Fidel Castro: "Die Völker
werden unregierbar werden"
Botschaft des kubanischen
Revolutionsführers an die 11. Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und
Entwicklung im Juni 2004 in São Paulo
von Fidel Castro Ruz
Fidel Castro
Quelle: Ismael Francisco/ Cubadebate
Die Unctad, eine vor 40 Jahren gegründete
Organisation, war ein edler Versuch der unterentwickelten Welt, innerhalb der
Vereinten Nationen ein Instrument zu schaffen, das über den rationellen und
gerechten internationalen Handelsaustausch ihrem Streben nach Fortschritt und
Entwicklung dienen würde. Damals gab es viele Hoffnungen, im arglosen Glauben
daran, dass die ehemaligen Metropolen Bewusstsein über ihre Pflicht und die
Notwendigkeit, diese Zielstellung zu teilen, gewonnen hätten.
Raúl Prebisch war der Hauptinspirator jener Idee. Er
hatte das Phänomen des ungleichen Wirtschaftsaustauschs als eine der großen
Tragödien analysiert, welche die wirtschaftliche Entwicklung der Völker der
Dritten Welt hemmt. Dies war einer seiner wichtigsten Beiträge zur Wirtschaftskultur
unserer Zeit, In Anerkennung seiner herausragenden Fähigkeiten wurde er als
Generalsekretär dieser Institution der Vereinten Nationen für Handel und
Entwicklung gewählt.
Heutzutage wird die schreckliche Geißel des ungleichen
Wirtschaftsaustauschs kaum in Reden und bei Konferenzen erwähnt.
Der internationale Handel war nicht Instrument zur
Entwicklung der armen Länder, welche die riesige Mehrheit der Menschheit
bilden. Für 86 von ihnen stellen die Grunderzeugnisse mehr als die Hälfte des
Ausfuhrerlöses dar. Die Kaufkraft jener Produkte, ausgenommen das Erdöl, ist
heute ein Drittel derjenigen, die sie bei der Gründung der UNCTAD hatten.
Obwohl die Zahlen langweilen und sich wiederholen,
bleibt oft kein anderes Mittel, als ihre beredte und unersetzbare Sprache zu
verwenden.
• In den armen Ländern leben 85 Prozent der
Weltbevölkerung, aber ihre Teilnahme am Welthandel beträgt nur 25 Prozent.
• Die Auslandsschuld jener Länder betrug 1964, im
Gründungsjahr dieser Institution der Vereinten Nationen, ungefähr 50 Milliarden
Dollar. Heute erreicht sie 2,6 Billionen.
• Von 1982 bis zum Jahr 2003, d.h. in 21 Jahren, hat
die arme Welt 5,4 Billionen Dollar Schuldendienst gezahlt, das bedeutet, dass
sein jetziger Wert schon mehr als zweimal an die reichen Länder gezahlt wurde.
Den armen Ländern wurde Entwicklungshilfe versprochen
und dass sich der Abgrund zwischen Reichen und Armen progressiv verringern
würde; man ging sogar so weit zu versprechen, dass der Wert 0,7 Prozent des
sogenannten Bruttoinlandsproduktes das so wäre, dann würde diese Zahl heute
mindestens 175 Milliarden Dollar pro Jahr betragen.
Im vergangenen Jahr 2003 erhielt die Dritte Welt als
offizielle Hilfe 54 Milliarden Dollar. In jenem selben Jahr zahlten die Armen
den Reichen 436 Milliarden an Schuldendienst. Das reichste Land von ihnen, die
USA, ist dasjenige, welches die vorgegebene Zielstellung am wenigsten erfüllte,
indem es nur 0,1 Prozent seines BIP für diese Hilfe bestimmte. Hier sind die
riesigen Summen, die ihnen durch den ungleichen Handelsaustausch entrissen
wurden, nicht inbegriffen.
Zusätzlich geben die reichen Länder jedes Jahr mehr
als 300 Milliarden Dollar für Subventionen aus, die den Zugang der armen Länder
zu ihren Märkten verhindern.
Andererseits ist es fast unmöglich den Schaden zu
messen, der diesen Ländern durch die Art der Handelsbeziehungen zugefügt wird,
die den armen Ländern, die nicht in der Lage sind, mit der ausgefeilten
Technologie, dem fast ausschließlichen Monopol des intellektuellen Eigentums
und den riesigen Finanzmitteln der reichen Länder zu konkurrieren, über die
gewundenen Pfade der WTO und die Freihandelsverträge aufgezwungen werden.
Zu diesen Formen der Plünderung kommen noch andere
hinzu, wie zum Beispiel die beleidigende Ausbeutung der billigen Arbeitskräfte in
der Maquiladora-Industrie, die mit Lichtgeschwindigkeit entstehen und
verschwinden, die Spekulation mit den Währungen in Höhe von Billionen pro Tag,
der Waffenhandel, die Aneignung des Nationaleigentums, die kulturelle Invasion
und andere Dutzende von Plünderungs- und Raubhandlungen, die unmöglich alle
aufgezählt werden können. Der brutale Transfer von Finanzmitteln aus den armen
in die reichen Länder, der in den klassischen Büchern zur politischen Ökonomie
nicht aufgezeigt ist — die Kapitalflucht, die charakteristisch und
obligatorisch für die herrschende Wirtschaftsordnung ist — ist noch zu
untersuchen.
