Irak, Zerstückelung des Landes und Zerschlagung des Neuen Ostens im Sinne

der Brechung des Widerstandes dort und die bessere Unterordnung unter

westliche Interessen

 

Von Kurdistan nach Alawitestan

von Afsane Bahar in German Foreign Policy am 25.8.2014

 

Kritiker warnen vor den Folgen deutscher Waffenlieferungen an die Autonomieregierung im nordirakischen Arbil. "Eine ausschließliche Bewaffnung der Kurden", wie Berlin sie plant, bedeute "faktisch die Anerkennung der Teilung" Iraks, urteilt der auf die arabische Welt spezialisierte Politikwissenschaftler Abdel Mottaleb El Husseini. "Den Irak als Staat" könne man dann "ad acta" legen; neue Spannungen zwischen dem abgetrennten "Kurdistan" und den verbliebenen arabischen Landesteilen wären zu erwarten. Tatsächlich hat der Präsident der Autonomieregion, Massud Barzani, im Juni angekündigt, einen Staat "Kurdistan" gründen zu wollen. Beobachter gehen davon aus, dass dieser eng an das NATO-Mitglied Türkei angebunden wäre und als "Puffer zu den Bürgerkriegsgebieten in Syrien und im Irak" dienen würde. In den Vereinigten Staaten ist bereits letztes Jahr eine noch weiter gehende Zerschlagung des gesamten Nahen und Mittleren Ostens vorgeschlagen worden: Man könne, hieß es, Assads syrisches Herrschaftsgebiet auf ein kleines "Alawitestan" reduzieren und die übrigen Teile des Landes mit Teilen des Irak zu "Kurdistan" und "Sunnistan" zusammenschließen. Die Kleinstaaten, die dabei entstünden, wären machtlos, hätten kein Widerstandspotenzial mehr und wären prinzipiell leichter beherrschbar als die jetzige arabische Staatenwelt.

 

Waffen für den Irak

 

Am kommenden Mittwoch wird die Bundesregierung abschließend über die Lieferung von Waffen in das irakische Kriegsgebiet entscheiden. Dass die Lieferung erfolgt, ist bereits beschlossen; offen ist nur noch, welche Rüstungsgüter den irakischen Kämpfern zur Verfügung gestellt werden. Im Gespräch sind Panzerabwehrraketen vom Typ "Milan", die sich in Bundeswehr-Beständen finden. Wie es heißt, sollen die irakischen Kämpfer die notwendige Einweisung in den Gebrauch "in einem Nachbarland" erhalten.[1] Nach Lage der Dinge handelt es sich wohl um die Türkei. Weiter heißt es, Italien wolle 1.000 Maschinengewehre MG42 liefern, die es einst aus der Bundesrepublik erhalten habe. Zudem werde erwogen, Sturmgewehre vom Typ "AK-47" aus dem Fundus der bulgarischen Streitkräfte zu liefern; Bulgarien solle neue Sturmgewehre kaufen.[2] Die Waffen werden samt zugehöriger Munition laut aktuellem Planungsstand mit Bundeswehr-Maschinen in den Irak transportiert. Der Bundestag soll sich am 1. September in einer Sondersitzung mit der Thematik befassen. Darüber entscheiden darf das Parlament nicht. Jüngsten Umfragen zufolge lehnen 67 Prozent der Bevölkerung die Waffenlieferungen ab.

 

Die Anerkennung der Teilung

 

