Faschismus : Reichskristallnacht 1938 in Deutschland
Über diesen Attentäter freuten sich die Nazis
Am 7. November 1938 schoss der
17-jährige Herschel Grynszpan in Paris auf einen deutschen Diplomaten. Die
Verzweiflungstat nutzte vor allem Joseph Goebbels und den radikalen
Antisemiten.
Fast jungenhaft sieht der
17-jährige Herschel Grynszpan am 7. November 1938 aus
Sich zu
verspäten kann Leben retten – aber auch anderen den Tod bringen. Am 7. November
1938 kam Ernst Achenbach, der für Besucherkontakte
zuständige Attaché an der Deutschen Botschaft in Paris, zu spät zur Arbeit.
Deshalb war der Diplomat noch nicht anwesend, als an diesem Montagmorgen ein
junger Mann den Concierge der Botschaft bat, ihn zu einem Repräsentanten des
Deutschen Reichs zu bringen. Er wolle ihm wichtige Papiere übergeben –
„persönlich“, wie er eindringlich wiederholte.
Statt zu
Achenbachs Büro führte ein Amtsgehilfe den Besucher namens Herschel
Grynszpan ins Zimmer des dritten Legationssekretärs Ernst vom
Rath im Palais Beauharnais. „Bei seinem Eintritt in die
Botschaft schien der junge Mann sehr ruhig“, erinnerte sich der Gehilfe:
„Nichts ließ vermuten, dass er verbrecherische Absichten hegte.“
Doch kaum stand
der schmächtige Grynszpan im Büro vom Raths, zog er offenbar sofort seinen
Revolver und rief: „Sie sind ein sale boche! Im Namen von Tausenden Juden
übergebe ich hiermit die Dokumente!“ Dann drückte er fünfmal ab. Aus etwa zwei
Metern Entfernung verfehlten drei Kugeln ihr Ziel, doch zwei trafen in vom
Raths Brust und den Unterleib.
Der 29-Jährige
schrie und wankte zur Tür. Der Amtsgehilfe lief zurück, sah den Angeschossenen,
packte sofort den hinter der Tür stehenden Täter und zerrte ihn in den Hof der
Botschaft; Grynszpan ließ sich widerstandslos abführen. Vor dem Portal liefen
die beiden dem verspätet eintreffenden Attaché
Achenbach in die Arme. Der hörte sich an, was passiert war,
dann befahl er, den Attentäter sofort der französischen Polizei zu übergeben
und einen Kommissar der Sûreté in die Botschaft zu bitten.
Dann eilte
Achenbach zum Zimmer seines Kollegen und fand ihn vor
Schmerzen gekrümmt auf dem Boden liegen. Sofort ließ er ihn ins
nächstgelegene Krankenhaus bringen, wo Ernst vom Rath notoperiert wurde.
Fast jungenhaft sieht der 17-jährige Herschel Grynszpan am 7. November 1938
aus
Ernst vom Rath wird nur zufällig das Opfer des
Attentats
Achenbach
informierte nun seinen Vorgesetzten, den Botschafter Johannes Graf
Welczek. Als er den festgenommenen Täter
beschrieb, erinnert sich der 60-jährige Missionschef, dass genau dieser junge
Mann ihn am Morgen gegen 9.35 Uhr vor dem Tor zum Palais angesprochen hatte und
wissen wollte, wie er einen deutschen Diplomaten erreichen könne. Welczek, der
eben von seinem Morgenspaziergang zurückkam, hatte sich nicht zu erkennen
gegeben, sondern den Besucher an den Concierge verwiesen – sonst wäre wohl er
niedergeschossen worden.
Die französische Polizei vernahm den Festgenommenen
derweil, der sofort gestand. Welczek berichtete darüber ans Auswärtige Amt nach
Berlin, der Attentäter habe geschossen, „um seine Glaubensgenossen zu rächen“.
Ganz ähnlich erinnerte sich Ernst Achenbach anderthalb Jahrzehnte später: „Als
erste Erklärung für seine Tat hat Grynszpan gesagt, er habe durch seine Tat
eine Demonstration machen und seine Eltern rächen wollen.“
Wie kam Herschel Grynszpan, der auf Achenbach „keinen
unsympathischen Eindruck“ gemacht hatte, zu seiner Tat? Der 17-jährige deutsche
Jude lebte seit 1936 bei Verwandten in Paris. Anfang November 1938 hatte er aus
der Presse und dann auch aus einer Postkarte seiner Schwester erfahren, was mit
seinen Angehörigen geschehen war. Die Grynszpans waren 1911 aus dem damals
russischen Teils Ostpolens nach Hannover gekommen und hatten sich hier eine
Existenz aufgebaut; ihre drei Kinder waren alle in Deutschland geboren.
Dennoch hatten sie formal keine deutsche
Staatsangehörigkeit, sondern waren rechtlich gesehen Polen. Anfang Oktober 1938
jedoch beschloss die nationalistische Regierung in Warschau, dass die Pässe
aller im Ausland lebenden Polen zum 30. Oktober 1938 ungültig werden sollten;
ihre Inhaber wären fortan staatenlos.
