GRIECHENLANDS YANNIS VAROUFAKIS NICHT GEHALTENE REDE
AUF
DEM PALÄSTINA-KONGRESS IN BERLIN
IM APRIL 2024
Yannis Varoufakis
Wir sind hier, um den deutschen Demokratinnen und
Demokraten, einschließlich unserer ehemaligen Genossinnen und Genossen von der
LINKEN, zu sagen, dass sie sich lange genug mit Schande bedeckt haben – dass
Unrecht plus Unrecht kein Recht ergeben – und dass es nicht zur deutschen
Vergangenheitsbewältigung beiträgt, wenn wir zulassen, dass Israel mit
Kriegsverbrechen davonkommt.” Die verhinderte Rede von Yanis Varoufakis, welche
er vor dem Palästina – Kongress in Berlin halten wollte.
Freunde,
Herzlichen Glückwunsch und herzlichen Dank, dass ihr hier seid, trotz der
Drohungen, trotz der gepanzerten Polizei vor dem Veranstaltungsort, trotz des
Aufgebots der deutschen Presse, trotz des deutschen Staates, trotz des
deutschen politischen Systems, das euch verteufelt, weil ihr hier seid.
„Warum ein palästinensischer Kongress, Herr Varoufakis?“,
fragte mich kürzlich ein deutscher Journalist. Weil, wie Hanan Ashrawi einmal sagte: „Wir können uns nicht darauf
verlassen, dass die zum Schweigen gebrachten Menschen uns von ihrem Leid
berichten.“
Heute ist Ashrawis Begründung deprimierenderweise
noch stärker geworden: Weil wir uns nicht darauf verlassen können, dass die zum
Schweigen gebrachten, die ebenfalls massakriert werden und hungern, uns von den
Massakern und dem Hungertod berichten.
Aber es gibt noch einen anderen Grund: weil anständige Menschen, die
Deutschen, dazu gebracht werden, einen gefährlichen Weg Richtung herzloser
Gesellschaft zu beschreiten, indem ein weiterer Völkermord im Namen dieses
Landes und in seiner Mitschuld verübt wird.
Ich bin weder Jude noch Palästinenser. Aber ich bin unglaublich stolz, hier
unter Juden und Palästinensern zu sein – meine Stimme für Frieden und
universelle Menschenrechte mit den jüdischen Stimmen für Frieden und
universelle Menschenrechte zu vereinen – zusammen mit den palästinensischen
Stimmen für Frieden und universelle Menschenrechte.
Dass wir heute hier zusammen sind, ist der Beweis dafür, dass Koexistenz
nicht nur möglich ist, sondern dass sie bereits stattfindet. Schon jetzt.
„Warum kein jüdischer Kongress, Herr Varoufakis?“,
fragte mich derselbe deutsche Journalist, der sich wohl einbildete, schlau zu
sein. Mir machte seine Frage nichts aus.
Denn wenn auch nur eine einzige Jüdin oder ein einziger Jude bedroht wird, nur weil sie oder er Jude ist, werde ich den Davidstern an
meinem Revers tragen und meine Solidarität anbieten – koste es, was es wolle.
Um es noch deutlicher zu sagen: Wenn Juden irgendwo auf der Welt
angegriffen werden, wäre ich der Erste, der sich für einen jüdischen Kongress
einsetzen würde, um unsere Solidarität zu bekunden.
Ebenso: wenn Palästinenserinnen und Palästinenser massakriert werden, weil
sie Palästinenserinnen und Palästinenser sind – nach dem Dogma, dass sie Hamas
gewesen sein müssen, wenn sie jetzt tot sind – werde ich meine Keffiyeh tragen und meine Solidarität bekunden, koste es,
was es wolle.
Die universellen Menschenrechte sind entweder universell oder sie bedeuten
nichts.
In diesem Sinne habe ich die Frage des deutschen Journalisten mit ein paar
eigenen Fragen beantwortet:
Werden 2 Millionen israelische Juden, die vor 80 Jahren aus ihren Häusern
in ein Freiluftgefängnis geworfen wurden, immer noch in diesem
Freiluftgefängnis gehalten, ohne Zugang zur Außenwelt, mit minimaler Nahrung
und Wasser, ohne Chance auf ein normales Leben, ohne Möglichkeit, irgendwohin
zu reisen, und seit 80 Jahren regelmäßig bombardiert?
