Israel –Palästina: Offener Brief an Dr. Carsten
Sieling dem Bremer Bürgermeister,
der die internationale Vereinigung der
Bürgermeister gegen Antisemitismus unterstützt
„Sie weichen den wirklichen Problemen aus“
von Arn Strohmeyer
Sehr geehrter Herr Dr. Sieling,
Sie haben sich zur Bekämpfung des Antisemitismus in die Reihe
der Bürgermeister großer Städte (Mayors United against Anti-Semitism)
eingereiht und einen Aufruf des American Jewish Committee (AJC) unterschrieben.
Die Unterzeichner bekennen sich zum engagierten Einsatz gegen Judenhass und zur
Gewährleistung der Sicherheit jüdischer Gemeinden. Sie schreiben, ein Angriff
auf Jüdinnen und Juden sei ein Angriff auf die Grundwerte unserer Demokratie
und auf unsere offene und freiheitliche Gesellschaft. Bremen setze sich für
eine Gesellschaft ein, in der ein friedliches und respektvolles Zusammenleben
aller Menschen möglich sei.Sich für Toleranz und kulturellen Pluralismus
einzusetzen ist für uns Deutsche nach unserer Geschichte und angesichts einer
neu aufkommenden Gefahr von rechts unbedingt nötig, nach Auschwitz muss dies
für uns aber eigentlich selbstverständlich sein. Sie erwähnen nicht
ausdrücklich die Bedeutung der universell gültigen Menschenrechte, aber ich
gehe davon aus, dass Sie diese in Ihrem Schreiben automatisch mit einbezogen
haben. Nun ist mir nicht bekannt, dass die Menschenrechte für Mitglieder von
jüdischen Gemeinden irgendwo in Deutschland in Frage gestellt werden oder dass
diese Menschen oder ihre Organisationen sogar „angegriffen“ werden. Als es
anlässlich des letzten Krieges Israels gegen den Gazastreifen im Sommer 2014
Demonstrationen gegen diesen Krieg gab, haben einige Demonstranten abstoßende
Parolen gegen Israel skandiert. Dies wurde sofort zum Anlass genommen, von
wachsenden Antisemitismus in Deutschland zu sprechen. Der renommierte
Antisemitismus-Forscher Professor Wolfgang Benz warnte daraufhin vor voreiligen
Schlüssen. Es sagte in einem Interview: „Ich sehe überhaupt keine neue
Qualität. Ich würde auch gern die Wortwahl ‚antisemitische Ausschreitungen‘
hinterfragen. Es haben sich zum Teil seltsame Leute zusammengerottet. Einige
haben blödsinnige Parolen gerufen. Das wird von Interessenten mit großem
Widerhall als Wiederaufflammen des Antisemitismus dargestellt. Ich beobachte
die Szene seit 30 Jahren. Seit 30 Jahren wird damit Politik und Stimmung gemacht.“
Benz sieht die größte Gefahr heute vielmehr in der Feindschaft gegenüber
Muslimen. An der Richtigkeit dieser Einschätzung hat sich seitdem nichts
geändert. Der frühere israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor,
wiederholt immer wieder seine Aussage: „Der Antisemitismus in Deutschland nimmt
nicht zu, sondern die Sympathien für Israel nehmen ab.“ Aber ist das gleich mit
Antisemitismus gleichzusetzen? Ich denke, dass hier das Problem liegt, das Sie
aber überhaupt nicht ansprechen. Es gibt unverbesserliche Antisemiten, das ist
kein Geheimnis. Ein solcher individueller Antisemitismus ist dumm, absurd und
verachtenswert, aber solange hinter ihm keine staatliche Macht steht wie im
Nationalsozialismus, kann er Gottseidank keinen großen Schaden anrichten. Der
von Ihnen angesprochene angebliche Antisemitismus, der in Deutschland leider
sehr oft völlig undifferenziert mit Antizionismus gleichgesetzt wird, hat aber
heute einen realen Grund: die menschenrechts- und völkerrechtswidrige Politik
des Staates Israel gegenüber den Palästinensern.
Ich möchte in diesem Zusammenhang den sehr renommierten
israelischen Historiker Avi Shlaim zitieren, der viele Jahrzehnte an der
Universität von Oxford gelehrt und geforscht hat. Er schreibt: „Es ist
dieser Zweig eines grausamen Zionismus, welcher der wahre Feind der liberalen
Juden ist. Dieser Zionismus ist der Feind, weil er die Flammen eines
virulenten und manchmal gewalttätigen Antisemitismus weiter anfacht. Israels
Vorgehensweise ist die Ursache: Hass auf Israel und Antisemitismus sind die
Konsequenzen.“ Die israelische Soziologin Eva Illouz schreibt in ihrem Buch
„Israel“, dass die Mehrheit der israelischen Bevölkerung inzwischen glaubt,
dass das Einhalten von Menschenrechten das Überleben des Staates gefährde. Ein
Beleg für diese Feststellungen sind Äußerungen der israelischen
Justizministerin Ayelet Shaked im vergangenen Monat auf einer Konferenz in Tel
Aviv. Sie hat dort öffentlich bekannt, dass der Zionismus – also die
israelische Staatsideologie –nichts mit den universellen Menschenrechten zu tun
hat und zu tun haben will. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) hat
am 31. August 2017 unter der Überschrift „Der Zionismus wird nicht weiter
seinen Kopf beugen vor einem universalen System der individuellen Rechte“
darüber berichtet. Frau Shaked hatte schon vorher durch einen zynischen und
abschreckenden Satz auf ihrer Webseite auf sich aufmerksam gemacht:
„Palästinensische Mütter müssen verschwinden und ebenso die Häuser, in denen
sie diese Schlangen großziehen. Andernfalls werden noch mehr kleine Schlangen
großgezogen.“ (Quelle: Wikipedia)Sehr geehrter Herr Dr. Sieling, ich selbst und
sehr viele Menschen in Deutschland sehen hier das Problem und nicht in der
Gefährdung der Juden oder ihrer Gemeinden in diesem Land, wie Sie schreiben.