Das Kriegsgerät wird unmittelbar den Streitkräften der nordirakischen Autonomieregierung zur Verfügung gestellt. Dies bestätigt die Bundeskanzlerin: "Wir liefern die Waffen an die kurdischen Peschmerga, also an die Kämpfer der Autonomen Region Kurdistan".[3] Formell habe man das "Einverständnis der irakischen Zentralregierung" eingeholt, ohne das "eine solche Lieferung rechtlich nicht möglich" wäre, erläutert Angela Merkel. Dass die Waffen direkt an Arbil geliefert werden, ist deshalb von Bedeutung, weil die Autonomieregion im Nordirak die Sezession vorbereitet. Ihr Präsident Massud Barzani hat am 23. Juni in einem CNN-Interview erklärt, die kurdischsprachige Bevölkerung habe ein "Selbstbestimmungsrecht"; er hat zudem ein Referendum über die Abspaltung vom Irak in Aussicht gestellt. Breiteste Zustimmung gilt als sicher. Das Barzani-Interview werde wohl "als ein Gründungsdokument Kurdistans in die Geschichte" eingehen, urteilt Friedbert Pflüger, ein ehemaliger Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium.[4] Pflüger geht davon aus, dass ein künftiges Kurdistan - selbst wenn sich seine Gründung wegen des Kampfs gegen den "Islamischen Staat" (IS) noch verzögern sollte - nicht auf Kirkuk und die Gebiete um Mossul verzichten wird, die die Autonomieregion im Juni eingenommen hat. "Die Kurden", schreibt Pflüger, "werden, in den Worten ihres Präsidenten, 'bis zur letzten Patrone' darum kämpfen". Liefere man ausschließlich ihnen Waffen, wie es die Bundesregierung plant, dann bedeute das "faktisch die Anerkennung der Teilung" Iraks, warnt der Politikwissenschaftler Abdel Mottaleb El Husseini. Neue Spannungen zwischen dem abgetrennten "Kurdistan" und den verbliebenen arabischen Landesteilen wären die Folge.[5]

 

Puffer gegen arabische Bürgerkriege

 

Friedbert Pflüger weist seinerseits darauf hin, dass ein kurdischer Staat auf dem Territorium des heutigen Nordirak eng an den NATO-Verbündeten Türkei angebunden wäre. Galt jegliche türkische Unterstützung für die Gründung eines wie auch immer gearteten kurdischen Staats lange als undenkbar, weil Ankara im eigenen Land gegen kurdische Aufstände kämpfte, so hat sich dies grundlegend geändert. Türkische Unternehmen haben in den letzten Jahren dominierenden Einfluss im Nordirak erlangt; wirtschaftlich ist Arbil in eine starke Abhängigkeit von Ankara geraten. Gleichzeitig hat die Autonomieregion begonnen, Erdöl in die Türkei und über die Türkei in den Westen zu liefern (german-foreign-policy.com berichtete [6]). Spaltete "Kurdistan" sich vom Irak ab, könnte es aus Sicht Ankaras "als Puffer zu den Bürgerkriegsgebieten in Syrien und im Irak" dienen, erläutert Pflüger.[7] Dies trifft umso mehr zu, als ein Anschluss der kurdischsprachigen Teile Syriens an ein neues "Kurdistan" als durchaus wahrscheinlich gelten kann.

 

Neue Grenzen

 

Nähere Überlegungen, aus den kurdischsprachigen Gebieten Syriens und des Irak ein "Kurdistan" zu formen, hat im vergangenen Herbst die renommierte Tageszeitung New York Times veröffentlicht - kurz nach der Absage des angekündigten US-Überfalls auf Syrien. Dieser hätte mutmaßlich zum Sturz des syrischen Präsidenten Bashar al Assad sowie zur Einsetzung einer prowestlichen Marionette auf seinem Posten geführt. Der Artikel in der New York Times, der Ende September erschien, wurde von der US-Publizistin Robin Wright verfasst, die unter anderem am "United States Institute of Peace" tätig ist, einer staatsfinanzierten, mit Interventionen in Konflikte in aller Welt befassten Institution. Wrights Beitrag, dessen Inhalt mit einer Landkarte illustriert wurde, übt Kritik an den Grenzen im Nahen und Mittleren Osten, die einst "von europäischen Kolonialmächten" festgelegt und seitdem "von arabischen Autokraten verteidigt worden" seien. "Neue Grenzen" könnten gezogen werden, "Länder könnten sich auflösen", heißt es in dem Text, der genau dies für große Teile der arabischen Welt gedanklich durchexerziert.[8]

 

Die Balkanisierung der arabischen Welt

 