Nein.
Werden israelische Juden absichtlich von einer Besatzungsarmee
ausgehungert, während sich ihre Kinder auf dem Boden winden und vor Hunger
schreien?
Nein.
Gibt es Tausende von jüdischen verletzten Kindern ohne überlebende Eltern,
die durch die Trümmer ihrer ehemaligen Häuser kriechen?
Nein.
Werden israelische Juden heute von den modernsten Flugzeugen und Bomben der
Welt bombardiert?
Nein.
Erleben die israelischen Juden einen totalen Ökozid an dem bisschen Land,
das sie noch ihr Eigen nennen können, keinen einzigen Baum mehr, unter dem sie
Schatten suchen oder dessen Früchte sie kosten können?
Nein.
Werden heute israelische jüdische Kinder auf Befehl eines UN-Mitgliedsstaates
von Scharfschützen getötet?
Nein.
Werden israelische Juden heute von bewaffneten Banden aus ihren Häusern
vertrieben?
Nein.
Kämpft Israel heute um seine Existenz?
Nein.
Wenn die Antwort auf eine dieser Fragen „Ja“ wäre, würde ich heute an einem
jüdischen Solidaritätskongress teilnehmen.
Freunde,
Heute hätten wir gerne mit Menschen, die anders denken als wir, eine
anständige, demokratische und von gegenseitigem Respekt geprägte Debatte
darüber geführt, wie wir Frieden und universelle Menschenrechte für alle
Menschen, Juden und Palästinenser, Beduinen und Christen, vom Jordan bis zum
Mittelmeer erreichen können.
Leider hat das gesamte deutsche politische System beschlossen, dies nicht
zuzulassen. In einer gemeinsamen Erklärung haben sich nicht nur die CDU-CSU
oder die FDP, sondern auch die SPD, die Grünen und bemerkenswerterweise zwei
Vorsitzende der Partei Die Linke zusammengetan, um sicherzustellen, dass eine
solche zivilisierte Debatte, in der man durchaus unterschiedlicher Meinung sein
kann, in Deutschland niemals stattfinden wird.
Ich sage ihnen: Ihr wollt uns zum Schweigen bringen. Uns verbieten. Uns
dämonisieren. Uns anklagen. Deshalb lasst ihr uns keine andere Wahl, als euren
Anschuldigungen mit unseren Anschuldigungen zu begegnen. Ihr habt euch das
ausgesucht. Nicht wir.
Ihr beschuldigt uns des antisemitischen Hasses.
Wir werfen euch vor, die besten Freunde der Antisemiten zu sein, indem ihr
das Recht Israels, Kriegsverbrechen zu begehen, mit dem Verteidigungsrecht der
israelischen Juden gleichsetzt.
Ihr beschuldigt uns, den Terrorismus zu unterstützen.
Wir werfen euch vor, legitimen Widerstand gegen einen Apartheidstaat mit
Gräueltaten gegen Zivilisten gleichzusetzen. Gräueltaten, die ich immer
verurteilt habe und verurteilen werde, egal wer sie begeht – Palästinenser,
jüdische Siedler, meine eigene Familie, wer auch immer.
Wir werfen euch vor, dass ihr die Pflicht der Menschen in Gaza nicht anerkennt,
die Mauer des offenen Gefängnisses einzureißen, in dem sie seit 80 Jahren
eingeschlossen sind, und dass ihr diesen Akt des Einreißens der Schandmauer –
die genauso wenig zu verteidigen ist wie die Berliner Mauer –mit Terrorakten
gleichsetzt.
Ihr werft uns vor, den Terror der Hamas am 7. Oktober zu bagatellisieren.
Wir werfen euch vor, die 80 Jahre andauernde ethnische Säuberung der
Palästinenser durch Israel und die Errichtung eines gepanzerten
Apartheidsystems in Israel-Palästina zu verharmlosen.
Wir werfen euch vor, zu verharmlosen, dass Netanjahu über Jahre die Hamas
unterstützte, um die Zweistaatenlösung, die ihr angeblich befürwortet, zu
zerstören.
Wir werfen euch vor, den beispiellosen Terror der israelischen Armee gegen
die Menschen in Gaza, im Westjordanland und im Osten Jerusalems zu
verharmlosen.