Der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ernst von Weizsäcker, warnte daraufhin
Polens Botschafter in Berlin: „Worauf wir uns bestimmt nicht einlassen könnten,
sei, dass uns im Wege der Ausbürgerung ein Klumpen von 40.000 bis 50.000
staatenlosen ehemaligen polnischen Juden in den Schoß fiele.“
So begann zwischen dem nationalsozialistischen und dem
polnisch-nationalistischen Regime ein übler Wettlauf; einig waren sich beide
Seiten nur in ihrem Antisemitismus. Leidtragende waren die in Deutschland
lebenden polnischen Juden. Ende Oktober 1938 nahmen Polizei und SS im ganzen
Reich etwa 17.000 Juden mit polnischen Papieren fest und schickten sie in
überfüllten Sonderzügen nach Osten.
Der Täter vor seiner ersten
Vernehmung durch die Pariser Polizei
Quelle: Getty Images
„Um elf Uhr nachts kamen sie auch zu uns“, erinnerte
sich ein Jüdin aus Chemnitz an die Aktion: „Die ganze Familie musste mitkommen,
wir durften nur Essen für 24 Stunden mitnehmen, sonst nichts.“ Hunderte
Menschen wurden in einem viel zu engen Saal eingepfercht; in den Morgenstunden
erfuhren sie, dass sie abtransportiert werden sollten. Bei Fluchtversuchen
werde sofort geschossen.
Endlose Stunden fuhr ihr Zug nach
Osten, schließlich hielt er nachts. Die Menschen mussten
aussteigen und in Reihen losgehen: „Wir marschierten immer noch auf der
unbekannten Straße einem unbekannten Ziele zu.“
Plötzlich gab es laute Schreie: „Mit Stahlruten
schlugen die Bewacher die Menschen, die weiter vorne zögerten, in einen
schlammigen Wassergraben zu steigen, der die Grenze zwischen dem Dritten Reich
und Polen markierte. Nach einigen Schlägen weigerte sich niemand mehr. Auf der
anderen Seite des Grabens standen bald alle Deportierten auf einer Wiese. Vor ihnen verweigerten polnische
Grenzposten die Einreise, hinter ihnen standen deutsche Beamte, die eine
Rückkehr unmöglich machten.“
Generalprobe für die
Kristallnacht
Das
Schaufenster des Caféhauses Georg Hirsch in der Berliner Schönhauser Allee 21
ist im Juni 1938 mit antisemitischen Parolen beschmiert.
Quelle: Centrum Judaicum
Der Berliner Rechtsanwalt Hermann Jalowicz hielt in
seinem Tagebuch im Juni 1938 fest, was geschah: „Juden machen sauber, was
andere beschmiert haben.“
Quelle:
Herrmann Simon
Auch die Grynszpans erlebten Ähnliches; Herschels
Schwester Ryfka schrieb ihm nach Paris: „Du hast gewiss von unserem großen
Unglück gehört. Ich schreibe Dir, was passiert ist.“ Um 21 Uhr waren sie
aufgefordert worden, mit ihren Pässen beim nächsten Polizeirevier zu
erscheinen. Da Juden im nationalsozialistischen Deutschland bereits allerlei
Demütigungen gewohnt waren, taten sie wie befohlen.
„Man hat uns nicht mehr erlaubt, wieder nach Hause zu
gehen. Ich habe gebettelt, dass man mich nach Hause gehen ließe, um wenigstens
einige Sachen zu holen“, berichtete Ryfka: „Das ist alles, was ich gerettet
habe. Wir haben keinen Pfennig.“ Als sie dieses Lebenszeichen schrieb, befand
sie sich wohl in einer zugigen Behelfsunterkunft im Niemandsland, ohne sanitäre
Einrichtungen oder Betten.
Angesichts dieses Elends seiner Familie an der
polnischen Grenze entschloss sich Herschel Grynszpan am 7. November 1938, ein
Zeichen zu setzen, das weltweit beachtet werden würde: Er wollte einen
möglichst hochrangigen Repräsentanten des Dritten Reiches töten, um gegen die
Judenverfolgung zu protestieren. Es war die kurzsichtige Reaktion eines
verzweifelten Pubertierenden. Denn sein Mordanschlag auf Ernst vom Rath wurde
zur perfekten Begründung für die weitere Verschärfung der antisemitischen
Politik in Deutschland, die das NS-Regime ohnehin wollte.
Natürlich war Propagandaminister Joseph Goebbels
sofort klar, welche Chance ihm Grynszpans Tat bot. Umgehend verbreitete sein
Ministerium eine Anweisung: „Alle deutschen Zeitungen müssen in größter Form
über das Attentat auf den Legationssekretär der deutschen Botschaft in Paris
berichten. Die Nachricht muss die erste Seite voll beherrschen.“ So geschah es.
Als vom Rath zwei Tage später seinen schweren
Verletzungen erlag, entfesselte Goebbels das schlimmste Pogrom, das es seit
Jahrhunderten in Mitteleuropa gegeben hatte. Statt das
Dritte Reich von seinem Kurs des Rassenwahns abzubringen, hatte Herschel
Grynszpan ungewollt die Judenverfolgung noch beschleunigt.
Quelle: https://www.welt.de/geschichte/article183419264/Novemberpog