Das Geld aus der ganzen Welt fließt in die USA ab, um
sich vor den Währungsschwankungen und dem Spekulationsfieber zu schützen,
welche die Wirtschaftsordnung selbst hervorruft. Ohne dieses Geschenk, welches
der Rest der Welt, besonders die armen Länder, den USA machen, könnte seine
jetzige Regierung die riesigen Haushalts- und Handelsbilanzdefizite nicht
aufrecht erhalten, die beide zusammen im Jahr 2004 mindestens eine Billion
Dollar betragen.
Würde sich irgend jemand trauen, die negativen
sozialen und menschlichen Folgen der neoliberalen Globalisierung zu negieren,
die der Welt aufgezwungen wurde?
• Wenn vor 25 Jahren fünfhundert Millionen Menschen
Hunger litten, dann sind das jetzt mehr als 800 Millionen.
• In den armen Länder kommen 150 Millionen Kinder mit
Untergewicht auf die Welt, was das Sterberisiko und die Gefahr der geistigen
und körperlichen Unterentwicklung erhöht.
• Es gibt 325 Millionen Kinder, die nicht die Schule
besuchen.
• Die Kindersterblichkeit bei Kindern unter einem Jahr
ist zwölf Mal höher als die der reichen Länder.
• In der Dritten Welt sterben täglich 33 Tausend
Kinder an heilbaren Krankheiten.
• Zwei Millionen Mädchen sind dazu gezwungen, die
Prostitution auszuüben.
• 85 Prozent der Weltbevölkerung, die sich aus den
armen Ländern zusammensetzt, verbrauchen nur 30 Prozent der Energie, 25 Prozent
der Metalle und 15 Prozent des Holzes.
• Die vollständigen bzw. funktionellen Analphabeten,
die unseren Planeten bewohnen, betragen Milliarden.
Wie können die Anführer des Imperialismus und
diejenigen, die die Plünderung der Welt mit ihm teilen, von Menschenrechten
sprechen und in dieser so brutal ausgebeuteten Welt auch nur die Worte Freiheit
und Demokratie erwähnen?
Das, was gegen die Welt verübt wird, ist ein ständiges
Genozid-Verbrechen. Jedes Jahr sterben wegen fehlenden Nahrungsmitteln,
fehlender ärztlicher Betreuung und Mangel an Arzneimittel so viele Kinder,
Mütter, Adoleszenten, Jugendliche und Erwachsene, — die gerettet werden könnten
— wie die Dutzende Millionen, die in jeglichem der zwei Weltkriege starben. Das
geschieht jeden Tag, zu jeder Tageszeit, ohne dass irgendeiner der großen
Führer der entwickelten und reichen Welt darüber auch nur ein Wort verliert.
Kann diese Situation unendlich so weitergehen? Ganz
entschieden nein, und aus absolut objektiven Gründen.
Die Menschheit hat — nachdem Dutzende Jahrtausende
vergangen sind — in dieser Minute und fast plötzlich, wenn man den
beschleunigten Wachstumsrhythmus der letzten 45 Jahre anschaut, wo sich ihre
Zahl mehr als verdoppelt hat, 6,35 Milliarden Einwohner erreicht, die Kleidung
und Schuhe benötigen, ernährt, untergebracht und erzogen sein sollen. In kaum
50 Jahren mehr, wird sich die Zahl fast unvermeidbar auf zehn Milliarden
belaufen. Zu jenem Zeitpunkt werden die bekannten und möglichen
Brennstoffreserven, für deren Schaffung der Planet 300 Millionen Jahre
benötigte, verbraucht sein. Sie werden in die Atmosphäre, die Gewässer und den
Grund und Boden lanciert worden sein, gemeinsam mit anderen chemischen
Schadstoffen.
Das heute herrschende imperialistische System, zu dem
sich unvermeidbar die kapitalistische Gesellschaft entwickelte, hat schon eine
so erbarmungslose irrationale und ungerechte globale und neoliberale
Wirtschaftsordnung erreicht, dass es unhaltbar ist. Die Völker werden sich
dagegen erheben.
Diejenigen, die behaupten, dass dies das Ergebnis von
Parteien, Ideologien oder subversiven Elementen und Unruhestiftern aus Kuba und
Venezuela ist, sind dumm.
Unter anderem brachte diese Entwicklung auf ebenso
unvermeidbare Art und Weise und innerhalb der Grundlagen und Normen, die das
herrschende System bestimmen, die sogenannten Konsumgesellschaften mit sich.