Ihr werft uns, den Organisatoren des heutigen Kongresses, vor, dass wir,
ich zitiere, „nicht daran interessiert sind, vor dem Hintergrund des Krieges in
Gaza über Möglichkeiten des friedlichen Zusammenlebens im Nahen Osten zu
sprechen“. Ist das euer Ernst? Habt ihr den Verstand verloren?
Wir beschuldigen euch, einen deutschen Staat zu unterstützen, der nach den
USA der größte Waffenlieferant der Netanjahu-Regierung ist, die damit
Palästinenserinnen und Palästinenser massakrieren will, um eine
Zweistaatenlösung und ein friedliches Zusammenleben zwischen Juden und
Palästinensern unmöglich zu machen.
Wir werfen euch vor, dass ihr nie die Frage beantwortet, die jeder Deutsche
beantworten muss: Wie viel palästinensisches Blut muss noch fließen, bevor euer
– berechtigtes – Schuldgefühl für den Holocaust weggewaschen ist?
Um es klar zu sagen: Wir sind hier in Berlin mit unserem palästinensischen
Kongress, weil wir, im Gegensatz zum deutschen politischen System und den
deutschen Medien, Völkermord und Kriegsverbrechen verurteilen unabhängig davon,
wer sie verübt.
Weil wir die Apartheid im Land Israel-Palästina ablehnen, egal wer die
Oberhand hat – genauso wie wir die Apartheid in den amerikanischen Südstaaten
oder in Südafrika abgelehnt haben. Weil wir für universelle Menschenrechte, Freiheit
und Gleichheit unter Juden, Palästinensern, Beduinen und Christen im alten Land
Palästina eintreten.
Und damit wir uns noch klarer über die berechtigten und bösartigen Fragen
sind, die wir immer bereit sein müssen zu beantworten:
Verurteile ich die Gräueltaten der Hamas?
Ich verurteile jede einzelne Gräueltat, unabhängig davon, wer der Täter
oder das Opfer ist. Was ich nicht verurteile, ist bewaffneter Widerstand gegen
ein Apartheidsystem, das als Teil eines langsam brennenden, aber unaufhaltsamen
Programms der ethnischen Säuberung konzipiert wurde. Anders ausgedrückt: Ich
verurteile jeden Angriff auf Zivilisten, während ich gleichzeitig jeden feiere,
der sein Leben riskiert, um die Mauer einzureißen.
Befindet sich Israel nicht in einem Krieg um seine Existenz?
Nein, ist es nicht. Israel ist ein nuklear bewaffneter Staat mit der
vielleicht fortschrittlichsten Armee der Welt und dem ganzen Arsenal der
US-Militärmaschine im Rücken. Es gibt keine Symmetrie mit der Hamas, einer
Gruppe, die Israelis ernsthaften Schaden zufügen kann, die aber in keiner Weise
in der Lage ist, Israels Militär zu besiegen oder Israel daran zu hindern, den
langsamen Völkermord an den Palästinensern im Rahmen des Apartheidsystems, das
mit langjähriger Unterstützung der USA und der EU errichtet wurde,
fortzusetzen.
Haben die Israelis nicht zu Recht Angst, dass die Hamas sie ausrotten will?
Natürlich haben sie das! Juden haben einen Holocaust erlitten, dem Pogrome
und ein tief verwurzelter Antisemitismus vorausgingen, der Europa und Amerika
seit Jahrhunderten durchdringt. Es ist nur natürlich, dass Israelis in Angst
vor einem neuen Pogrom leben, wenn die israelische Armee einknickt. Indem der
israelische Staat seinen Nachbarn die Apartheid aufzwingt und sie wie
Untermenschen behandelt, schürt er das Feuer des Antisemitismus, stärkt
Fanatiker unter den Palästinensern und Israelis, die sich nur gegenseitig
vernichten wollen, und trägt letztlich zu der schrecklichen Unsicherheit bei,
die Juden in Israel und der Diaspora verzehrt. Die Apartheid gegen die
Palästinenser ist eine äußerst schlechte Idee, wenn es um die
Selbstverteidigung Israels geht.
Was ist mit Antisemitismus?