Hinter diesen Menschen und ihren Organisationen steht schützend der deutsche
Rechtsstaat. Eine konkrete Gefährdung dieser Menschen ist mir nicht bekannt. Im
israelischen Herrschaftsbereich – Westjordanland und Gazastreifen – leben aber
4,5 Millionen Menschen unter furchtbaren Besatzungsbedingungen ohne alle
politischen und bürgerlichen Rechte.
Ihre Realität sieht so aus: Totale Unterdrückung und
Kontrolle dieser Menschen in so gut wie jeder Beziehung, Raub ihres Landes
durch Enteignungen ihres Besitzes, Häuserzerstörungen, Zerstörungen ihrer
Lebensgrundlagen (Felder, Olivenbäume und Brunnen), Einschränkung der
Bewegungsfreiheit durch Checkpoints, Verbannung in Reservate oder Enklaven
hinter Mauern und Zäunen, Plünderung ihrer Ressourcen, bürokratische Schikanen,
permanente Razzien und Verhaftungen, jahrelange Administrativhaft ohne Prozess
(rund 7000 Palästinenser sitzen in israelischen Gefängnissen, darunter viele
Kinder), Folter – mit einem Wort: hier herrscht die Willkür von Kolonialherren
über ein unterworfenes und wehrloses Volk. Dazu kommen immer wieder Kriege
gegen die Palästinenser, die letzten Endes Kriege gegen die Zivilbevölkerung
sind, weil die Palästinenser über keine Armee verfügen. All das ist innerhalb
der zionistischen Moral möglich, die sich ja deutlich von der westlichen
Vorstellung der Menschenrechte distanziert. Nicht nur der israelische
Anthropologe Jeff Halper spricht deshalb von „Staatsterrorismus“.
Hier liegt das wirkliche Menschenrechts- und
Völkerrechtsproblem, das wir in Deutschland aus unserer nicht aufgearbeiteten
Schuld heraus aber nicht anzusprechen, ja nicht einmal wahrzunehmen wagen. Ich
persönlich bin der Meinung, dass das furchtbare Verbrechen des Holocaust gerade
uns Deutsche dazu verpflichtet, Verletzungen der Menschenrechte oder sogar
Verbrechen gegen sie anzuprangern und zu bekämpfen, ganz egal, wo sie
geschehen. Der Antisemitismusvorwurf, wie er heute von den Verteidigern Israels
vertreten wird, dient aber nicht der Bekämpfung dieser schlimmen Form des
Rassismus, sondern hat in erster Linie die Funktion, von Israels furchtbaren
Verbrechen gegen das palästinensische Volk abzulenken und jede öffentliche
Diskussion darüber schon im Keim zu ersticken. Dass Sie das völlig unkritisch
unterstützen und das schreckliche Unrecht, das Israel an Millionen Menschen
begeht, überhaupt nicht erwähnen, geschweige denn dagegen protestieren, ist
sehr enttäuschend.
Inzwischen ist in Deutschland von bestimmten Kreisen eine
Situation geschaffen worden, in der Kritik an Israels Politik gar nicht mehr
öffentlich geäußert werden darf. Selbst jüdischen Kritikern wird die Vermietung
von Räumen für Vortragsveranstaltungen von obersten kommunalen Stellen
untersagt. Das ist eine sehr bedenkliche Entwicklung für den Zustand unserer
Demokratie, weil hier die im Grundgesetz festgeschriebene Presse-, Meinungs-
und Wissenschaftsfreiheit in grober Weise verletzt wird. Es entsteht so die
absurde und sehr gefährliche Situation, dass man sich in diesem Land nicht mehr
zu den universell gültigen Menschenrechten und dem Völkerrecht bekennen darf.
Gilt die Meinungsfreiheit nur für Anhänger der israelischen Politik?
Ich vermisse in Ihrem Schreiben jede differenzierte
Stellungnahme zu diesem Problem und möchte aber der Hoffnung Ausdruck geben,
dass Sie die von Ihnen angesprochenen Grundwerte unserer freiheitlichen
Demokratie so verstehen, dass in der Hansestadt Bremen, die so stolz auf ihre Weltoffenheit
ist, auch künftig öffentlich und ohne jede Einschränkung über die israelische
Politik informiert und diskutiert werden kann.
Mit freundlichem Gruß
Arn Strohmeyer