Darin haben ihre verschwenderischen und verantwortungslosen Tendenzen den
Verstand von einer großen Anzahl von Menschen auf der Welt vergiftet, die
inmitten einer allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Ignoranz durch die
kommerzielle und politische Werbung mittels der fabelhaften Massenmedien
manipuliert werden, welche die Wissenschaft geschaffen hat.
Dies waren nicht die günstigsten Bedingungen dafür,
dass sich in den reichen und mächtigen Ländern solche fähigen, verantwortungsbewussten
und mit Kenntnissen und politischen und ethischen Prinzipien ausgestatteten
Führer herausbildeten, die eine so außerordentlich komplizierte Welt benötigt.
Man muss sie nicht beschuldigen, denn sie selbst waren Ergebnis und gleichzeitig
blinde Instrumente jener Entwicklung. Werden sie in der Lage sein,
verantwortungsbewusst die äußerst komplizierten politischen Situationen, die in
ständig steigendem Maße auf der Welt entstehen, zu bewältigen?
Bald wird es 60 Jahre her sein, dass über Hiroshima
die erste Atombombe explodierte. Heutzutage gibt es auf der Welt mehrere
Zehntausende jener Waffen, die Dutzend Male mächtiger und genauer sind. Sie
werden weiter hergestellt und perfektioniert. Sogar im Weltraum sind
Atomwaffenbasen vorgesehen. Es entstehen neue tödliche und ausgefeilte
Waffensysteme.
Zum erstem Mal in der Geschichte wird der Mensch die
technische Kapazität für seine vollkommene Selbstvernichtung geschaffen haben.
Aber im Gegensatz dazu war er nicht in der Lage, ein Minimum an für alle Länder
gleichen Garantien für ihre Sicherheit und Integrität zu schaffen. Man
erarbeitet Theorien zur vorbeugenden und überraschenden Anwendung von den
ausgefeiltesten Waffen "in jeglichem dunklen Winkel der Welt",
"in 60 oder mehr Ländern" und wendet diese sogar an, die die in den
schaurigen Tagen des Nazismus ausgerufene Barbarei erbleichen lassen. Wir waren
schon Zeugen von Eroberungskriegen und sadistischen Foltermethoden, die an die
in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges veröffentlichten Bilder erinnern.
Das Prestige der Vereinten Nationen ist bis zu den
Grundmauern untergraben. Anstatt sie zu verbessern und zu demokratisieren, ist
die Institution zu einem Werkzeug geworden, das die Supermacht und ihre
Alliierten ausschließlich dazu zu verwenden beabsichtigen, Kriegsabenteuer und
schreckliche Verbrechen gegen die heiligsten Rechte der Völker zu beschönigen.
Das sind weder Fantasien noch Ergebnisse der
Einbildungskraft. Es ist eine sehr reale Tatsache, dass in kaum einem halben
Jahrhundert zwei große tödliche Gefahren für das Überleben der Menschengattung
an sich entstanden sind: diejenige, die von der technischen Weiterentwicklung
der Waffen ausgeht, und die andere, die aus der systematischen und
beschleunigten Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen auf dem Planeten
herrührt.
Bei der Alternative, vor welche die Menschheit durch
das System mit aller Gewalt gestellt wurde, bleibt ihr nichts Anderes übrig:
entweder ändert sich die jetzige Weltlage, oder die Menschengattung ist
wirklich vom Aussterben bedroht. Um das zu verstehen, braucht man kein
Wissenschaftler oder Mathematik-Fachmann zu sein; die Arithmetik, die in der
Grundschule gelehrt wird, ist dafür ausreichend.
Die Völker werden unregierbar werden. Es gibt weder
Methoden der Unterdrückung, Folter und des massenhaften Verschwindenlassens
noch der Massenmorde, die das verhindern können. Und es werden nicht nur die
Hungrigen der Dritten Welt im Kampf um das Überleben, das ihrer Kinder und
Kindeskinder sein; ebenso werden es alle Menschen der reichen Welt sein, die
Bewusstsein haben, egal ob sie Werktätige sind, die manuelle oder
intellektuelle Arbeiten ausführen.
Aus der unvermeidbaren Krise werden eher als gedacht
Denker, Anführer, soziale und politische Organisationen verschiedener Art hervorgehen,
die die größten Anstrengungen unternehmen werden, um die Menschengattung zu
bewahren. Alle Gewässer werden sich in einer einzigen Richtung vereinen, um die
Hindernisse wegzuspülen.
Säen wir Ideen, und alle Waffen, welche diese
barbarische Zivilisation geschaffen hat, werden überflüssig sein; säen wir
Ideen, und die unvermeidbare Zerstörung unserer natürlichen Umwelt wird
verhindert werden können.
Man müsste sich fragen, ob es nicht schon zu spät ist.
Ich bin Optimist, ich sage, dass es nicht zu spät ist, und teile die Hoffnung,
dass eine bessere Welt möglich ist.
Havanna, den 13. Juni 2004
Quellen: fidelcastro
https://amerika21.de › analyse › castro-botschaft-unctad