Der Antisemitismus ist immer eine klare und gegenwärtige Gefahr. Und er
muss ausgerottet werden, vor allem in den Reihen der Globalen Linken und der
Palästinenserinnen und Palästinenser, die für palästinensische Bürgerrechte
kämpfen – überall auf der Welt.
Warum verfolgen die Palästinenser ihre Ziele nicht mit friedlichen Mitteln?
Das taten sie. Die PLO erkannte Israel an und verzichtete auf den
bewaffneten Kampf. Und was haben sie dafür bekommen? Absolute Erniedrigung und
systematische ethnische Säuberung. Das hat die Hamas hervorgebracht und sie in
den Augen vieler Palästinenserinnen und Palästinenser als einzige Alternative
zu einem langsamen Völkermord unter Israels Apartheid erscheinen lassen.
Was sollte jetzt getan werden? Was könnte Frieden in Israel-Palästina
bringen?
Ein sofortiger Waffenstillstand.
Die Freilassung aller Geiseln: die der Hamas und die Tausende, die von
Israel festgehalten werden.
Ein Friedensprozess unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen, der
durch die Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft unterstützt wird, die
Apartheid zu beenden und gleiche Bürgerrechte für alle zu gewährleisten.
Bei der Frage, was an die Stelle der Apartheid treten soll, müssen Israelis
und Palästinenser zwischen der Zwei-Staaten-Lösung und der Lösung eines
einzigen föderalen, säkularen Staates entscheiden.
Freunde,
Wir sind hier, weil es faul ist, Rache zu nehmen statt zu trauern.
Wir sind hier, um nicht für Rache, sondern für Frieden und Koexistenz in
Israel und Palästina zu werben.
Wir sind hier, um den deutschen Demokratinnen und Demokraten,
einschließlich unserer ehemaligen Genossinnen und Genossen von der LINKEN, zu
sagen, dass sie sich lange genug mit Schande bedeckt haben – dass Unrecht plus
Unrecht kein Recht ergeben – und dass es nicht zur deutschen
Vergangenheitsbewältigung beiträgt, wenn wir zulassen, dass Israel mit
Kriegsverbrechen davonkommt.
Über den heutigen Kongress hinaus haben wir in Deutschland die Pflicht, den
Diskurs zu verändern. Wir haben die Pflicht, die große Mehrheit der anständigen
Deutschen davon zu überzeugen, dass die universellen Menschenrechte das
Wichtigste sind. Dass „Nie wieder“ wirklich „Nie wieder“ bedeutet. Für
niemanden, egal ob Jude, Palästinenser, Ukrainer, Russe, Jemenit, Sudanese,
Ruander –für alle, überall.
In diesem Zusammenhang freue ich mich, ankündigen zu können, dass die
deutsche politische Partei MERA25 von DiEM25 bei den Wahlen zum Europäischen
Parlament im kommenden Juni auf dem Stimmzettel stehen wird – um die Stimme der
deutschen Humanisten zu bekommen, die sich nach jemandem im Europäischen
Parlament sehnen, der/die Deutschland vertritt und die Komplizenschaft der EU
beim Völkermord anprangert – eine Komplizenschaft, die Europas größtes Geschenk
an die Antisemiten in Europa und darüber hinaus ist.
Ich grüße euch alle und schlage vor, dass wir nie vergessen, dass niemand
von uns frei ist, solange auch nur eine(r) von uns in Ketten liegt.
Yanis Varoufakis:
Deutschland hat nicht nur den Rektor der Universität Glasgow, Dr.
@GhassanAbuSitt1, an der Einreise nach Deutschland gehindert, um an unserem
Palästina-Kongress teilzunehmen, sondern ihm auch mit rechtlichen Schritten
gedroht, falls er es wagen sollte, seine geplante Rede per Video zu senden.
Frage an die deutschen Freunde: In Ihrem Namen?
Kurzkommentar zum Obigen von Brigitte Queck
Sehr gute und ausgewogene Rede von Yannis Varoufakis. Damit hält er allen sogenannten Linken, die den Palästinakongress mit verhindert haben, einen Spiegel der Heuchelei und des eigenen verbrecherischen Tuns vor, einen Völkermord Israels mit der Antisemitismuskeule zu bemänteln! Pfui Teufel ! Dafür fehlen einem die Worte !!