht – wie das alle Zionisten tun, linke wie rechte, ohne
Ausnahme – einen jüdischen Staat
unterstützen.
Das
israelische Innenministerium zählt 75 % der Bevölkerung des Landes als jüdisch
an, 21 % als arabische Muslime und Christen und 4 % als „andere“[sic!].
Und
doch gehört Israel nach dem Geist seiner Gesetze nicht den Israelis insgesamt,
wo es doch sogar all den Juden weltweit gehört, die keine Absicht haben, dort
zu leben.
Damit
gehört Israel beispielsweise sehr viel mehr Bernard Henri-Lévy oder Alain
Finkielkraut als meinen palästinensisch-israelischen Studenten, hebräisch
Sprechenden, die die Sprache manchmal besser sprechen als ich!
Israel hofft, dass der Tag kommen werde, an
dem alle Mitglieder des CRIF („Representative Council of Jewish Institutions in
France“ – „Vertreterrat jüdischer Institutionen in Frankreich“ – d. Übers.)
und ihre „Anhänger“ nach Israel auswandern! Ich kenne sogar ein paar
französische Antisemiten, die angesichts einer solchen Aussicht hocherfreut
sind. Auf der anderen Seite könnten wir zwei israelische Minister, Vertraute
von Netanyahu, finden, die die Meinung verbreiten, dass es nötig sei, den
„Transfer“ israelischer Araber zu ermutigen, ohne dass das bedeutet, dass
irgend jemand ihren Rücktritt fordert.
Das,
Herr Präsident, ist es, warum ich kein Zionist sein kann.
Ich bin ein Bürger, der wünscht, dass
der Staat, in dem er wohnt, eine israelische Republik sein sollte, und kein
Staat einer jüdischen Gemeinschaft.
Als Nachkomme von Juden, die so sehr
unter Diskriminierung litten, möchte ich nicht in einem Staat leben, der mich nach
seiner eigenen Selbst-Definition zu einer privilegierten Klasse von Bürgern
macht.
Herr
Präsident, glauben Sie, dass mich das zu einem Antisemiten macht?
Original: https://www.counterpunch.org/2017/08/11/why-i-cannot-be-a-zionist-an-open-letter-to-emmanuel-macron