Wright zufolge ist Syrien bereits "in drei identifizierbare Regionen zerbrochen": in ein kurdisches, ein sunnitisches und ein noch von Assad beherrschtes, alawitisch dominiertes Gebiet. http://www.german-foreign-policy.com/pics/middle_east_wright.jpgLetzteres ist auf der beigefügten Landkarte mit dem Namen "Alawitestan" versehen. Das kurdische Gebiet verschmilzt mit dem kurdischsprachigen Norden des Irak zu "Kurdistan", das sunnitische Gebiet mit den sunnitischen Teilen des Irak zu "Sunnistan"; bei letzterem handelt es sich um die Region, die heute von der Terrororganisation IS kontrolliert wird. Der Süden des Irak ist auf der Landkarte unter der Bezeichung "Shiitestan" zu finden. Eine ähnliche Aufspaltung droht die Mitarbeiterin des "United States Institute of Peace" auch Saudi-Arabien an: Dessen Küstengebiete könnten in vier neue Staaten aufgeteilt werden; seinem Kern ("Wahhabistan") solle man den Nordjemen zuschlagen. Auch Libyen sei zu zerschlagen.[9] Käme es zu der beschriebenen Aufspaltung, dann könnte der Westen sich sicher sein, dass keiner der machtlosen Kleinstaaten noch zu ernsthaftem Widerstand gegen seine Hegemonie fähig wäre. Als Modell kann die einst von der Bundesrepublik forcierte Zerschlagung Jugoslawiens gelten. (Bild: Ausschnitt aus der New York Times vom 28. September 2013.)

 

Ein Katalysator

 

Offiziell spricht sich die Bundesregierung noch gegen die Abspaltung eines Staates "Kurdistan" vom Irak aus. "Ein unabhängiger Staat der Kurden würde die Region weiter destabilisieren und neue Spannungen hervorrufen", wird Außenminister Frank-Walter Steinmeier zitiert.[10] Für den Krieg gegen den IS dringt der Westen auf gemeinsame Operationen Arbils mit Bagdad. Experten verweisen allerdings auf langfristige Perspektiven. "Erstmals kämpfen ... Kurden aus dem Irak, der Türkei und Syrien gemeinsam gegen den 'Islamischen Staat'", schreibt ein bekannter Mittelost-Experte: "Das stärkt das kurdische Nationalbewusstsein". Es "könnte ein Katalysator dafür sein, dass bei der nächsten Gelegenheit tatsächlich die Ausrufung eines kurdischen Staats gelingt".[11]

 

Weitere Informationen zur deutschen Aufrüstung irakischer Truppen gegen den "Islamischen Staat" (IS) finden Sie hier: Das feine Gespür der Öffentlichkeit und Vom Westen befreit.

 

[1], [2] Matthias Gebauer: Deutsche Waffenlieferungen: Panzerknacker für die Peschmerga. www.spiegel.de 21.08.2014.
[3] "Ich spüre keinen Druck".
www.freiepresse.de 23.08.2014.
[4] Friedbert Pflüger: Geopolitischer Albtraum. Warum die Energiemacht Kurdistan nicht an den IS fallen darf.
zeitschrift-ip.dgap.org 15.08.2014.
[5] "Die Kurden könnten Deutschland noch richtig ärgern".
www.focus.de 23.08.2014.
[6] S. dazu
Partnerpflege in Mittelost und Geostrategisch sehr exponiert.
[7] Friedbert Pflüger: Geopolitischer Albtraum. Warum die Energiemacht Kurdistan nicht an den IS fallen darf.
zeitschrift-ip.dgap.org 15.08.2014.
[8], [9] Robin Wright: Imagining a Remapped Middle East.
www.nytimes.com 28.09.2013.
[10] Steinmeier lehnt unabhängigen Kurdenstaat ab.
www.faz.net 17.08.2014.
[11] Rainer Hermann: Noch kein Kurdistan. Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.08.2014.

 

Quellen: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58931

  

http://www.nytimes.com/2013/09/29/opinion/sunday/imagining-a-remapped-middle-east.html?pagewanted=all&_r=0