Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte untergräbt
das antirussische Magnitski-Narrativ
von Florian Rötzer – 19.09.2019
Das Gericht sieht den Steuerberater Bill Browders
nicht als Helden, sondern als des Steuerbetrugs Verdächtigen, verurteilt aber
die Haftbedingungen
Der Magnitski-Fall wurde zu einer der massivsten
antirussischen Kampagnen.
Und ausgerechnet Bill Browder, der frühere
Investmentfond-Verwalter von Hermitage, der in Russland während der
Wild-West-Zeit nach dem Ende der Sowjetunion viel Geld für sich und eine
Investoren machte, was die Menschen in Russland arm macht, aber neue Oligarchen
schuf, konnte sich darüber als großer Menschenfreund und Kämpfer für die Menschenrechte
profilieren. Das allerdings mit einer Fakestory, die aber in all dem
antirussischen Fieber von den meisten nicht hinterfragt wurde.
Vor kurzem entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
über eine Klage der Angehörigen von Sergei Magnitiski (Magnitskiy) in einer
differenzierten Form, die aber Hauptpunkte von Browders Narrativ zurückweist.
Browder machte aus dem Fall des unschuldig zu Tode
gekommenen angeblichen Whistleblowers ein Buch zur Selbstdarstellung und
schaffte es, den Namen Magnitiski in einigen Ländern in Sanktionsgesetzen
festzuschreiben, mit denen Menschen, die für Menschenrechtsverletzungen
verantwortlich sind, belangt werden sollen. Im Prinzip wäre das nicht schlecht,
aber die Wirklichkeit sieht so aus, dass die Menschenrechtsverletzer, die
politisch genehm sind, natürlich ausgespart bleiben.
Browder wird sich hüten, für Sanktionen etwa gegen
Saudi-Arabien zu werben.
Aber Browder, der schon aus Gründen der
Steuervermeidung aus den USA nach Großbritannien umgesiedelt ist, scheint nun
als Weltverbesserer aufzutreten, möglicherweise um die von ihm falsch erzählte
Geschichte seines Steuerberaters zu begraben.
Die Erzählung vom bösen russischen Staat und einem
aufrechten Whistleblower, der für Recht und Gerechtigkeit in den Tod geht, ist
so einfach wie betörend, dass sie Browder vermutlich selbst durch häufige
Wiederholung glaubt.
Er selbst sagt, dass es "sich viel besser
anfühlt, was ich jetzt mache, als dies der Fall war, als ich Hedgefond-Manager
war. Ich bin viel glücklicher, wenn ich für Gerechtigkeit als für Geld zu
kämpfe." Browder inszeniert sich als Putins "Feind Nr. 1", so
auch der Titel seines Buches, als ob er in Augenhöhe mit dem russischen
Präsident kämpfen würde.
Eine schöne Geschichte über das böse Russland
Die Geschichte war auch zu schön und passte in die
Narrative des Westens. 2007 habe die Polizei das Büro von Hermitage Capital in
Moskau mit brutalem Vorgehen grundlos untersucht und Dokumente geklaut. Sein
Steuerberater Magnitski sollte den Grund eruieren. Er soll herausgefunden
haben, dass die leitenden Polizisten hinter der Razzia einen gewaltigen Steuerbetrug
in Höhe von 230 Millionen US-Dollar begangen hätten, die ihnen die russische
Steuerbehörde zurückbezahlt habe. Magnitski soll dies der Polizei gemeldet
haben, daraufhin wurde er von den Polizisten verhaftet, die er angezeigt hatte.
Im Gefängnis soll man ihn unter Druck oder sogar gefoltert haben, damit er die
Anzeige zurücknimmt.
Magnitski soll standhaft geblieben sein und sei
schließlich von Polizisten in einer Gefängniszelle im November 2009 zu Tode
geprügelt worden.
"Browders Buch ist eine detaillierte Hommage an
Magnitskis Berufsethik und Mut. Und es ist eine Abrechnung mit Putin." -
Tim Neshitov, Süddeutsche Zeitung, 06.02.15. Werbetext zur deutschen
Übersetzung vom Hanser Verlag: "Bill Browder, Investor, kämpft in Russland
gegen die Oligarchen und gegen Putin – und wird zum
Menschenrechtsaktivisten."
Der Filmemacher Andrei Nekrasov hat über die
Geschichte einen Film gedreht. Er war zuerst beeindruckt von der Geschichte des
aufrechten Helden, der ein Verbrechen aufdeckt und dafür getötet wird. Er hatte
mit Browder gesprochen, der ihm seine Version erzählte, sei aber dann bei
Recherchen skeptisch geworden, was minutiös im Film nachvollzogen wurde, um
schließlich zur Erkenntnis zu kommen, dass vieles an der Geschichte Browders
nicht stimmt (Andrei Nekrasov, Vetta Kirillova: Bill
Browder und seine Geschichte vom Tod des angeblichen Whistleblowers Magnitski, Magnitski-Fall:
Die Erinnerungslücken des Bill Browder). Browder hat seine Geschichte auch erst gesponnen, als Magnitski bereits gestorben
war. Interessant ist auch, dass Nekrasov seinen Film, der Browders Machenschaften
kritisch hinterfragt, in Kooperation mit ZDF/ARTE gedreht hatte, aber dass Arte
kurz vor der Ausstrahlung auf Initiative von Browder die Sendung am 3. Mai 2016
absagte. Seitdem konnte der Film nicht in Kinos gezeigt werden. Telepolis hatte den Filmemacher im Juni 2018 in
den Telepolis-Salon eingeladen und den
Film "The
Magnitsky Act" gezeigt.
Jetzt hat der EGMR am 27. August ein wenig
bekanntes Urteil gefällt. Bill Browder - aber auch die
Menschenrechtsorganisation HRW [Human Rights Watch] - geben sich erfreut, nehmen aber das Urteil
höchst einseitig zur Kenntnis.
Geradezu dreist verbreitet Browder Fake News an seine Anhänger:
“The ECHR decision also completely destroys the lies and propaganda about Sergei Magnitsky that the Russian
government and their paid smear campaigners in the West have been trying to
spread for many years.” Er spricht von seinem Sieg
der Magnitski-Familie, "vergisst"
aber zu erwähnen, dass das Gericht einige Beschuldigungen abgewiesen hat.
Human Rights Watch macht auch klar,
nicht neutral zu sein. Die Organisation geht ebenso wie Browder nur auf die im
Urteil bestätigten Anklagen gegen Russland ein, also dass Magnitiski in der
Haft misshandelt wurde. Er war lange Zeit in einer überfüllten Zelle
eingesperrt und wurde medizinisch nicht angemessen behandelt, was zu seinem Tod
geführt habe. Von Folter ist nicht die Rede. Und die Untersuchung des Todes
mitsamt Autopsie oder Auswertung der Überwachungskameras sei nicht ausreichend
durchgeführt worden. 2013 war er posthum als des Steuerbetrugs schuldig
verurteilt worden, aber das Verfahren wurde abgebrochen. Für das EGMR war
dieser posthume Prozess unfair, eine Verurteilung nach dem Tod sei eine
Rechtsverletzung.
Gute Gründe, Magnitski wegen Steuerbetrugs zu
verdächtigen und zu inhaftieren
Das Gericht hielt allerdings auch fest, dass die
russischen Behörden "gute Gründe hatten, Herrn Magnitski zu verdächtigen,
in einen Steuerbetrug verwickelt zu sein". Es war also nach Ansicht des
Gerichts gerechtfertigt, dass Magnitiski inhaftiert wurde, der damit nicht als
Aufdecker, sondern als Verdächtigter betrachtet wird. Beanstandet wird aber die
lange Haft, für die die Behörden keine ausreichenden Gründe geliefert hätten.
Allerdings sagt das Gericht auch, dass die russischen Behörden nicht im
"schlechten Glauben oder in Täuschung" gehandelt hätten: "Die
Ermittlungen in den behaupteten Steuerbetrug, die zu Magnitskis Verhaftung
führten, haben lange vor seiner Beschwerde über den Betrug von Polizisten
begonnen. Die Entscheidung , ihn zu verhaften, wurde gemacht, nachdem die
Ermittler erfahren hatten, dass er zuvor ein britisches Visum beantragt,
Fahrkarten nach Kiew gebucht und nicht an seiner registrierten Adresse gewohnt hatte."
Damit nicht genug, sagt das Gericht auch, dass die
Beweise gegen Magnitski "für einen objektiven Beobachter ausreichend"
seien, dass er die in Frage stehende Straftat begangen hat. Die Liste der
Gründe seien "spezifisch und ausreichend detailliert" gewesen. Das
Gericht hatte nicht die Schuld Magnitiskis festzustellen. Gleichwohl sieht es
die Anklage als gerechtfertigt an. Das würde auch bedeuten, dass Magnitskis
Chef, also Bill Browder, auch nicht der Unschuldsengel ist, wie er sich
darstellt, sondern auch direkt in den Steuerbetrug verwickelt sein könnte, den
er russischen Polizisten vorwirft.